Artikel 10. Dezember 2018

Naher Osten und Nordafrika: Gegen ­Unterdrückung und Brutalität

Porträt einer Frau mit langen offenen Haaren die ein schwarzes T-Shirt trägt

Die marokkanische Aktivistin Nawal Benaissa musste ihre Heimstadt Al Hoceima im Norden des Landes verlassen und in einer anderen Stadt Zuflucht suchen, nachdem sie von den Behörden wegen ihrer Menschenrechtsarbeit schikaniert wurde

Im Nahen Osten und in Nordafrika wurden Menschenrechts­verteidiger_innen 2018 in vielfacher Weise bedroht – sowohl von Regierungen als auch von bewaffneten Gruppen. Dennoch schafften sie es, in harten Kämpfen Verbesserungen zu erreichen. An erster Stelle sind dabei die Frauen zu nennen, die sich gegen tiefverwurzelte geschlechtsspezifische Diskriminierung und andere systematische Menschenrechtsverletzungen auflehnten. 

Das Engagement von Menschenrechtsverteidiger_in­nen wird auch künftig unverzichtbar sein, um der ­repressiven Politik der Regierungen im Nahen Osten und in Nordafrika Einhalt zu gebieten und darauf zu pochen, dass Menschenrechtsverletzungen geahndet werden.

Frauen wehren sich gegen Unterdrückung

Am 24. Juni 2018 wurde das Fahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien aufgehoben, eine von unzähligen diskriminierenden Regelungen im Königreich. Dieser längst überfällige Schritt ist mutigen Menschenrechtsverteidigerinnen zu verdanken, denen es gelang, die internationale Aufmerksamkeit auf ihren jahrzehntelangen Kampf zu lenken. 

Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet einige der Aktivistinnen, die diese ­Verbesserung erstritten, willkürlich inhaftiert und ­öffentlich diffamiert wurden.

Im Mai – knapp einen Monat vor Aufhebung des Fahrverbotes – nahmen die Behörden unter anderem Loujain al-Hathloul, Iman al-Nafjan und Aziza al-Yousef fest. Die drei Frauenrechtlerinnen sitzen seither ohne Anklage oder Gerichtsverfahren im Gefängnis und werden in heim­tückischer Weise als "Verräterinnen" gebrandmarkt. 

Ihre furchtbare Lage ist typisch für das Schicksal von Menschenrechtsverteidiger_innen in Saudi-Arabien: Nahezu alle verbüßen entweder langjährige Haftstrafen, unterliegen Reiseverboten oder wurden gezwungen, das Land zu verlassen.

Auch im Iran bewiesen Frauenrechtlerinnen großen Mut, indem sie sich gegen die rigiden Kleidervorschriften auflehnten – die gewissermaßen stellvertretend stehen für die weitreichende und tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen im Iran.

Viele nahmen in der Öffentlichkeit demonstrativ ihr Kopftuch (Hidschab) ab, um auf diese Weise gegen den Verhüllungszwang zu protestieren und dagegen, dass die iranische Gesellschaft diese bevormundende und demütigende Vorschrift offenbar unwidersprochen hinnimmt. 

Die iranischen Behörden reagierten auf die friedlichen Kundgebungen mit Gewalt: Zahlreiche Frauen wurden geschlagen und willkürlich festgenommen. Einige wurden angeklagt und erhielten Haftstrafen. So musste Roya Saghiri im August eine Gefängnisstrafe von 23 Monaten antreten, weil sie "die öffentliche Ordnung gestört" haben soll.

Das massive Vorgehen der Behörden gegen die friedlichen Proteste ist Teil einer umfassenden Welle der Repression, die sich gegen Menschenrechtsverteidiger_innen insgesamt richtet.

Auch Unterstützer_innen und Rechtsbeistände der protestierenden Frauen wurden verfolgt. Im Juni inhaftierten die iranischen Behörden die Rechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, die einige der Frauen vertrat. Die bekannte und mehrfach ausgezeichnete Menschenrechtsverteidigerin wurde unter anderem wegen "Versammlung und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit" angeklagt. 

