Amnesty Report Haiti 24. April 2024

Haiti 2023

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Viele Menschen litten Hunger, und es mangelte an lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen. Bandengewalt, darunter Tötungen, Entführungen und sexualisierte Gewalt, blieb straflos. Richter*innen, Staatsanwält*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen mussten um ihre Sicherheit fürchten. Hunderttausende Menschen waren nach wie vor im eigenen Land vertrieben oder flohen über die Grenze. Die USA und die Dominikanische Republik boten Haitianer*innen nur begrenzten Zugang zu internationalem Schutz und wiesen Tausende von ihnen aus. 

Hintergrund

Kriminelle Banden waren 2023 im ganzen Land präsent und übten starken Einfluss auf wichtige Gebiete des Landes aus, auch auf die Hauptstadt Port-au-Prince und die gleichnamige Metropolregion.

Im Oktober genehmigte der UN-Sicherheitsrat die von der haitianischen Regierung beantragte Entsendung einer Multinationalen Sicherheitsunterstützungsmission (Multinational Security Support Mission) nach Haiti. Die Mission zur Unterstützung der Haitianischen Nationalpolizei sollte unter der Leitung der kenianischen Polizei stehen, die in der Vergangenheit oft exzessive, unnötige und manchmal auch tödliche Gewalt angewandt hat.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Die Knappheit an lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen hielt das ganze Jahr über an. Im Juli 2023 gab das Welternährungsprogramm bekannt, dass es aufgrund von Haushaltskürzungen die Nahrungsmittelhilfe für 100.000 Menschen einstellen müsse, obwohl die Hälfte der Bevölkerung (4,9 Mio. Menschen) nicht in der Lage war, sich täglich mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Zwar kündigten Regierung und UN-Organisationen an, dass es zu einem leichten Rückgang des Hungerniveaus kommen werde, doch mangelte es Millionen von Menschen weiterhin an ausreichender Nahrung. Zudem beeinträchtigten Umweltveränderungen und Klimaschocks die Nahrungsmittelproduktion.

Die Gesundheitsversorgung war unzureichend und das Gesundheitswesen nur eingeschränkt leistungsfähig, nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlicher Zwänge und gewaltsamer Auseinandersetzungen, die zur Vertreibung von Menschen und zur Beeinträchtigung humanitärer Maßnahmen führten. Im Verlauf der Choleraepidemie, die seit Oktober 2022 zu beinahe 70.000 Verdachtsfällen geführt hatte, kam es im Juni 2023 zu einem sprunghaften Anstieg der Erkrankungen. Im Mai 2023 kündigte die Weltgesundheitsorganisation weitere Unterstützung und Finanzmittel an, um die Defizite im Gesundheitswesen zu überwinden.

Straflosigkeit

Für die im ganzen Land verbreitete Gewalt herrschte 2023 nach wie vor nahezu uneingeschränkte Straflosigkeit. Laut der NGO Human Rights Watch war sexualisierte Gewalt gang und gäbe, und Frauen und Mädchen wurden häufig Opfer von Vergewaltigungen. Dies wurde als Mittel benutzt, um Angst einzuflößen, Kontrolle zu erlangen und Frauen zu bestrafen. 

Im Februar 2023 forderte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte die Behörden auf, die Sicherheitskräfte und das Justizsystem zu stärken, um gegen die Bandengewalt vorzugehen.

Das Büro des Sonderberichterstatters für Meinungsfreiheit der Interamerikanischen Menschenrechtskommission machte darauf aufmerksam, dass im Jahr 2023 mindestens drei Journalisten getötet wurden: Paul Jean Marie von Radio Lumière, Ricot Jean von Radio-Télé Évolution Inter und Dumesky Kersaint von Radio Télé Inurep. Zahlreiche Journalist*innen sahen sich angesichts von Schikane, Entführungen, Schießereien und Angriffen auf Medieneinrichtungen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen.

Im Mai 2023 eröffneten Unbekannte von einem Motorrad aus das Feuer auf das Fahrzeug des Präsidenten des haitianischen Richter*innenverbands ANAMAH, Wilner Morin, der sich als Richter mit Korruptionsfällen befasste. Im September wurde Québex Jean, stellvertretender Staatsanwalt im Verwaltungsbezirk Mirebalais, in seinem Haus von Unbekannten getötet. Die Ermittlungen in diesen Fällen waren Ende 2023 noch nicht abgeschlossen.

Am 26. August schossen Unbekannte auf Hunderte Menschen, die in der nördlich von Port-au-Prince gelegenen Siedlung Canaan gegen die grassierende Kriminalität und Gewalt in Haiti protestierten. Dabei wurden mindestens sieben Personen getötet und zehn verletzt.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Obwohl das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) im November 2022 die Dominikanische Republik aufforderte, die Abschiebung von Haitianer*innen zu stoppen, schickte das Land im Jahr 2023 Tausende Haitianer*innen zurück und schloss die Grenze zu Haiti. Die USA verlängerten im Februar 2023 das Programm zur Gewährung vorübergehenden Schutzes für Geflüchtete aus Haiti. Auch die Programme zur Vergabe humanitärer Visa (Humanitarian Parole Programs) blieben weiter in Kraft. Dennoch wurden haitianische Staatsangehörige auch weiterhin in ihr Herkunftsland abgeschoben. 

Laut Angaben der Internationalen Organisation für Migration gab es im Juni 2023 in Haiti mehr als 190.000 Binnenvertriebene. Die meisten dieser Menschen waren aufgrund der Gewalt bewaffneter Banden aus ihrem Zuhause geflohen.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Im März 2023 ordnete der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte vorläufige Schutzmaßnahmen für Mitglieder der Menschenrechtsorganisation ECCREDHH an. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass die betreffenden Personen Gefahr liefen, einen nicht wiedergutzumachenden Schaden im Hinblick auf ihre Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu erleiden. Mitglieder der Organisation waren seit mindestens 2015 im Kontext der großflächigen Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen Schikane und Gewalt durch Unbekannte ausgesetzt.

Am 18. August 2023 schossen Unbekannte auf den Sitz der NGO Réseau National de Défense des Droits Humains (RNDDH) in Port-au-Prince. Wenige Stunden zuvor hatte die Organisation einen Untersuchungsbericht über die eskalierende Gewalt in Haiti veröffentlicht. RNDDH vermutete, dass ein Polizist an der Schießerei beteiligt war.

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