Deutschland: Amnesty-Anliegen zur IMK-Frühjahrstagung 2023

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Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden
Seit Ausbruch des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben Bund, Länder und Kommunen die erheblichen Herausforderungen bei der Aufnahme von Menschen aus der Ukraine gemeinsam bewältigt. Daneben gilt es weiterhin, die Versorgung und Unterbringung von Schutzsuchenden aus anderen Krisenregionen wie z.B. Syrien, dem Iran oder Afghanistan sicherzustellen, ohne dabei verschiedene Gruppen ungleich zu behandeln oder gegeneinander auszuspielen. Da vor allem in Ballungsgebieten Wohnraum knapp und kaum bezahlbar ist, haben immer häufiger einzelne Kommunen Überlastungen angezeigt. Amnesty International ist besorgt darüber, dass solche Überlastungsanzeigen in der öffentlichen Debatte zur Stärkung extremer Positionen beitragen können.
Amnesty International begrüßt die klare Ablehnung einer sog. "Obergrenze" durch das Bundesinnenministerium: Das Recht auf Schutz vor Verfolgung ist ein individuelles Recht, das nicht zahlenmäßig eingeschränkt werden kann. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Äußerungen verschiedener Politiker*innen in den letzten Wochen bittet Amnesty International um einen sachlichen und diskriminierungssensiblen Diskurs. Aus unserer Sicht sollten Bund und Länder die Bedarfe auf lokaler Ebene anerkennen und solidarisch lösen, ohne zu suggerieren, dass Lösungen in stärkerer Zuwanderungskontrolle, dem Abrücken von existierenden Aufnahmeprogrammen oder schlechterer Versorgung von Schutzsuchenden zu finden seien. Vor dem Hintergrund des Flüchtlingsgipfels am 10. Mai begrüßt Amnesty die Einigung zwischen Bund und Ländern, Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte durch eine Aufstockung der Mittel zu entlasten. Richtig ist auch, die Verfahren insbesondere durch Maßnahmen im Bereich der Digitalisierung effizienter zu gestalten. Eine gute Initiative ist außerdem, Ausländerbehörden durch die geplante Verlängerung der Geltungsdauer von Aufenthaltstitel zu entlasten. Mit Sorge hat Amnesty International jedoch zur Kenntnis genommen, dass zukünftig Rückführungen erleichtert werden sollen, indem die Möglichkeiten zur Inhaftierung von rechtskräftig abgelehnten Asylsuchenden erweitert werden sollen. Einer Ausweitung des Ausreisegewahrsams sowie einer Erweiterung der Haftgründe für Abschiebungshaft ist aus Sicht von Amnesty International bedenklich. Ausreisegewahrsam und Abschiebungshaft sind nur nach den Maßgaben einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung als letztes Mittel in Betracht zu ziehen.
Stattdessen sollten Bund und Länder prüfen, ob durch eine kürzere Unterbringungsdauer von Schutzsuchenden und Ausreisepflichtigen in Erstaufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterbringungen der Druck auf besonders überlastete Einrichtungen genommen werden kann. Zumindest sollte Schutzsuchenden nicht unter Verweis auf § 47 AsylG der Auszug verweigert werden, wenn ein eigenes Wohnungsangebot vorhanden ist.
Amnesty International erkennt die Leistung von Bund, Ländern und Kommunen bei der Aufnahme von Geflüchteten an und wirbt bei der Innenministerkonferenz dafür, einen diskriminierungssensiblen Diskurs aufrechtzuerhalten sowie für flexible Lösungen bei der Unterbringung offen zu sein.
Dringendes Schutzkonzept erforderlich: Humanitärer Aufenthaltsstatus für in Deutschland lebende Menschenrechtsaktivist*innen aus Russland
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat auch die Repressionen im Inneren dramatisch verschärft. Russische Menschenrechtsaktivist*innen und Oppositionelle sehen sich seitdem bei ihrer Arbeit einem immer stärker werdenden Druck ausgesetzt. Einigen Aktivist*innen war es gelungen, bereits zu Beginn des Krieges nach Deutschland zu kommen, zum Beispiel mittels eines befristeten Schengen-Visums oder befristeter Aufenthaltstitel wegen Forschungsaufträgen oder Stipendien. Nach dem Auslaufen der Aufenthaltstitel konnten diese in vielen Fällen verlängert werden. Aufgrund der dafür erforderlichen Lebensunterhaltssicherung, ist eine dauerhafte Verlängerung für viele allerdings zukünftig nicht möglich. Auch eine Aufnahme nach § 22 S.2 AufenthG kommt nicht in Betracht, da sich die Menschen bereits im Inland befinden.
