Amnesty Report Kirgisistan 16. April 2020

Kirgisistan 2019

Verschiedene Menschen sitzen in einem Raum, eine Frau im Rollstuhl, sie schauen auf ein Whiteboard, eine Frau schreibt darauf

Konferenz für die Rechte von Menschen mit Behinderung in Kirgisistan im September 2018

Die Diskriminierung von Frauen, Menschen mit Behinderungen, Lesben, Schwulen, Transgender und Intergeschlechtlichen (LGBTI) sowie ethnischen Minderheiten war 2019 weiter an der Tagesordnung. Immer wieder trafen glaubhafte Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam ein, und für die Menschenrechtsverletzungen nach den ethnisch begründeten gewaltsamen Ausschreitungen im südlichen Kirgisistan im Jahr 2010 wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. gegen den Der gewaltlose politische Gefangene Azimjan Askarov musste seine lebenslange Haftstrafe ohne jede Aussicht auf Freilassung weiter verbüßen. 

 

Hintergrund

Kirgisistan zählte nach wie vor zu den ärmsten Ländern Zentralasiens, und seine Wirtschaft stützte sich stark auf Überweisungen aus dem Ausland. Im November deckten Enthüllungsjournalist_innen ein Geldwäschesystem auf, durch das mindestens 645 Millionen Euro aus Kirgisistan in Länder auf der ganzen Welt verschoben worden waren, was große öffentliche Empörung auslöste. Im August kam es zu einer bewaffneten Konfrontation zwischen Sicherheitskräften und Anhänger_innen des früheren Präsidenten Almasbek Atambajew, der es ablehnte, sich in Verbindung mit gegen ihn gerichteten Korruptionsvorwürfen befragen zu lassen, und sich im Oktober weigerte, der Eröffnung des gegen ihn anberaumten Verfahrens beizuwohnen. 

Gewalt gegen Frauen

Frühe Verheiratungen und Zwangsehen sowie die Entführung von Frauen waren 2019 nach wie vor an der Tagesordnung. Zahlen des Nationalen Ausschusses für Statistik vom Mai zufolge war eines von elf Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren verheiratet. Die UNICEF registrierte, dass 13,8% aller Frauen unter 24 Jahren durch irgendeine Form von Zwang verheiratet worden waren. In den ersten sechs Monaten des Jahres wurden 118 Verfahren wegen der Entführung einer Frau eröffnet, eine beträchtliche Steigerung gegenüber den Vorjahren. Veränderungen des Strafgesetzbuchs, die im April in Kraft traten, erhöhten die Höchststrafe für die Entführung von Frauen auf eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren und eine Geldstrafe von etwa 2.800 Euro. In einem anlässlich seines 2018 erfolgten Besuchs in Kirgisistan im Mai 2019 veröffentlichten Bericht forderte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit gesetzliche Maßnahmen, um ein Verbot von Kinderehen durchzusetzen; größere Anstrengungen, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, sowie Personen, die solche verübt haben, strafrechtlich zu verfolgen und die Opfer zu schützen. 
 

Die Polizei versäumte es, angemessen auf Anschuldigungen wegen häuslicher Gewalt zu reagieren. Aizat Chirtekova ist dafür ein plastisches Beispiel. Sie schilderte, wie sie im Jahr 2018 wegen ihres gewalttätigen Ehemanns mehrmals die Polizei gerufen, jedoch aus Angst vor Vergeltung nie schriftlich Anzeige erstattet hatte. Die Polizei versäumte es, Schutzanordnungen zu verhängen oder strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten. Im August desselben Jahres verließ Aizat Chirtekova vorübergehend die gemeinsame Wohnung, nachdem ihr Ehemann sie besonders brutal attackiert hatte, indem er sie ihren Angaben zufolge verprügelte, sie zu erwürgen versuchte und mit einem Fahrrad auf sie einschlug. Einen Monat später stürzte sie sich mit ihrem sieben Monate alten Baby aus einem Fenster im vierten Stock. Während man Aizat Chirtekova des versuchten Mordes an ihrem Kind anklagte, wurden keine strafrechtlichen Ermittlungen wegen häuslicher Gewalt gegen ihren Ehemann eingeleitet. Das Strafverfahren gegen Aizat Chirtekova war Ende 2019 noch nicht abgeschlossen, jedoch lehnte es die Staatsanwaltschaft in Osch im März erneut ab, gegen den Ehemann zu ermitteln. Im Dezember 2019 wurde Aizat Chirtekova wegen versuchten Mordes zu elf Jahren Haft verurteilt. 

