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"Irgendwie überlebt"
Symbolträchtiger Ort: Der Ukrainer Rostyk auf dem Maidan in Kiew
© Valeriia Mezentseva
Russland hat Zehntausende ukrainische Kinder deportiert. Die Ukraine spricht von Völkermord. Ein Junge, der fliehen konnte, und ein Vater, der seinen Sohn fast an Russland verloren hätte, erzählen ihre Geschichte.
Aus Kiew und Charkiw von Keno Verseck
Es war mehr Umerziehungslager als Schule, mehr Gefängnis als Internat. Sie mussten morgens nach dem Aufstehen zum Appell antreten und die russische Hymne singen. Wer nicht mitmachte, wurde bestraft.
Rostyk wollte nicht mitmachen. Er verschlief absichtlich. Oder er sagte, er könne kein Russisch und habe Schwierigkeiten, die Sprache zu lernen. Manchmal weigerte er sich einfach so, ohne Begründung.
Er bekam Einträge ins Klassenbuch. Er bekam Ausgangssperren. Der Schulaufseher holte ihn. "Er sagte, ich müsse Russland respektieren", erzählt Rostyk. "Ich habe geschwiegen und weiter verschlafen. Irgendwann kam ich in den Isolator." Das ist eine Art Gefängniszelle für ungehorsame Kinder. Ein kleiner Schulraum mit Pritsche und Toilette, erzählt Rostyk. "Es war jedes Mal für drei Tage. Man sitzt da einfach auf dem Bett und wartet. Bis es vorbei ist."
Systematische Deportation
Ein kalter Winternachmittag in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Rostyslaw Lawrow, kurz Rostyk, 18 Jahre alt, sitzt im Gemeinschaftsraum eines ehemaligen Hotels im Osten der Stadt und erzählt seine Geschichte. Die Lichterkette eines geschmückten Weihnachtsbaums blinkt in wechselnden Farben. Jugendliche unterhalten sich, lachen und fotografieren sich gegenseitig mit ihren Telefonen, einige winken Rostyk zu.
In dem Gebäude wohnen nun Familien und elternlose Kinder aus russisch besetzten Gebieten in der Ukraine. Viele von ihnen waren zuvor von Russ*innen aus ihren Heimatorten deportiert worden, teils in Kinderlager auf die besetzte Krim, teils nach Russland. Sie konnten auf die eine oder andere Weise fliehen und in den freien Teil der Ukraine zurückkehren. Rostyk ist einer von ihnen.
Schon seit Beginn des Kriegs in der Ostukraine und der Annexion der Krim 2014, besonders aber seit der Invasion im Jahr 2022 deportiert Russland systematisch ukrainische Kinder, "russifiziert" sie und gibt sie in Russland zur Adoption frei. Es gibt keine offiziellen Angaben über die Zahl dieser Deportationen, doch es sind wohl Zehntausende Fälle. Vielleicht Hunderttausende. Es ist kein so sichtbares Verbrechen wie der tägliche Bombenterror gegen die ukrainische Bevölkerung, wie die Verwüstung des Landes. Doch es ist ein weiteres schweres Verbrechen, denn Russland raubt der Ukraine das Wertvollste, was sie hat: ihre Kinder, ihre Zukunft.
Rostyk hat das russische Programm der "Russifizierung" durchlaufen. Er hatte Glück. Er war stark, stur, gewitzt und konnte fliehen. Einer von nur wenigen hundert unter Zehntausenden ukrainischen Kindern, die ihre Freiheit zurückerlangen konnten.
Gerade volljährig geworden
In diesen Wintertagen in Kiew ist er gerade volljährig geworden. Ein schmaler, nicht sehr großer und eher schüchterner Junge. Er erzählt seine Geschichte in einfachen Worten, auf Fragen antwortet er meistens kurz. Über die Demütigungen spricht er leise, emotionslos; aber in seiner weichen Stimme liegt ein Ton, der erahnen lässt, dass nichts an seinen Erlebnissen normal war.
Rostyk lebte in der südukrainischen Region Cherson im Dorf Radensk am linken Ufer des Dnipro, zusammen mit seiner Großmutter. Seinen Vater kennt Rostyk nicht. Seine Mutter war seit seiner Geburt immer wieder in psychiatrischer Behandlung und oft in Kliniken, auch, als die russische Invasion begann.