Für diese Menschen ist es weiterhin notwendig, ein einheitliches Schutzkonzept zu entwickeln. Ein Aufnahmeprogramm nach § 23 I AufenthG stellt aus Sicht von Amnesty International hier eine geeignete Lösung dar. Ein Asylverfahren wird der Interessenlage dieser Gruppe hingegen nicht gerecht, denn sie sind beispielsweise für die Fortsetzung ihrer politischen Betätigung darauf angewiesen zu reisen, um ihre Arbeit sowohl im internationalen Kontext als auch die Zusammenarbeit mit ihren Kolleg*innen fortzusetzen, die sich entschlossen haben, in Russland zu bleiben.
Amnesty International bittet daher die Landesinnenminister*innen und -senator*innen, gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium ein schnell greifendes Schutzkonzept für russische Menschenrechtsaktivist*innen, die sich bereits in Deutschland befinden, zu entwickeln.
Keine Dublin-Rücküberstellungen nach Polen, Lettland und Litauen
Amnesty International hat im vergangenen Jahr mehrere Berichte zur Situation von Schutzsuchenden in Polen[1], Lettland[2] und Litauen[3] veröffentlicht. In allen drei Ländern dokumentierte Amnesty schwere Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen, sowie völkerrechtswidrige Pushbacks, die das Non-Refoulement-Prinzip verletzen. Zum Teil wurden Schutzsuchende an unbekannten Orten festgehalten oder saßen ohne Hilfe und Zugang zu Kommunikationsmöglichkeiten an der Grenze fest. Der Zugang zum Asylverfahren wird in den genannten Ländern für Menschen, die an der Grenze zu Belarus nach Asyl suchen, kaum gewährleistet. Wenn ein Asylverfahren ausnahmsweise stattfindet, geschieht dies in oft monatelanger Haft. Art und Unterbringung in den Haftzentren sind überwiegend menschenunwürdig und von der Inhaftierung sind Familien mit Kindern nicht ausgenommen.
In Litauen hat sich zudem die Situation für Geflüchtete in den letzten Wochen erheblich verschlechtert. Im April 2023 hat das litauische Parlament ein neues Gesetz verabschiedet, das summarische Rückführungen von Schutzsuchenden erlaubt und damit völkerrechtswidrig ist. In einem weiteren Gesetz erlaubte das litauische Parlament, dass zukünftig auch freiwillige Privatpersonen Aufgaben des Grenzschutzes an der Grenze zu Belarus ausüben und in dieser Funktion auch Gewalt anwenden dürfen.[4] Amnesty International befürchtet, dass diese Möglichkeit das staatliche Gewaltmonopol aufweichen wird und zu einer verstärkten Gewaltausübung durch nicht ausgebildete Personen führt, die nicht den gleichen staatlichen Haftungsregeln und Disziplinarmaßnahmen unterliegen. Zudem könnte die Möglichkeit, freiwillig Grenzschutzaufgaben wahrzunehmen, vor allem von Personen mit sachfremder Motivation genutzt werden.[5]
Amnesty International appelliert deshalb an die Innenminister*innen und -senator*innen der Länder sowie an das Bundesinnenministerium, aktuell keine Schutzsuchenden gemäß der Dublin III-Verordnung nach Polen, Lettland und Litauen zu überstellen.
