Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 26. Juli 2017

Beten um zu bleiben

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Aus Angst vor Abschiebungen und Übergriffen ziehen sich in den USA immer mehr Migranten aus dem öffentlichen Leben zurück.

Von Arndt Peltner, San José

Die ersten Besucher sind schon um neun Uhr vor der unscheinbaren Halle im Industriegebiet von San José eingetroffen. Fein gekleidet, mit Blumensträußen in den Händen. Meist finden hier Hochzeiten, Geburtstage und Jubiläen statt. An diesem Tag aber begehen gleich mehrere katholische Latino-Gemeinden aus der San Francisco Bay Area eine Feier zu Ehren des Apostels Petrus. Eine Blaskapelle spielt auf, die Gläubigen ziehen in einer Prozession in die Halle ein.

Der katholische Geistliche Jon Pedigo hält die Predigt auf Spanisch – voller Verve: "Diese Woche haben wir Politiker gesehen, die behaupten, Jesus zu lieben, ihn aber eigentlich hassen", sagt er und zitiert aus der Bibel: "`Wenn du mich liebst, dann kümmere dich um die Schwächsten der Schwachen`", habe Jesus zu Petrus gesagt. Das bedeute aber, dass man keine Mauer baue, Immigranten nicht ihrer Rechte beraube und 23 Millionen Menschen um ihre Krankenversicherung bringe. "Und wenn doch, kann man sich nicht hinstellen und behaupten, man liebe Jesus. Das ist ein großer Haufen von dampfendem – Senf."

Die Predigt kommt gut an bei den etwa 200 Gläubigen, die nach Halt suchen in kritischen Zeiten – und nach Antworten darauf, wie man sich vor Übergriffen und vor Abschiebungen schützen kann. Auch deshalb weist Father Jon, wie ihn alle hier nennen, den Vorwurf zurück, das Evangelium in seiner Predigt politisiert zu haben. "Wenn die Menschen ihre Liebe zu Gott auf eine persönliche Beziehung beschränken, dann ignorieren sie die tatsächliche Botschaft des Evangeliums."

Die Sorge, dass ihre Familien durch die Politik von Präsident Donald Trump auseinandergerissen werden, treibt viele Menschen in San José um. Auch Rosa Valez. Vor zwölf Jahren kam sie mit vier Kindern aus dem mexikanischen Guadalajara in die USA – ohne Papiere. "Ich habe Angst, denn jeden Augenblick könnten die ICE-Mitarbeiter mich mitnehmen", sagt die Mittfünfzigerin. ICE steht für Immigration and Customs Enforcement, die Bundespolizei für Grenzsicherung, Zoll und Einwanderung.

Weil die lokalen Behörden San José zur Zufluchtsstadt (Sanctuary City) erklärt haben, hält sich dieses Risiko bislang in Grenzen. Denn wie auch in anderen Zufluchtsstädten unterstützt die örtliche Polizei die Grenzschutzbeamten nicht bei der Suche und Festnahme von Einwanderern ohne gültige ­Aufenthaltspapiere. Der legale Status wird bei Kontrollen nicht abgefragt; ihre Kinder können problemlos die öffentlichen Schulen besuchen.

Doch wie lange dieser Zustand noch anhält, ist fraglich. Denn die Regierung in Washington hat den Zufluchtsstädten den Kampf angesagt. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt unterzeichnete Trump eine Anordnung, die den Städten mit der Streichung von Geldern droht, sollten sie ihre Unterstützung irregulär Eingewanderter fortsetzen. Justizminister Jeff Sessions lässt derzeit prüfen, wie man die Kommunen zum Aufgeben zwingen kann. Obwohl einige Städte, darunter San Francisco, Oakland und San José, erfolgreich gegen die Anordnung geklagt haben, gibt Trump nicht auf – mit dramatischen Folgen für Millionen Menschen, die in Ungewissheit leben müssen.

Die ist auch in den Gesprächen an diesem Sonntagmorgen zu spüren. Die 21-jährige Yadira ist zwar legal im Land, aber auch sie fühlt sich bedroht von Trump und seiner Politik: "Wegen meiner Hautfarbe werden sie mir nicht glauben, dass ich hier geboren wurde. Sie werden behaupten, ich stamme wahrscheinlich aus Mexiko, und mich mitnehmen." Vanessa Sandez arbeitet als Lehrerin in einer Schule für gehörlose Kinder. "Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in den Unterricht, aus Angst, auf der Straße aufgegriffen zu werden", berichtet sie. "Ihr Sozialleben beschränkt sich auf die eigenen vier Wände."

Drei Personen sitzen teilnahmslos in einem Warteraum

Vom Rückzug ins Private als Schutz vor den Behörden ist in diesen Tagen viel die Rede. So zeigten Einwanderer ohne Papiere Straftaten in ihrer Nachbarschaft nicht mehr an und gingen nur noch in äußersten Notfällen zum Arzt. Aus Angst, in die Mühlen der amerikanischen Abschiebebürokratie zu gelangen.

Ben Daniel sieht die Gefahr und versteht, warum sich viele Migranten nun passiver verhalten. Er ist Pastor an der Presbytarian Church von Montclair, einem Stadtteil von Oakland. Er verweist auf ein staatliches Programm für irregulär Eingewanderte, die bereits als Kinder mit ihren Eltern ins Land kamen (Deferred Action for Childhood Arrivals, DACA). Unter Trumps Vorgänger Barack Obama verabschiedet, feierten viele Mitglieder der Latino-Community dieses Programm als wichtigen Schritt zu ihrer Legalisierung. Zahlreiche junge Erwachsene folgten dem Aufruf, sich bei den Behörden registrieren zu lassen und dafür ein Aufenthalts- und Arbeitsrecht zu erhalten. 