Musste schnell erwachsen werden: Rostyslaw Lawrow, genannt Rostyk (Kiew, Sommer 2024)
© Valeriia Mezentseva
Die Region Cherson wurde im Februar 2022 innerhalb weniger Tage von russischen Truppen besetzt. Die Bilder aus der Stadt Cherson, als wehrlose, unbewaffnete Menschen im Frühjahr 2022 unter Lebensgefahr mit ukrainischen Fahnen gegen die Besatzer protestierten, die auf sie schossen, gingen um die Welt. "Bei uns im Dorf hatten die Leute große Angst", erzählt Rostyk. "In den ersten Wochen ging kaum jemand aus dem Haus." Rostyks Großmutter starb zwei Wochen nach Beginn der Invasion, am 9. März 2022, sie war 66 Jahre alt. Sie habe Diabetes und Herzprobleme gehabt, sagt Rostyk. Hinzu seien die Schrecken des Kriegs und der Besatzung gekommen.
Rostyk organisierte das Begräbnis und blieb allein im Haus. Er habe noch Lebensmittel für einige Wochen gehabt, sagt er. Später habe er für Nachbarn im Dorf gearbeitet und von ihnen Geld oder Essen bekommen. "Ich habe irgendwie überlebt", erzählt Rostyk über diese Zeit.
Treffen in der Psychiatrie
Nach einem halben Jahr, Mitte September 2022, brachte ihn die Besatzungsmacht zunächst zwangsweise nach Cherson, der Gebietshauptstadt am rechten Ufer des Dnipro, in ein Internat. Er sollte dort zur Schule gehen. Die ukrainische Armee startete gerade ihre Offensive zur Rückeroberung der Stadt. Für Rostyk begann eine fast einjährige Leidenszeit. Anfang Oktober transportierten ihn die Besatzungstruppen zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen zurück ans linke Dnipro-Ufer und von dort aus auf die Krim. Sie kamen in ehemalige Kinder-Ferienlager, zunächst nach Jewpatorija, später in die Nähe von Simferopol, schließlich nach Kertsch.
Der Alltag war überall kasernenartig, berichtet Rostyk. Morgens Appelle und das Singen der Hymne. Die Ausgangssperren und das Strafsystem, wenn man sich nicht fügte. Der berüchtigte Militärunterricht, der im Russischen den harmlosen Namen "Grundlagen der Lebenssicherheit" trägt, aber eine Mischung aus Grundausbildung für Soldat*innen und ideologischer Gehirnwäsche ist und in russischen Schulen ab der 5. Klasse stattfindet.
"Es war verboten, Ukrainisch zu sprechen", erzählt Rostyk. "Ich sprach trotzdem manchmal Ukrainisch, dann sagten die Lehrer, hier sei Russland. Und dass die Ukraine bald nicht mehr existieren werde und es ein faschistisches Land sei. Sie sprachen über Waffen. Wir mussten Maschinengewehre auseinander- und wieder zusammenbauen. Wir mussten im Gleichschritt und in Formationen marschieren."
"Daraufhin kam ich in den Isolator"
Immer wieder bekam Rostyk russische Dokumente vorgelegt, die er unterschreiben sollte – eine Geburtsurkunde, ein Einbürgerungsdokument, den Antrag auf Ausweispapiere. "Ich habe gesagt, ich unterschreibe das nicht. Und dass ich in die Ukraine will. Einmal habe ich die Dokumente, die sie mir vorgelegt haben, zerrissen. Daraufhin kam ich in den Isolator."
Um Rostyk zu zwingen, die Dokumente zu unterschreiben, wurde er schließlich sogar zu seiner Mutter gebracht. Sie war inzwischen aus einem Krankenhaus in Cherson in eine Psychiatrie in der Stadt Dschankoj im Norden der Krim gebracht worden. Es war im Spätsommer 2023, man habe ihm eines Morgens mitgeteilt, dass er seine Mutter sehen werde und dass er Dokumente bekäme.
Zehn Minuten habe das Treffen in der Psychiatrie gedauert, sagt er. "Meine Mutter hat überhaupt nicht begriffen, wo sie ist", erzählt Rostyk, "und sie hat auch nicht richtig verstanden, dass Krieg herrscht." Wie über alles, spricht er auch über diese Episode schwer vorstellbarer psychischer Grausamkeit in kurzen, einfachen Worten und mit leiser, weicher Stimme. "Ich habe nichts unterschrieben", sagt Rostyk.
Er hatte zwei Telefone, eins nahmen sie ihm in den Lagern zur Strafe immer wieder weg. Das zweite konnte er verstecken, erzählt Rostyk, Durchsuchungen habe es zum Glück nicht gegeben. Und dank dieses zweiten Telefons konnte er die ukrainische Organisation Save Ukraine kontaktieren. Sie ist maßgeblich an den Rückführungen von ukrainischen Minderjährigen aus den besetzten Gebieten und aus Russland beteiligt.