Sudan: Formellen Abschiebungsstopp beschließen
Nach dem Ausbruch der Kämpfe zwischen der sudanesischen Armee (Sudan Armed Forces - SAF) und der paramilitärischen Gruppierung Rapid Support Forces (RSF) Mitte April hat sich der Konflikt mittlerweile auf den gesamten Sudan ausgebreitet und tausende Menschen zur Flucht gezwungen. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) waren bis zum 1. Mai fast 115.000 Menschen in die Nachbarländer geflohen, vor allem nach Ägypten und in den Tschad. Gleichzeitig schätzt die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass zwischen dem 15. und 22. April mindestens 75.000 Menschen innerhalb des Landes vertrieben wurden. Die Vereinten Nationen (UN) meldeten mehr als 400 Tote bis zum 2. Mai.[6] Die Konfliktparteien verstoßen eklatant gegen das humanitäre Völkerrecht, indem sie schwere und oft unterschiedslos wirkende Waffen wie Artillerie, Panzer und Düsenflugzeuge in dicht besiedelten Gebieten in Khartum einsetzen. Die Zivilbevölkerung in der Hauptstadt und an anderen Orten, einschließlich Darfur, ist besonders von den Zusammenstößen betroffen, wobei Millionen von Menschen in ihren Häusern eingeschlossen und humanitäre Helfer*innen nicht in der Lage sind, die von dem Konflikt betroffene Zivilbevölkerung zu versorgen. Amnesty International erhält weiterhin glaubwürdige Anschuldigungen über wahllose Angriffe und rechtswidrige Tötungen von Zivilist*innen im gesamten Sudan. Amnesty International erhält ebenfalls Berichte über Angriffe auf medizinische und humanitäre Einrichtungen und sexualisierte Gewalt gegen Frauen.
Aufgrund der neusten Entwicklungen fordert Amnesty International die Landesinnenminister*innen und -senator*innen auf, einen formellen Abschiebungsstopp in den Sudan zu beschließen und von jeglicher Überstellung sudanesischer Staatsangehöriger in ein Drittland, in dem die Gefahr besteht, in den Sudan zurückgeführt zu werden, abzusehen.
Afghanistan: Humanitäre Aufnahme fortsetzen und erweitern
Seit der Machtübernahme der Taliban verzeichnet Amnesty International eine dramatische Verschlechterung der Menschenrechtslage in Afghanistan. Neben außergerichtlichen Hinrichtungen, Verschwindenlassen und Folter beobachtet Amnesty vermehrt willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen von Menschenrechtsverteidiger*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen und anderen den Taliban gegenüber kritischen Stimmen aus der Zivilgesellschaft.[7] Die Rechte von Frauen und Mädchen werden weiterhin systematisch, in nahezu jedem Lebensbereich, eingeschränkt.[8] Afghanistan war 2022 das einzige Land, in dem Mädchen der Zugang zu weiterführenden Schulen verwehrt wurde. Brutale, sexualisierte Gewaltakte gegen Frauen und Mädchen bleiben straffrei.[9] Am 5. April 2023 kündigten die Taliban an, dass afghanische Frauen nicht mehr für die Vereinten Nationen in Afghanistan arbeiten dürfen, womit sie ein früheres Verbot der Arbeit von Frauen in Nichtregierungsorganisationen ausweiteten.[10] Diese Ankündigung erfolgte in einer Zeit, in der Afghanistan mit einer noch nie dagewesenen humanitären Krise, die durch Dürren und weitere Naturkatastrophen verschärft wird, konfrontiert ist.
Amnesty International beobachtet außerdem, dass die Taliban besonders aggressiv gegen im Land verbliebene Angehörige von Frauen- und Menschenrechtsverteidiger*innen vorgehen. Versprechen über Amnestien für ehemalige Regierungsmitarbeitende und Sicherheitskräfte blieben Lippenbekenntnisse. Ethnische und religiöse Minderheiten, wie die Hazara, bleiben weiter einer besonderen Gefährdungslage ausgesetzt.[11]
Am 30.03.2023 wurde bekannt, dass die laufenden Aufnahmeverfahren für Schutzsuchende aus Afghanistan, einschließlich des Bundesaufnahmeprogrammes, durch die Bundesregierung auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurden, da eine zusätzliche Sicherheitsüberprüfung in die Verfahren integriert werden soll.[12] Die Aussetzung hat die existenziellen Notlagen für die Betroffenen weiter verschärft und neue Gefahren und Unsicherheiten geschaffen. Bei den nun stattfindenden Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen der Aufnahmeprogramme des Bundes und der Länder muss die prekäre Lage schutzsuchender Afghan*innen, die aktuell in den Nachbarstaaten auf eine Weiterreise nach Deutschland warten, berücksichtigt und das Aufnahmeverfahren schnellstmöglich wieder aufgenommen werden. Bis die Verfahren wieder aufgenommen werden, sollte die Bundesregierung im Rahmen ihrer diplomatischen Möglichkeiten sicherstellen, dass gefährdete Afghan*innen sicher vor Abschiebungen nach Afghanistan sind.