Rechte von Menschen mit Behinderungen

Am 14. März unterzeichnete der Präsident ein zuvor vom Parlament verabschiedetes Gesetz, mit dem das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert wurde (Convention on the Rights of Persons with Disabilities – CRPD). 

Trotz dieses begrüßenswerten Schritts waren in Kirgisistan Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen nach wie vor mit Inklusionshindernissen konfrontiert. So waren etwa öffentliche Gebäude wie Schulen, Regierungseinrichtungen und Krankenhäuser sowie der Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln nicht barrierefrei. In seinem Bericht erklärte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, dass Gesundheitsdienste für psychisch Kranke in Kirgisistan noch immer auf "einem engen und überholten biomedizinischen Modell" mit "einer übertriebenen Bevorzugung der Versorgung innerhalb von Anstalten" beruhe. Das Bürgerliche Gesetzbuch enthielt nach wie vor Bestimmungen, die es ermöglichten, Personen ihrer Geschäftsfähigkeit zu berauben, "wenn sie aufgrund einer geistigen Störung weder die Auswirkungen ihrer Handlungen verstehen noch diese kontrollieren können", und einen Vormund für sie zu ernennen, was eine Verletzung von Artikel 12 des CRPD bedeutet, welcher Gleichberechtigung vor dem Gesetz garantiert. Bei einem Besuch in einer psychiatrisch-neurologischen Einrichtung für betreutes Wohnen für Männer in Tokmok erfuhr Amnesty International, dass 67 Bewohnern an einem einzigen Tag im Jahr 2017 die Geschäftsfähigkeit aberkannt worden war.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intergeschlechtlichen

Die Verfassung schützt vor Diskriminierung aus jedem Grund (Artikel 15.2), erwähnt jedoch weder sexuelle Orientierung noch Geschlechtsidentität explizit als Schutzgründe. Es gab 2019 kein Gesetz, das Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität konkret einbezog. 

Am 1. Mai 2019 wurde ein von der feministischen und LGBTI-Bewegung 8/365 organisiertes Picknick in einem Park in Bischkek von über 20 jungen Männern gesprengt, darunter auch Mitglieder einer bekannten nationalistischen Gruppierung, die Eier und Farbbeutel auf die acht an dem Picknick beteiligten Personen sowie Umstehende warfen und diese filmten, beleidigten und bedrohten. Im Park anwesende Polizeibeamt_innen griffen nicht ein. Die Organisator_innen von 8/365 erstatteten anschließend bei der Polizei Anzeige gegen ihre Angreifer. Die Ermittlungen waren bis Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen. 

Folter und andere Misshandlungen

Am 1. Januar traten ein neues Strafgesetzbuch und ein neue Strafprozessordnung in Kraft. Diese Gesetzbücher verstärkten die Garantien gegen Folter und andere Misshandlungen, indem Folter und andere Misshandlungen explizit für gesetzwidrig erklärt werden und sämtliche durch Folter und andere Misshandlungen erlangten "Beweise" ausgeschlossen werden. Zudem wird festgelegt, wann der polizeiliche Gewahrsam beginnt, und damit gewährleistet, dass die Inhaftierten vom tatsächlichen Zeitpunkt der Festnahme an das Recht auf einen Rechtsbeistand haben. Die neue Strafprozessordnung bestimmt auch, dass nach Eingang einer Anzeige wegen Folter binnen zwölf Stunden ärztliche Befunde gesichert werden müssen. 