Details über seine Rückkehr in die Ukraine will Rostyk nicht preisgeben, um weitere Rückführungen nicht zu gefährden. "So viel kann ich sagen: Ich habe eine Möglichkeit gefunden, aus Kertsch wegzukommen und in die freie Ukraine zurückkehren", sagt Rostyk.
Rostyk ist eines von bisher knapp 400 Kindern, die zurückkehren konnten. Die ukrainischen Behörden kennen 20.000 Fälle deportierter, namentlich bekannter und bisher nicht zurückgekehrter Kinder, gehen jedoch von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. Maria Lwowa-Belowa, die Kinderbeauftrage des russischen Präsidenten Putin, sprach im Sommer 2023 von 700.000 Kindern, die aus der Ukraine nach Russland gebracht worden seien. Der Internationale Strafgerichtshof erließ deswegen gegen Putin und Lwowa-Belowa einen internationalen Haftbefehl.
Ukrainische Menschenrechtsaktivist*innen stellen die Kinderdeportationen in einen Zusammenhang mit Völkermord. Eine von ihnen ist die Historikerin Olha Skrypnyk. Sie leitet die Menschenrechtsorganisation Crimean Human Rights Group und musste 2014 kurz nach der Annexion der Krim fliehen. "Was mit den ukrainischen Kindern in den besetzten Gebieten geschieht, ist genau geplant", sagt Skrypnyk. "Russland kann alles ändern, Namen, Familiennamen, Geburtsort und -datum, sodass die Ukraine keinen Fall mehr nachverfolgen kann. Bei älteren Kindern gibt es noch eine Chance, sie zurückzugewinnen, aber kleinere Kinder sind für die Ukraine praktisch verloren, weil sie stark indoktriniert sind oder sich nicht mehr erinnern. Das ist eine Politik des Genozids."
Auch Denis Derewjanko hätte seinen Sohn fast verloren. Der 43-Jährige stammt aus der nordostukrainischen Frontstadt Kupjansk und ist Informatiker. Seine Ehefrau Jewhenija wurde im September 2022 von russischen Soldaten ermordet, als sie mit dem gemeinsamen Sohn Pawel aus dem umkämpften Kupjansk flüchtete. Pawel, damals zehn Jahre alt, überlebte schwer verletzt. Russische Soldaten brachten ihn in die seit 2014 besetzte Stadt Luhansk, später kam er nach Südrussland.
Ständiger Beschuss
Denis Derewjanko sitzt im Arbeitszimmer seines Wohnhauses in Charkiw. Die ostukrainische Metropole wird seit Februar 2022 nahezu ununterbrochen mit Raketen, Gleitbomben und Artillerie beschossen, keine andere ukrainische Großstadt hat so viele Zerstörungen erlebt. Doch an diesem Nachmittag ist es ruhig. Derewjanko hat weiche Gesichtszüge. Er erzählt seine Geschichte offen, ohne zu zögern, mit fester Stimme. Man hört keinen Schmerz und keine Verbitterung heraus. Nur an einigen Stellen antwortet er auf Fragen zu schnell, dass er sich nicht erinnere. Er klingt dann, als sei die Erinnerung zu schrecklich, um darüber zu sprechen.
Schreckliche Erinnerungen: Denis Derewjanko, Charkiw im Frühjahr 2024
© Keno Verseck
Zu Beginn der russischen Invasion wurde Kupjansk überrannt. Denis, Jewhenija und Pawel lebten einige Monate unter russischer Besatzung. Bei der Befreiung der Stadt Anfang September 2022 wurde die Familie getrennt, Denis befand sich auf der befreiten Westseite der Stadt, seine Frau und der Sohn waren auf der noch umkämpften Ostseite, am anderen Ufer des Flusses Oskil. Während der Gefechte, die mehrere Wochen dauerten, flohen Jewhenija und Pawel Ende September in einem Autokonvoi aus der Stadt, in Richtung Südosten.
Auf einer Landstraße wurden die Autos von russischen Soldaten regelrecht zersiebt. Denis Derewjanko zeigt auf seinem Telefon einige Bilder, die nach dem Angriff aufgenommen wurden. Die Autos sind zerschossen, teils ausgebrannt, auf einigen sieht man verkohlte Körper und die Leichen Erschossener. Insgesamt starben bei dem Angriff 24 Menschen, darunter zwölf Kinder.