Die Aufnahme gefährdeter Personen aus Afghanistan kann jedoch nicht nur über das humanitäre Aufnahmeprogramm allein gelingen. Ausdrücklich zu begrüßen sind deshalb alle Länderinitiativen der humanitären Aufnahme von Afghan*innen. Dazu zählt das Thüringer Landesaufnahmeprogramm, für das das Bundesinnenministerium 2022 Anfang November das erforderliche Einvernehmen erteilt hat. Auch das Land Berlin beabsichtigt die Aufnahme von insgesamt 500 afghanischen Staatsangehörigen.[13] Nach unserem Kenntnisstand planen außerdem Bremen und Hessen Landesaufnahmeprogramme für Afghan*innen umzusetzen. Amnesty International bedauert ausdrücklich, dass das für Schleswig-Holstein geplante Landesaufnahmeprogramm zurückgezogen wurde.[14] Amnesty fordert das Bundesinnenministerium dazu auf, zügig das erforderliche Einvernehmen für alle initiierten Landesaufnahmeprogramme zu erteilen. Wo noch keine Landesaufnahmeprogramme für besonders gefährdete Afghan*innen auf den Weg gebracht worden sind, sollten die Innenminister*innen dieser Bundesländer dies dringend nachholen.
Aufgrund der aktuellen Lage bittet Amnesty International die Innenministerkonferenz darum, einen formellen Abschiebungsstopp nach Afghanistan zu beschließen. Menschen aus Afghanistan, die z.T. seit Jahren mit einer Duldung in Deutschland leben, sollte angesichts der Unmöglichkeit der Abschiebung ein reguläres Aufenthaltsrecht erteilt werden.
Iran: Umfassenden Abschiebungsstop beschließen
Im Iran brach 2022 eine beispiellose Protestwelle aus, die sich gegen das System der Islamischen Republik richtet. Um die Proteste niederzuschlagen, beschossen die Sicherheitskräfte Demonstrierende rechtswidrig mit scharfer Munition und Metallkugeln und setzten exzessiv Tränengas und Gewalt ein. Dabei wurden Hunderte Erwachsene und Dutzende Kinder getötet und Tausende verletzt. Weit über 20.000 Menschen wurden willkürlich inhaftiert und zu Unrecht strafrechtlich verfolgt, nur weil sie friedlich ihre Menschenrechte wahrgenommen hatten und ihnen eine Nähe zu den regierungskritischen Protesten unterstellt wurde. Frauen, LGBTI+ sowie Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten leiden nach wie vor unter systematischer Diskriminierung und Gewalt. Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen sind weit verbreitet und werden systematisch angewendet, dazu zählt auch die vorsätzliche Verweigerung einer angemessenen medizinischen Versorgung von Gefangenen. Grausame und unmenschliche Strafen wie Auspeitschungen, Amputationen und Blendungen werden weiterhin verhängt und vollstreckt.[15] Auch Hinrichtungen finden weiterhin statt. Einschätzungen renommierter iranischer Menschenrechtsorganisationen gehen alleine dieses Jahr im Zeitraum Januar - Mai 2023 von etwa 200 Hinrichtungen aus. Amnesty International konnte allein im Januar und Februar 2023 94 Hinrichtungen dokumentieren.[16] Die Dunkelziffern liegen weit höher.
Die Einschätzung von Amnesty International über die sich verschlechternde Menschenrechtslage im Iran wird vom UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, geteilt, der im November 2022 feststellte, dass sich der Iran in einer umfassenden Menschenrechtskrise befinde.[17] Der Ernst der Lage spiegelt sich außerdem in dem wegweisenden Beschluss des UN-Menschenrechtsrats vom November 2022 wider, eine unabhängige, internationale Untersuchungsmission einzurichten, die Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den landesweiten Protesten im Iran gründlich und unabhängig untersuchen soll.[18]
Amnesty International hat darüber hinaus begründete Hinweise darauf, dass Iraner*innen, die derzeit in den Iran zurückgeführt werden, einschließlich abgelehnter Asylsuchender, schwere Menschenrechtsverletzungen im Iran drohen, einschließlich willkürlicher Verhaftung und Inhaftierung, gewaltsamen Verschwindenlassens, Folter und anderer Misshandlungen, willkürlicher Strafverfolgung und unfairer Gerichtsverfahren, sowie Verurteilungen zu Auspeitschung, Gefängnis und/oder Tod. Erkenntnissen von Amnesty International zufolge werden Iraner*innen, die im "westlichen Ausland" Zuflucht gesucht haben, allein aufgrund dessen als potenziell regierungskritisch eingestuft.