Unter Trump freilich zeigen sich die Schattenseiten dieses Prozesses, sagt Pastor Daniel, da die Behörden nun wüssten, wo diese Menschen leben und arbeiten. Da die Regierung in Washington erklärt habe, DACA nicht anzuerkennen, drohe vielen nun die Abschiebung. "Es ist nur zu verständlich, dass sie der Regierung nicht mehr glauben. Sie wurden hinters Licht geführt."

Die Kirche in Montclair ist Teil eines Netzwerkes von mehr als dreißig Glaubensgemeinschaften in der East Bay, darunter christliche, jüdische, muslimische und buddhistische, das bereits seit den frühen 1980er Jahren Flüchtlinge aus Mittelamerika unterstützt. Tausende Menschen aus Honduras, El Salvador und Guatemala flohen damals vor den Bürgerkriegen in ihren Ländern – abgerissen ist die Flucht in die USA seither nicht.

Sister Maureen leitet das Netzwerk mit dem Namen East Bay Sanctuary Covenant. Sie ist eine kleine, fragil wirkende Frau, die jedoch voller Energie steckt: Das Gesetz Gottes sei größer als die von Menschen gemachten Gesetze, sagt sie, und bezeichnet die Hilfe für die Geflüchteten als moralische Notwendigkeit. Deshalb habe man schon vor Jahren einer aus Guatemala geflohenen Familie geholfen, als diese vor der Kirchentür stand: mit Unterkunft, Geld und rechtlicher Beratung, um den Spießrutenlauf bis hin zur legalen Anerkennung zu bestehen. Heute arbeitet der Familienvater als Hausmeister auf dem Kirchengelände, das auch einen Kindergarten beherbergt.

Immer größer werde die Zahl der Hilfsbedürftigen, hat Schwester Maureen festgestellt – besonders seit der Wahl Trumps. Mehr als doppelt so viele Menschen wie noch unter ­Obama kämen jeden Tag in ihre Gemeinde, manchmal siebzig am Tag. Nicht zuletzt, um Unterstützung bei Asylverfahren zu erhalten. Sie sei stolz darauf, dass es in der Bay Area genügend Richter gebe, die die Anträge von Flüchtlingen aus Honduras, El Salvador und Guatemala wohlwollend behandelten.

Ein Mann wird mit den Armen hinterm Rücken abgeführt. Auf der Straße im Hintergrund befinden sich Menschen und Autos.

Die Bereitschaft, auf allen Ebenen zu helfen, ist mit der Wahl Trumps deutlich gestiegen – Solidarität ist als Gegengift zum rabiaten Vorgehen des Mannes im Weißen Haus wiederentdeckt worden. In Gotteshäusern und auf den Straßen wächst der Widerstand gegen eine Politik, die Mexikaner als "Vergewaltiger", "Drogendealer" und "Kriminelle" abstempelt und Flüchtlingen aus Krisen- und Kriegsgebieten aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Glaubens die Einreise in die USA verwehrt. Trump behauptet zwar, die Mexikaner zu lieben. Doch seine Handlungen zeigen etwas anderes.

Wie sich das langfristig auf die Immigration auswirken wird, weiß keiner genau zu sagen. Auch nicht mit Blick auf die Landwirtschaft, in der viele der irregulär ins Land gekommenen Einwanderer arbeiten. In Ventura County, nördlich von Los Angeles, gab es bislang nie Probleme, die Jobs auf den Feldern zu besetzen. Schon im Februar kamen früher viele Mexikaner über die Grenze, um hier als Tagelöhner eine Handvoll Dollar zu verdienen. Doch in diesem Jahr war alles anders. Es standen vierzig Prozent weniger Arbeitskräfte als in den Vorjahren zur Verfügung, was dazu führte, dass Farmer Anzeigen in Tageszeitungen schalteten und aktiv um Pflücker warben, um das Einbringen der Ernte nicht zu gefährden.

Dass sich kaum Amerikaner auf die Anzeigen meldeten, war eingeplant. Denn nur dann, wenn es keine einheimischen Kräfte für die Feldarbeit gibt, dürfen die Landwirte Gastarbeiter mit sogenannten H2-A-Visa aus dem Nachbarland anfordern. Das ist freilich deutlich teurer für die Arbeitgeber, da sie einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn bezahlen müssen, der deutlich höher ausfällt als die sonst übliche Entlohnung. Auch für Unterbringung und Verpflegung müssen die Farmer aufkommen. 

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Farmer bislang auf Arbeiter ohne Papiere setzten, die bar bezahlt werden konnten. Doch damit scheint es nun vorbei zu sein. So brüstet sich die Trump-Regierung damit, die Zahl der irregulären Grenzübertritte seit Jahresbeginn um sechzig Prozent reduziert zu haben. Was für den Präsidenten zählt, sind Zahlen und Statistiken – nicht die Gründe für die Flucht und menschliche Schicksale. Die Mauer, zumindest die in den Köpfen, ist bereits errichtet.

Ein Arbeiter trägt eine Kiste auf dem Kopf und läuft dabei durch ein Erdbeerfeld

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