Amnesty Journal Venezuela 22. September 2017

Tropischer Vandalismus

Polizisten zielen im Armenviertel Las Casitas von Caracas, Venezuela, mit ihren Waffen, November 2016

Operation zur Unterdrückung des Volkes. Polizisten im Armenviertel Las Casitas von Caracas, November 2016.

Gewalt statt Sozialismus: In Venezuela gehen ­regierungstreue Schlägerbanden gegen Bewohner von Armenvierteln vor.

Von Wolf-Dieter Vogel, Caracas

Sie kamen im Morgengrauen, noch bevor die Sonne ihre ersten Strahlen auf die Häuser am Hang warf. Behelmt und mit Pistolen bewaffnet drangen die uniformierten Männer in La Ensenada ein. Stufe für Stufe schritten sie voran, von Tür zu Tür. "Wir hatten nur zwei Stunden Zeit, um alles zusammenzupacken", erinnert sich Irene González. Zwei Stunden, in denen die Ve­nezolanerin alles aufgeben musste, was sie in den letzten 30 ­Jahren geschaffen hatte: ihr Haus, ihr Feld und vor allem ihre Comunidad – das gemeinschaftliche Leben im Viertel, das ihr so wichtig geworden war.

"Melancholie, Ohnmacht, Wut, Traurigkeit" – auch zwei Jahre nach jenem 24. Juli 2015, an dem sie aus ihrer Siedlung vertrieben wurde, fällt es González schwer, an diesen Ort oberhalb von Caracas zurückzukehren. "Es war sehr schmerzhaft zuzuschauen, wie sie unsere Häuser zerstörten, Familien auseinanderrissen, Frauen und Kinder schlugen", sagt die 43-jährige Verkäuferin. Sie berichtet von den Baggern, die alles zertrümmerten, von den Lastwagen der Regierung, in denen ihre Kühlschränke und Waschmaschinen verschwanden, für immer: "Wir waren im Depot, aber dort haben wir nichts mehr gefunden."

Irene González steht in La Ensenada an der Stelle, wo früher ihr Haus war, inzwischen haben dort tropische Pflanzen alles überwuchert.

Irene González an der Stelle, wo einst ihr Haus stand, La Ensenada, August 2017.

Inzwischen überwuchern tropische Bäume und Büsche den Bauschutt, den die staatlichen Eindringlinge hinterließen, nachdem sie La Ensenada dem Erdboden gleichgemacht hatten. Doch die Erinnerung ist geblieben. "Hier sind unsere Kinder und Enkel geboren", erzählt González. Ein paar Meter weiter oben habe sie mit ihrem Mann Gemüse, Früchte und Salat angebaut. So wie viele der 106 Familien, die jetzt vor dem Nichts stehen. Auch Emily León hat alles verloren. "Sie haben nicht nur mein Haus, sondern mein Leben zerstört", sagt die 24-Jährige. Nun ist sie in einem Wohnheim untergebracht. Vorübergehend. Besonders wegen ihres zehnjährigen Sohnes und der siebenjährigen Tochter macht sie sich Sorgen: "Sie haben uns behandelt wie Tiere."

Bis heute wissen die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner von La Ensenada nicht, warum an jenem Morgen 1.500 Polizisten, Nationalgardisten und Beamte des Geheimdienstes Sebin ihre und zwei anliegende Siedlungen stürmten. Auf Anordnung des Präsidenten Nicolás Maduro, habe man ihnen gesagt. Mehr nicht. "Aber wir sind keine Kriminellen und keine Oppositionellen", betont León.

Im Gegenteil, die meisten seien früher Chavisten gewesen, Anhänger des 2013 verstorbenen linken Präsidenten Hugo Chávez. Dessen Nachfolger sprach jedoch nach dem Einsatz von ­einem erfolgreichen Schlag gegen paramilitärische Gruppen. Für Maduro war die Räumung eine weitere von vielen erfolgreichen "Operationen zur Befreiung des Volkes" (OLP), mit denen die sozialistisch genannte Regierung seit zwei Jahren verschärft gegen vermeintliche Verbrecherbanden vorgeht. So will sie die ausufernde kriminelle Gewalt in Venezuela bekämpfen.