Insofern begrüßt Amnesty International den IMK-Beschluss zur Aussetzung der Abschiebungen in den Iran auf der letzten Herbstkonferenz. Allerdings klammert dieser Beschluss die Rückführung von "Gefährdern, schweren Straftätern und Personen, bei denen das Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt, und Ausreisepflichtigen, die hartnäckig ihre Mitwirkung an der Identitätsfeststellung verweigern" aus.[19] Die menschenrechtlichen Risiken bei einer Rückführung in den Iran betreffen jedoch auch die o.g. Personengruppen, so dass aus Sicht von Amnesty International ein umfassender Abschiebungsstopp notwendig ist.
Amnesty International bittet die Innenminister- und -senator*innen, einen umfassenden Abschiebungsstopp in den Iran zu beschließen, der für alle Iraner*innen gilt.
Bekämpfung von strukturellen Diskriminierungen und Rechtsextremismus
Die Innenministerkonferenz muss der Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen struktureller Diskriminierung endlich die notwendige Priorität einräumen. Es geht darum, Menschen vor der Gefahr menschenfeindlicher Angriffe zu schützen.
Außerdem müssen sich die politischen Funktionsträger*innen aller demokratischer Parteien klar gegen Rechtsextremismus, Rassismus und andere Formen von struktureller Diskriminierung stellen. Denn Diskurse, die vor einer "Überfremdung" warnen oder andere Ideologien der Ungleichheit beinhalten, nähren das zugrundeliegende Gedankengut von rassistischen und antisemitischen Angriffen. Insbesondere staatliche Akteur*innen stehen in der Verantwortung, Hass und Hetze nicht selbst zu befeuern und entmenschlichende Äußerungen nicht unhinterfragt stehen zu lassen.
Die Ergebnisse des Kabinettsausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus von 2021 müssen vollständig umgesetzt werden. Sie müssen – für die Betroffenen spürbar – in besseren Schutz, bessere Aufklärung und eine bessere Aufarbeitung übersetzt werden. Die Bemühungen von Bund und Ländern müssen gleichzeitig über die dort festgelegten Schritte hinausgehen. Insbesondere die dort ausgeklammerte Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus sowie rechtsextremen Tendenzen bei der Polizei muss energisch vorangetrieben werden. Bei der Erarbeitung konkreter Maßnahmen muss die Perspektive von Betroffenen und Selbstorganisationen eine zentrale Rolle spielen.
Amnesty International fordert die Innenministerkonferenz auf, Rassismus, Antisemitismus und andere Formen struktureller Diskriminierung als solche zu benennen und ihnen klar entgegen zu treten.
Auseinandersetzung mit strukturellen Diskriminierungen innerhalb der Polizei
Amnesty International fordert die Innenminister*innen und -senator*innen nachdrücklich dazu auf, die Auseinandersetzung der Polizei mit Rassismus, Antisemitismus und anderen strukturellen Diskriminierungen voranzutreiben. Es geht nicht um einen Generalverdacht gegenüber der Polizei. Vielmehr hat die Polizei eine besondere Verantwortung durch ihre Aufgabe, die größtmögliche Sicherheit von Menschen zu gewährleisten – auch vor rassistischer Gewalt und Diskriminierung.
Eine verheerende Wirkung haben in diesem Kontext das erneute Bekanntwerden von rechtsextremen Chatgruppen und rassistische Äußerungen sowie die Zugehörigkeit zu menschenfeindlichen Gruppierungen von Polizist*innen in mehreren Bundesländern. Auch wenn diese Vorkommnisse immer nur einen Bruchteil der Polizist*innen betreffen, schaden sie dem Ansehen der Polizei und dem Vertrauen in die Polizeiarbeit immens – v.a. beim Schutz vor rassistischer Gewalt. In Bundesländern, in denen infolge des Einsatzes von Betroffenen, Angehörigen und Initiativen Untersuchungsausschüsse zu mangelndem Schutz durch die Polizei und Verstrickungen staatlicher Behörden in rassistische Taten eingesetzt wurden, fordern wir die Behörden dazu auf, mit den Ausschüssen zusammenzuarbeiten und eine umfassende Aufklärung zu ermöglichen. In den weiteren Bundesländern sollte die Einsetzung entsprechender Untersuchungsausschüsse geprüft werden.