Allerdings gingen bei NGOs nach wie vor Berichte über Folter und andere Misshandlungen sowie die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nach ethnischen Kriterien durch die Polizei ein. Am 20. November wurde ein ethnischer Usbeke von Polizeibeamten des Polizeireviers Ak-Burinsk in Osch willkürlich festgenommen und seinen Angaben nach verprügelt, um ihn zu dem Geständnis zu zwingen, dass er zwei Mobiltelefone gestohlen habe. Er befand sich im Wagen einer für die Menschenrechtsgruppe Positive Dialogue tätigen Anwältin, als Polizist_innen den Wagen anhielten und den Usbeken festnahmen, ohne zu erklären, warum. Zwei weitere Polizeibeamte kamen hinzu und zeigten Papiere auf Kirgisisch vor, die der Festgenommene nicht verstand, erlaubten der Anwältin jedoch nicht, ihm deren Inhalt zu erläutern. Später fand die Anwältin den Mann auf dem Polizeirevier Ak-Burinsk, wo er ihr erzählte, dass man ihn verprügelt habe. Die Anwältin sorgte dafür, dass der Mann in ein Krankenhaus gebracht wurde, damit seine Verletzungen dokumentiert werden konnten. Der Arzt willigte ein, den Usbeken unter vier Augen zu untersuchen, außer Reichweite der Polizisten, die ihn verprügelt hatten, lehnte es jedoch ab, ein Formular auszufüllen, mit dem die Verletzungen in Übereinstimmung mit dem Istanbul-Protokoll dokumentiert worden wären. Der Betroffene hat wegen der mutmaßlichen Folter Anzeige erstattet. 
 

Gewaltlose politische Gefangene

Kirgisistan hatte 2019 noch immer keine erschöpfenden und unparteiischen Ermittlungen bezüglich der Menschenrechtsverletzungen eingeleitet, die während und nach den ethnisch motivierten Ausschreitungen im Juni 2010 in Osch geschehen waren und nach denen ethnisch usbekische Personen unverhältnismäßig häufig strafrechtlich verfolgt wurden. 

Azimjan Askarov, ein ethnisch usbekischer Menschenrechtsverteidiger, verbüßte 2019 nach wie vor die aufgrund konstruierter Vorwürfe gegen ihn verhängte lebenslange Freiheitsstrafe, wonach er während der Ausschreitungen von 2010 einen Polizisten ermordet haben soll. Nach der Einführung eines neuen Strafgesetzbuchs, dem zufolge lebenslange Haft in seinem Fall ausgeschlossen ist, beantragte Azimjan Askarov im Februar bei Gericht, seine lebenslange Freiheitsstrafe zu überprüfen. Insbesondere schrieb das neue Strafgesetzbuch für Beihilfe an der Ermordung eines Polizeibeamten, einer der Straftaten, derentwegen Azimjan Askarov verurteilt worden war, nun keine lebenslange Haftstrafe mehr vor. Am 30. Juli überprüfte das Regionalgericht Tschüi Askarovs lebenslange Haftstrafe, entschied jedoch, diese unverändert aufrechtzuerhalten. Über einen weiteren Antrag an den Obersten Gerichtshof war bis Ende 2019 noch nicht entschieden worden. Im März wurde Azimjan Askarov in ein Gefangenenlager für zu lebenslanger Haft verurteilte Strafgefangene außerhalb von Bischkek überstellt, jedoch im August wieder ins Gefängnis Nummer 47 in Bischkek zurückverlegt. Sein Gesundheitszustand hat sich in der Haft verschlechtert, und ihm wurde nach wie vor notwendige und angemessene Gesundheitsfürsorge verweigert. Amnesty International betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen, der sich nur wegen seines Eintretens für die Menschenrechte in Haft befindet. 
 

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