Kritiker der Regierung bezweifeln jedoch, dass die OLP nur Kriminelle im Visier haben. Weil sich viele wegen der Wirtschaftskrise Lebensmittel nicht mehr leisten können und das Gesundheitssystem kollabiert ist, nimmt auch in den armen Vierteln, den ehemaligen Hochburgen der Chavisten, der Widerstand gegen Maduros Politik zu. Immer wieder liefern sich Regimekritiker und -anhänger Straßenschlachten, bei denen seit Anfang des Jahres 124 Menschen ums Leben kamen. Die Regierung reagiert repressiv: Über 5.000 Menschen wurden inhaftiert, der für Menschenrechte zuständige UN-Hochkommissar Said Raad al-Hussein spricht von Folter.

Die von Gefolgsleuten Maduros gebildete Verfassungsgebende Versammlung baut zudem systematisch demokratische Rechte ab. So entmachtete das im Juli wahrscheinlich durch Wahlbetrug neu zusammengesetzte Gremium das von Regimegegnern dominierte Parlament.

Angesichts dieser Zuspitzung geht Rafael Uzcáteguí von der Menschenrechtsorganisation Provea davon aus, dass die "Operationen zur Befreiung des Volkes" vor allem gegen den wachsenden Widerstand eingesetzt werden. "Es gibt mittlerweile zahlreiche OLP in Armenvierteln, in denen es zu Protesten kam", sagt er. Uzcáteguí spricht von Hinrichtungen, Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluss, Diebstahl und vielen willkürlichen Festnahmen. "Nur eine von zehn betroffenen ­Personen musste sich vor Gericht verantworten, neun konnte nicht einmal ein kriminelles Delikt vorgeworfen werden", so der Aktivist.

Auch Emily León saß hinter Gittern. 47 Tage lang. Dann konnte ein von ihrer Nachbarschaft finanzierter Anwalt ihre ­Unschuld beweisen. Die Beamten hatten behauptet, sie habe Marihuana gepflanzt, und zum Beweis ein Foto vorgelegt, das ­jedoch nichts belegte. "Sie haben nichts gefunden, das war nur ein Vorwand", ist sie überzeugt. "Bei uns im Viertel gab es ­weder Drogen noch Überfälle oder Morde." Nur sehr ungern spricht die junge Frau vom Gefängnis. "Sie haben mich gezwungen, mich auszuziehen", sagt sie und stockt. "Sagen wir, ich habe die Zeit überlebt."

Emily León steht in La Ensenada, wo früher ihr Haus war, auf Trümmern, über die inzwischen der Dschungel gewachsen ist.

Auf Trümmern. Emily León in La Ensenada, August 2017.

Die OLP haben bereits viele Todesopfer gefordert. So etwa in Ciudad Caríbia. Die urbane Siedlung außerhalb von Caracas wurde einst von Chávez als sozialistische Modellstadt konzipiert. Daran erinnern nur noch eine dunkle Statue des verstorbenen Führers der Bolivarianischen Bewegung und Wandmalereien mit dessen Konterfei. Heute ist Ciudad Caríbia eine von Gewalt gezeichnete Ansammlung mehrstöckiger Häuserblocks, in denen rund tausend Familien leben. Niemand redet öffentlich über das Morden. Denn hier haben Kriminelle das Sagen.

Und Colectivos. Immer wieder gehen diese der Regierung nahestehenden Motorradgangs brutal gegen Oppositionelle und Journalisten vor, häufig rauben sie Passanten aus. Über ihre Aufgabe lassen sie keinen Zweifel. "Die Colectivos übernehmen Caracas, um die Revolution zu verteidigen", heißt es auf Plakaten, die an Häuserwänden kleben und die Silhouette eines bewaffneten Mannes zeigen. Kritiker sprechen von parastaatlichen Gruppen, die für Maduro die Drecksarbeit machten.