Des Weiteren müssen auf Landes- und auf Bundesebene unabhängige Untersuchungsmechanismen für Verdachtsfälle von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen wie durch Polizeikräfte etabliert werden. Dazu gehören auch mögliche Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot. Die Ermittlungen müssen hierarchisch und institutionell unabhängig durchgeführt werden. Die praktische Unabhängigkeit der ermittelnden Einrichtungen und Personen ist sicherzustellen. Viele Menschen, die sich aktuell von rechtswidrigem Polizeihandeln betroffen sehen, verzichten auf eine Anzeige oder Meldung bei der Polizei selbst, weil sie dies nicht für zielführend halten. Zwar gibt es in einigen Bundesländern unabhängige Polizeibeauftragte, die Ausgestaltung der Stellen bleibt jedoch hinter den menschenrechtlichen Anforderungen zurück. Dazu gehören insbesondere die Ausstattung mit ausreichenden Ermittlungsbefugnissen, um unabhängige, unverzügliche, angemessene Untersuchungen durchführen zu können und Einflussmöglichkeiten auf den Verfahrensverlauf nach einer Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft oder Disziplinarbehörde.
Zudem bedarf es mehr unabhängiger Studien in dem Bereich Polizei und Diskriminierungen. Die MEGAVO-Studie ist ausdrücklich nicht "die von der Öffentlichkeit geforderte sog. Rassismusstudie".[20] Der Zwischenbericht benennt jedoch, dass es "einen klar erkennbaren Personenkreis gibt, der sich nur ambivalent, unentschlossen oder zaghaft zur Unterstützung von Demokratie, Diversität und ähnlichen Themen äußern mag".[21] Dies zeigt, dass weitergehende Studien mit verschiedenen Forschungsansätzen zu der Situation im Bund und in den Ländern nötig sind, welche auch die institutionelle Dimension von Rassismus und anderen Diskriminierungsformen in den Blick nehmen.
Zudem müssen die Länder und der Bund konkrete Schritte ergreifen, um diskriminierende Polizeikontrollen (Racial Profiling) zu verhindern. Dazu gehört, Rechtsgrundlagen für anlasslose und verdachtsunabhängige Kontrollen wie § 22 Abs. 1a BPolG abzuschaffen. Außerdem bedarf es verpflichtender, regelmäßiger Antidiskriminierungs-Trainings in der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen auf Landes- und auf Bundesebene.
Amnesty International ruft die Innenminister*innen und -senator*innen der Länder und die Bundesinnenministerin auf, die Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen struktureller Diskriminierungen in der Polizei mit konkreten Maßnahmen voranzutreiben. Dazu gehört u.a. eine Null-Toleranz-Politik gegenüber menschenfeindlichen Äußerungen innerhalb der Polizei und die Einrichtung unabhängiger Untersuchungsmechanismen, welche allen menschenrechtlichen Anforderungen gerecht werden.
Weitere menschenrechtliche Anliegen im Bereich Polizei- und Versammlungsrecht
Amnesty International beobachtet im Bereich des Polizei- und Versammlungsrechts eine Erosion der Freiheit im Namen der Sicherheit, der es seitens der Innenminister*innen und -senator*innen entschieden entgegenzuwirken gilt.
Amnesty International fordert alle Bundesländer und den Bund dazu auf, den Einsatz von Distanz-Elektroimpulsgeräten (DEIG, sog. Tasern) speziell ausgebildeten Einheiten vorzubehalten. Denn die Gefährlichkeit dieser Einsatzgeräte wird regelmäßig unterschätzt. Der Einsatz kann zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod führen, insbesondere wenn Risikofaktoren, wie Herz-Kreislauf-Probleme oder Drogen-Intoxikation, hinzukommen. Diese sind für Einsatzkräfte oft schwer erkennbar. Der Einsatz von DEIG ist nur dann verhältnismäßig, wenn anderenfalls der Einsatz tödlicher Gewalt notwendig wäre. Polizeiliche Anweisungen, Schulungen und Maßnahmen zur Rechenschaftsablegung müssen den hohen Risiken Rechnung tragen, die mit dem Einsatz von DEIG verbunden sind.[22]
Seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 beobachtet Amnesty International eine Tendenz hin zu repressiven Landesversammlungsgesetzen.[23] Durch die Ausweitung von polizeilichen Eingriffs- und Kontrollbefugnissen, sowie die Befugnis zu teils flächendeckender (Video-)Überwachung von Demonstrationen, wird das Versammlungsrecht untergraben und es entstehen Abschreckungseffekte, die der Versammlungsfreiheit als Kernelement gelebter Demokratie nicht gerecht werden.