In Ägypten bekamen Menschenrechtsverteidiger_innen, die die Regierung kritisierten, ebenfalls die volle Wucht der Staatsgewalt zu spüren. Inmitten des allgemeinen Klimas der Unterdrückung gab es zwar einzelne Lichtblicke, wie die Freilassung der Menschenrechtlerin Mahienour el-Massry im Januar und des Menschenrechtsanwalts Haytham Mohamdeen im Oktober, doch sitzen immer noch viel zu viele Aktivist_innen aufgrund von willkürlichen Anklagen im Zusammenhang mit Terrorismus und Staatssicherheit im Gefängnis.

Eine Frau sitzt am Lenkrad eines Autos und schaut nach hinten zu einer Person auf der Rückbank

Kurz nach Mitternacht des 24. Juni 2018 fährt Dania Alagili ihr Auto. An diesem Tag wurde das Autofahrverbot für Frauen aufgehoben. Dschidda, Saudi-Arabien

Im September wurde Amal Fathy zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ein Video über sexuelle Belästigung auf Facebook veröffentlicht und die Regierung dafür kritisiert hatte, nichts dagegen zu unternehmen. 

Der Mitbegründer und Leiter des Ägyptischen Koordinierungsbüros für Rechte und Freiheiten, Ezzat Ghoniem, und der Menschenrechtsanwalt Azzoz Mahgoub, der für dieselbe Organisation arbeitet, befinden sich nach wie vor in Haft ohne Kontakt zur Außenwelt, obwohl sie nach einem Gerichtsbeschluss am 4. September freigelassen werden sollten. 

30 Menschenrechtsverteidiger_innen und Mit­arbeiter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen unterliegen einem Reiseverbot; in zehn Fällen wurde außerdem das Vermögen der betreffenden Personen eingefroren. 

Niederschlagung von Protesten

Die Menschenrechtsverteidiger_innen im Nahen Osten und in Nordafrika haben Regierungen für ihre Exzesse an den Pranger gestellt. Sie verurteilten die Übergriffe der Sicherheitskräfte im Maghreb, kritisierten die seit einem halben Jahrhundert andauernde israelische Militärbesatzung der palästinensischen Gebiete und boten den Machthabern der Golfstaaten die Stirn.

In Marokko wurde die Menschenrechtlerin Nawal Benaissa im Februar 2018 zu einer zehn­monatigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe ver­urteilt, weil sie nach Ansicht des Gerichts zu einer Straftat aufgerufen hatte.

Die führende Vertreterin der "Hirak"-Bewegung war an Demonstrationen beteiligt, die mehr soziale Gerechtigkeit und eine bessere Gesundheitsversorgung in der Rif-Region forderten. Sie war gemeinsam mit Hunderten weiteren Menschen, die friedlich demonstriert hatten, festgenommen und inhaftiert worden.

Um Kritik am Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die "Hirak"-Demonstrationen zu unterbinden, gingen die marokkanischen Behörden auch gegen die Rechtsbeistände der Protestierenden vor. So wurde der Menschenrechtsanwalt Abdessadak El Bouchattaoui im Februar wegen kritischer Facebook-Posts zu 20 Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. 

Die israelischen Sicherheitskräfte reagieren auf Proteste gegen die Militärbesatzung der palästinensischen Gebiete und die Blockade des Gazastreifens schon seit Langem mit brutaler Gewalt. Dies zeigte sich einmal mehr bei der Protestaktion "Marsch der Rückkehr" an der Grenze des Gazastreifens, als die israelische Armee mehr als 150 palästinensische ­Demonstrierende tötete.

In einigen Fällen griffen die israelischen Behörden auf Militärgerichte zurück, um palästinensische Menschenrechtsverteidiger_in­nen zu verfolgen. Im März wurde Munther Amira im Zusammenhang mit seiner friedlichen Teilnahme an Protestaktionen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Im Mai verwies die israelische Regierung den regionalen Leiter der Organisation Human Rights Watch, Omar Shakir, des Landes. Sie warf ihm vor, Boykottaktionen gegen Israel unterstützt zu haben. Er legte Rechtsmittel gegen den Beschluss ein, eine Entscheidung darüber steht noch aus. 

Palästinensische Menschenrechtsverteidiger_in­nen demonstrierten gegen Sanktionen, die die palästinensische Regierung in Ramallah gegen den von der Hamas verwalteten Gazastreifen verhängt hatte.