Auch in Ciudad Caríbia sind die "Kollektive" nicht nur damit beschäftigt, die günstigen Lebensmitteltüten des staatlichen Ernährungsprogramms CLAP zu verteilen. Um gegen eine Bande vorzugehen, projizierten die militanten Biker im Juni letzten Jahres auf dem Hugo-Chávez-Platz mit einem Videobeamer Fotos vermeintlicher Paramilitärs und Drogenhändler. Wenige Tage später folgte der Einsatz. "Sie trugen Sweatshirts und schwarze Westen, militärische Tarnanzüge, Handschuhe und versteckten ihre Gesichter hinter Masken", erinnert sich eine Anwohnerin.

Gemeinsam mit Nationalgardisten und Geheimdienstlern drangen die Colectivos im Rahmen einer OLP in die Wohnungen der Gebrandmarkten ein und richteten mehrere von ihnen regelrecht hin.

"Diese Leute schossen noch, als die Opfer schon tot waren. Sie feuerten Kugeln auf den Boden und in die Tür, damit es wie eine Konfrontation wirkte."

Ein Bekannter der Opfer

Sechs Menschen starben an diesem Morgen, zehn wurden in das Spezialgefängnis der Sebin El Helicoide gebracht.

Ob die Getöteten tatsächlich einer Bande angehörten, wird wohl nie aufgeklärt werden. Ebenso wenig wie die Fälle der 500 weiteren Menschen, die bei OLP starben. Denn die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega, die die Operationen von Juli 2015 bis März 2017 in einem Bericht dokumentierte, wurde jüngst von der Verfassungsgebenden Versammlung abgesetzt. Die regierungskritische Juristin musste ins Ausland flüchten. "Die Gewaltenteilung ist aufgehoben und Ortegas eingesetzter Nachfolger Tarek William Saab ist nicht unabhängig", sagt Menschenrechtsverteidiger Uzcáteguí. Die an OLP beteiligten Kräfte würden zunehmend zu einer "Besatzungsarmee", um die soziale Kontrolle in den Armenvierteln wiederzuerlangen.

In La Ensenada braucht es keine Kontrolle mehr – die Siedlung liegt in Trümmern. Immerhin wissen Emily León und Irene González, wie sie ihr Geld verdienen. Die beiden arbeiten als Verkäuferinnen im Einkaufszentrum Los Prócedes. Doch die Angst sitzt tief. "Nach der Räumung mussten alle erst einmal auf der Straße schlafen", berichtet González. Derzeit wohne ihre Familie vorübergehend im Haus eines Freundes. Dann erzählt sie von ihrem Vater, einem Gründer der Siedlung: "Er hat das nicht mehr ertragen. Im Sommer ist er gestorben."

Trotzdem kämpfen die beiden weiter und fordern eine Entschädigung. Zu Chávez’ Zeiten hatte ihre Comunidad staatliche Unterstützung für Selbsthilfe erhalten, um Häuser zu renovieren. Heute ist Eigeninitiative nicht mehr gefragt. Jedenfalls nicht, wenn sie Kritik am Regime übt. Weil er sich für Gerechtigkeit einsetzt, habe man ihm seine Hamburger-Bude in Los Prócedes gekündigt, sagt González’ Ehemann Carlos. Das Einkaufszentrum sei im Besitz des Militärs, andere Ladenbesitzer stünden unter Druck, weil sie renitente ehemalige Bewohnerinnen von La Ensenada beschäftigten. Grund genug für Emily León, vorsichtig zu sein. Aufgeben will sie aber nicht. Trotz der Verantwortung für die Kinder. Sie hofft, eines Tages zumindest Antwort auf diese eine Frage zu bekommen: Warum hat man ihr das alles angetan?

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