Aus menschenrechtlicher Sicht besonders kritikwürdig sind in diesem Zusammenhang Bestrebung den Präventivgewahrsam auszuweiten. Präventivgewahrsam stellt eine höchst grundrechtsintensive Gefahrenabwehrmaßnahme dar, die keinesfalls zu Abschreckungszwecken eingesetzt werden darf. Außerdem muss die Ingewahrsamnahme auch im Sinne der Gefahrenabwehr stets verhältnismäßig sein. Die Anordnung von Präventivgewahrsam gegenüber friedlich Demonstrierenden wird dem nicht gerecht.
Amnesty International erinnert die Innenminister*innen und -senator*innen außerdem daran, dass Versammlungsverbote als ultima ratio stets nur dann in Betracht kommen, wenn Beeinträchtigungen elementarer Rechtsgüter nicht anders abwendbar sind und mahnt die Polizei- und Versammlungsbehörden zu einer sorgfältigen und umfassenden Prüfung etwaiger milderer Mittel vor der Aussprache solcher Verbote. Insbesondere darf es nicht zu pauschalen Versammlungsverboten gegenüber bestimmtem Gruppen kommen.
Eine Ausweitung von Überwachungsbefugnissen lässt sich auch beim Einsatz sogenannter "Staatstrojaner" zur Quellen-TKÜ und/oder Online-Durchsuchung beobachten. Damit verbunden sind besonders intensive Eingriffe in Grund- und Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Achtung des Privatlebens und des Rechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Aus Sicht von Amnesty International ist der Einsatz dieser Technologien im Rahmen der Vorfeldaufklärung nicht verhältnismäßig; die Ämter für Verfassungsschutz sollten von ihrer Nutzung grundsätzlich absehen. Die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Regelung zum Umgang mit Schwachstellen als notwendige Grundlage eines Einsatzes fehlt weiterhin. Amnesty International fordert, grundsätzlich keine noch unbekannten Schwachstellen auszunutzen und keine Schwachstellen anzukaufen. Der Einsatz der Pegasus-Software, die weltweit zahlreich gegen Journalist*innen, Oppositionelle und Menschenrechtsverteidiger*innen eingesetzt wird, hat gezeigt, dass bei der öffentlichen Beschaffung außerdem die Menschenrechtsbilanz von Herstellern von Überwachungstechnologie berücksichtigt werden muss. Amnesty setzt sich für ein weltweites Moratorium für diese Überwachungstechnologie ein, bis eine menschenrechtskonforme Regulierung geschaffen wurde.
Amnesty International fordert den Bund und die Länder auf, bestehende Versammlungsgesetze menschenrechtlich zu evaluieren. Bei ihrer Überarbeitung sowie der Schaffung neuer Versammlungsgesetze muss stets die Meinungs- und Versammlungsfreiheit im Vordergrund stehen. Der Einsatz von Präventivgewahrsam und Distanz-Elektroimpulsgeräten sowie die Verwendung von "Staatstrojanern" ist menschenrechtskonform auszugestalten.
Fußnoten:
[1] Amnesty International, "POLAND: CRUELTY NOT COMPASSION, AT EUROPE’S OTHER BORDERS", 11.04. 2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/eur37/5460/2022/en/
[2] Amnesty International, "LATVIA: RETURN HOME OR NEVER LEAVE THE WOODS", 13.10.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2022-10/Amnesty-Bericht-Lett…
[3] Amnesty International, "LITHUANIA: FORCED OUT OR LOCKED UP", 27.06.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2022-06/Amnesty-Bericht-Lita…
[4] EU Observer, "Lithuania law to allow 'volunteer' border guards to use violence",20.04.2023, abrufbar unter: https://euobserver.com/migration/156944.
