"Gewalt gehört in Ägypten zum Alltag"

Aida Seif al-Dawla, Psychiaterin und eine der Gründerinnen des Nadeem-Zentrums, im Januar 2018 im Kairoer Büro
© Amnesty International, Foto: Dana Smillie
Das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Kairo wird im April mit dem Amnesty-Menschenrechtspreis 2018 ausgezeichnet. Die ägyptische Nichtregierungsorganisation engagiert sich seit 25 Jahren in der Opferhilfe. Eine der Gründerinnen des Zentrums ist die Psychiaterin Aida Seif al-Dawla.
Interview: Cornelia Wegerhoff
Die Klinik des Nadeem-Zentrums wurde im Februar 2017 auf Anordnung der ägyptischen Behörden geschlossen. Weshalb?
Die Schwierigkeiten begannen schon ein Jahr zuvor. 2016 suchten uns Vollstreckungsbeamte auf, die die Klinik schließen wollten, weil uns angeblich die Lizenz fehlte. Unser Anwalt konnte diese aber vorlegen. Seitens des Gesundheitsministeriums hieß es dann, die Schließung sei auf direkte Anordnung des ägyptischen Kabinetts erfolgt, unter anderem, weil wir mit der Veröffentlichung von Medienberichten über Folter angeblich Aktivitäten betrieben, die im Rahmen der vorhandenen Lizenz nicht erlaubt seien. Man warf uns vor, Terroristen zu unterstützen und der Polizei zu unterstellen, Menschen zu foltern.
Wie ging es dann weiter?
Nachdem wir offiziell Einspruch erhoben hatten, haben wir zunächst nichts mehr von den Behörden gehört. Aber am 9. Februar 2017 war der Bürgersteig vor unserem Haus plötzlich voller Polizisten. Die Klinik ist bis heute geschlossen, weshalb wir vor Gericht gezogen sind. Am 21. Februar soll das Urteil gesprochen werden. Ich hoffe, dass wir gewinnen. Aber ich bin nicht optimistisch.
Welche Rolle spielen staatliche Gewalt und Folter in Ägypten?
Sie gehören zum Alltag und sind Teil einer systematischen Staatspolitik, mit der Macht ausgeübt wird. Es gibt in unserem Land die Redensart: "Halte den Kopf hoch, du bist Ägypter!" In den Gefängnissen lassen Wärter Inhaftierte auf dem Boden liegend diesen Satz rufen, während sie mit Stiefeln gegen ihren Kopf treten. Polizei und Militär wollen so dafür sorgen, dass das, was 2011 passiert ist, sich nicht wiederholt.
Am 25. Januar 2011 begann der Aufstand gegen Hosni Mubarak, 18 Tage später trat er zurück. Die Demonstranten gingen damals auch auf die Straße, um gegen die alltägliche Polizeigewalt zu protestieren. Wie viel ist von dieser Revolution noch übrig?
Bis 2013 waren viele Menschen entschlossen, sich der staatlichen Gewalt zu widersetzen und keine Angst mehr zu zeigen. Sie ließen sich beispielsweise von Polizisten, die sie willkürlich auf der Straße anhielten, den Dienstausweis zeigen. Damals hatten wir den Eindruck, dass wir als Volk unsere Würde zurückgewonnen haben. Aber was seit der Machtübernahme durch den damaligen Armeechef Abdel Fattah al-Sisi 2013 zu beobachten ist, ist das Schlimmste, was Ägypten jemals erlebt hat: ein unvergleichbarer Ausbruch staatlicher Gewalt.
Schlimmer als unter Mubarak?
Sehr viel schlimmer. Die Situation heute ist weder vergleichbar mit der Mubarak-Ära noch mit der Militärherrschaft im Jahr nach der Revolution oder der Regierungszeit der Muslimbruderschaft. Anfangs richtete sich die staatliche Gewalt vor allem gegen die gestürzten Muslimbrüder. Doch danach folgte eine gefährliche kollektive Hirnwäsche der Gesellschaft nach dem Motto: Das geschieht den Muslimbrüdern nur recht, sie sind Feinde Ägyptens. Und dann wurden Menschenrechtsaktivisten ins Visier genommen. Eine ganze Reihe von Organisationen wie unsere wurden für illegal erklärt.
An wen können sich Opfer von Gewalt und Folter noch wenden, seitdem Ihre Klinik geschlossen worden ist?
Unsere Telefon-Hotline ist weiter erreichbar. Wir finden immer einen Weg, wie wir Betroffenen Hilfe anbieten können. Seit der Schließung der Klinik haben unsere Therapeuten nicht einen einzigen Tag lang aufgehört, Patienten zu treffen.
Auch an Ihrem Archiv der Unterdrückung arbeiten Sie weiter?
Ja. Wir sammeln weiter Medienberichte, in denen von rechtswidrigen Tötungen, Folter in Polizeiwachen und Gefängnissen die Rede ist, aber auch von mangelnder medizinischer Versorgung von Inhaftierten, die sogar zu deren Tod führen kann, sowie vom Verschwindenlassen von Personen.