Sie nahmen gemeinsam mit zahlreichen weiteren Protestierenden am 14. Juni an einer Demonstration teil, die palästinensische Sicherheitskräfte gewaltsam auflösten. Unter den mehr als 50 Demonstrierenden, die fest­genommen und im Gewahrsam geschlagen wurden, war auch der Amnesty-Mitarbeiter Laith Abu Zeyad.

Unterdrückte ­Meinungsfreiheit

In den Vereinigten Arabischen Emiraten verurteilte eine Staatssicherheitskammer im Mai 2018 den mehrfach für seine Arbeit ausgezeichneten Menschenrechtsverteidiger Ahmed Mansoor zu zehn Jahren Gefängnis. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, er habe "die Vereinigten Arabischen Emirate und ihre Symbole beleidigt".

In Bahrain bestätigte ein Berufungsgericht im Juni die fünfjährige Gefängnisstrafe für Nabeel Rajab wegen Straftaten, die sich auf friedlich vorgebrachte Twitter-Beiträge bezogen. Der bahrainische Menschenrechtsaktivist hatte sich zu Foltervorwürfen im Jaw-Gefängnis geäußert und zur Tötung von Zivilpersonen im bewaffneten Konflikt im Jemen durch die von Saudi-Arabien geführte Militärallianz.

Verstöße in ­bewaffneten Konflikten aufdecken

Im Jemen haben Menschenrechtsverteidiger_innen entsetzliche Verstöße aufgedeckt. Sie konnten erreichen, dass der UN-Menschenrechtsrat das Mandat der UN-Expertengruppe zum Jemen verlängerte – gegen den Widerstand der Regierungen von Saudi-Arabien und dem Jemen. 

Ihr Engagement hatte jedoch Folgen: mehrere Menschenrechtsverteidiger_innen "verschwanden", wurden willkürlich inhaftiert oder erhielten Mord­drohungen. Der Menschenrechtsverteidiger Kamal al-Shawish kam im September 2018 in al-Hudaida wieder frei, nachdem die bewaffnete Gruppe der Huthi ihn mehr als einen Monat lang an einem unbekannten Ort und ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten hatte.

In Taiz nahmen jemenitische Regierungsbehörden und Milizen alle Personen ins Visier, die sie der Opposition zurechneten. Akram al-Shawafi, der Gründer der Menschenrechtsgruppe Watch Team, musste im Laufe des Jahres fünf Mal seinen Aufenthaltsort wechseln, nachdem er eingeschüchtert und im Internet bedroht worden war. Er hatte dokumentiert, wie schlecht die örtlichen Behörden die Zivilbevölkerung der Stadt behandelten.

In Libyen waren es in erster Linie Menschenrechtsverteidigerinnen, die Korruption durch Staatsbedienstete kritisierten und Menschenrechtsverletzungen der Libyschen Nationalarmee sowie bewaffneter Milizen anprangerten. Die Frauen waren daraufhin sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Auch wurden sie in den sozialen Medien diffamiert.

Im Januar entführten Milizen die Menschenrechtsverteidigerin Mariam al-Tayeb aus dem Bab-­Tajoura-Viertel der Hauptstadt Tripolis und schlugen sie. Sie hatte den Milizen außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen und Folter vorgeworfen.

In Syrien wurden Menschenrechtsverteidiger_in­nen weiterhin massiv verfolgt – sowohl in Gebieten unter Regierungskontrolle als auch in Gebieten, die von bewaffneten Oppositionsgruppen beherrscht wurden.

Das Zentrum zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in Syrien gehört zu den wenigen Organisationen, die weiterhin landesweit Menschenrechtsverletzungen dokumentieren – obwohl ihre Kolleg_innen Razan Zaitouneh, Samira Khalil, Wa’el ­Hamada und Nazem Hamadi (auch bekannt als die Douma-Vier) vor fünf Jahren entführt wurden und seither "verschwunden" sind.

In der syrischen Diaspora gewann 2018 die Organisation Familien für Freiheit weiter an Bedeutung. Ziel dieser von Frauen angeführten Bewegung ist es, alle Personen, die von der syrischen Regierung und anderen Konfliktparteien verschleppt oder willkürlich inhaftiert wurden oder "verschwanden", zu finden, bzw. ihre Freilassung zu erreichen. 

Ihre Entschlossenheit und ihr Mut angesichts der katastrophalen Menschenrechtssituation in ihrem Land sind eine Inspiration für Aktivist_innen auf der ganzen Welt. 

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