[5] Erst im Juni 2022 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass damals verabschiedete Asylgesetzgebung europarechtswidrig sei (EuGH, C-72/22 PPU). Auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind mehrere Verfahren gegen Litauen anhängig.(M.H. v. Lithuania, K.A. v.Lithuania, C.O.C.G. and Others v. Lithuania). In einem der anhängigen Verfahren hat Amnesty International am 26. April 2023 eine unterstützende Stellungnahme eingereicht.
[6] OCHA, "Sudan: Clashes between SAF and RSF - Flash Update No.7", 26.04.2023, aufrufbar unter: https://reliefweb.int/report/sudan/sudan-clashes-between-saf-and-rsf-fl…
[7] Amnesty International, "Afghanistan: Neues Bündnis für den Schutz der Menschenrechte", 03.03.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/afghanistan-neues-bue…; Amnesty International, "The fate of Thousands Hanging in the Balance: Afghanistan’s Fall into the Hands of the Taliban", 21.09, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Briefing-Afghanistan-Taliban-Menschenrechtsverletzungen-September-2021.pdf;
[8] Amnesty International, "The Denial of Human Rights to Women and Girls by the Taliban is an Attempt to Erase them from Afghan Society", 5.10.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/asa11/6063/2022/en/
[9] Amnesty International, "Afghanistan: Alleged rape by Taliban members must be investigated and prosecuted immediately", 10.03.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/03/afghanistan-alleged-rape…
[10] Amnesty International, "Afghanistan: UN Security Council resolution must be backed up by concerted action to restore the rights of women and girls", 27.04.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/04/afghanistan-un-security-…
[11] Amnesty International, "Afghanistan: Taliban torture and execute Hazaras in targeted attack – new investigation", 15.09.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/09/afghanistan-taliban-tort
[12] Der Spiegel, "Baerbock lässt Aufnahmeverfahren für Afghanistan vorübergehend aussetzen", 30.03.2023, abrufbar unter: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-laesst-auf…
[13] Berlin.de, "Berliner Senat beschließt Landesaufnahmeprogramm für afghanische Staatsangehörige", 14.12.2022, abrufbar unter: https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2021/pressem…
[14] Schleswig-Holstein.de, "Informationen für Afghan:innen in Schleswig-Holstein", 14.10.2022, abrufbar unter: https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesregierung/ministerien-behoer…
[15] Amnesty International Jahresbericht 2022, Iran, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/iran-2022.
[16] Amnesty International, "Iran: Mindestens 94 Menschen in 2023 hingerichtet- ethnische Minderheiten besonders betroffen", 02.03.2023, aufrufbar unter: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/iran-mindestens-94-menschen-in-2023-hingerichtet. Im gesamten Jahr 2022 wurden mindestens 576 Menschen im Iran hingerichtet, darunter überproportional viele Angehörige ethnischer Minderheiten. Damit hat sich die Zahl der vollstreckten Todesurteile im Vergleich zum Vorjahr nochmals deutlich erhöht (2021: 314 Hinrichtungen), siehe Amnesty International, "Iran: Bereits 251 Menschen in diesem Jahr hingerichtet", 27.07.2022, aufrufbar unter: https://www.amnesty.de/iran-bereits-251-hinrichtungen-in-diesem-jahr
[18] Amnesty International, "Iran: Landmark UN fact-finding mission marks long-awaited turning point in tackling systematic impunity", 24.11.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/11/iran-landmark-un-fact-finding-mission-marks-long-awaited-turning-point-in-tackling-systematic-impunity/.
[19] Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 218. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 02.12.22 in München, TOP 16: Umsetzung eines Abschiebestopps für den Iran, abrufbar unter: https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/2022-12-02/beschluesse.pdf;jsessionid=4D8ED7D3A84C69904020F5493557EFAD.2_cid365?__blob=publicationFile&v=2.
[20] MEGAVO, "Polizeistudie-MEGAVO", aufrufbar unter: https://www.polizeistudie.de/.
[21] BMI, "Projekt" Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten" Zwischenbericht 2023", 04.04.2023, aufrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2023/megavo-zwischenbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=3, S. 73.
[22] Amnesty International, Positionspapier zu Distanz-Elektroimpulsgeräten, https://www.amnesty.de/informieren/positionspapiere/positionspapier-zu-distanz-elektroimpulsgeraeten.
[23] Amnesty International, Stellungnahme Versammlungsgesetz NRW, https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-10/Amnesty-Stellungnahm….