Noch am Abend bekam Derewjanko von Bekannten die Nachricht, dass seine Frau tot sei und sich sein Sohn in einem Krankenhaus in Luhansk befinde. Auf die Frage, was er in dem Augenblick gedacht habe, sagt er, er wisse es nicht mehr. Er schluckt und blickt zur Seite. "Am nächsten Tag ist es mir gelungen, im Krankenhaus in Luhansk anzurufen", erzählt Derewjanko. "Mir wurde gesagt, dass mein Sohn dort sei, aber ich durfte nicht mit ihm sprechen."
"Wir sprechen nicht über das, was passiert ist"
Da er als Wehrpflichtiger die Ukraine nicht verlassen durfte, reiste seine Schwiegermutter über Polen, Lettland und Russland in die besetzte Ostukraine nach Luhansk. Sie durfte ihren Enkel besuchen, ihn aber nicht mit in die Ukraine nehmen. Pawel war an einem Bein und an einer Hand schwer verletzt. Nach einigen Wochen wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und in ein Sanitätsheim in Jeisk in Südwestrussland verlegt. Seine Großmutter reiste ihm hinterher. Ende November 2022, erzählt Derewjanko, habe sie ihren Enkel einfach genommen und sei in Richtung Lettland gereist. Die Grenze hätten die beiden ohne weitere Nachfragen passieren können.
Seitdem wohnt Pawel bei seiner Großtante, der Schwester seiner Großmutter, in Tschechien. Denis Derewjanko möchte vorerst nicht, dass sein Sohn nach Charkiw zurückkommt. Als Witwer und einziger Elternteil eines Minderjährigen ist er nicht mehr wehrpflichtig und kann ins Ausland reisen und seinen Sohn besuchen. "Wir sprechen nicht über das, was passiert ist, aber er bekommt psychologische Hilfe", sagt Derewjanko. "Anfangs war er sehr verschlossen. Inzwischen geht es ihm besser, wir spielen viel, wenn ich dort bin, und er hat dort Freunde."
Und er selbst? Denis Derewjanko hat nicht nur seine Frau verloren. Sein Schwager wurde im Konvoi ermordet. Und sein Vater ist erblindet, denn er musste wegen der Besatzung von Kupjansk auf eine Augenoperation verzichten. "Ich mag nichts planen. Ich weiß nicht, wie es weiter geht", sagt Derewjanko.
Rostyk fotografiert gerne
Die Mitarbeiter*innen von Save Ukraine kennen Hunderte solcher Geschichten. Auch Olha Jerohina. Sie hat lange für die Organisation gearbeitet. Sie hat sich um Rostyk gekümmert und hält noch immer Kontakt zu ihm. Jerohina ist Philologin und stammt aus Mariupol, jener Stadt in der Südostukraine, die im Frühjahr 2022 zum Symbol totaler russischer Vernichtung wurde. Auch Olha Jerohina nennt die Deportationen ukrainischer Kinder durch Russland einen Genozid. Sie weiß, dass es kaum Chancen gibt, die Mehrheit der Kinder zurückzubringen. Aber "wenn wir eine Zukunft haben wollen, müssen wir ihnen helfen, zu überleben und zurückzukommen".
Wenn sie Rostyk trifft, schaut sie ihn liebevoll an. "Rostyk ist sensibel, aber auch sehr stark", sagt sie. "Nicht jeder kann solchem Druck standhalten, wie er ihn erlebt hat. Er hat Widerstand geleistet. Aber das, was er erlebt hat, geht sehr tief, und es braucht viel Zeit, um das zu überwinden."
Ein Sommertag am Stadtrand von Kiew. Rostyk wohnt inzwischen in einem neu erbauten Wohnheim von Save Ukraine, zusammen mit drei anderen Jungen, die ebenfalls aus den besetzten Gebieten stammen. Aus Sicherheitsgründen soll der genaue Ort nicht genannt werden. Auf Rostyks Bett liegt ein Plüschtier. Rostyk lächelt, wenn er spricht. Er hat viele Pläne für die Zukunft.
Schon seit Langem fotografiert er gern. Zu seinem Geburtstag hat ihm Save Ukraine einen Kurs in digitaler Fotografie geschenkt. Im Herbst wird er ein Fotografiestudium an einer Hochschule in Kiew beginnen. Er arbeitet an einem Buch über deportierte Kinder. Es ist ein Projekt von Save Ukraine. Eine junge Journalistin, die ihren kleinen deportierten Bruder aus Russland geholt hat, führt die Interviews, Rostyk macht die Fotos.
Auch wenn er lächelt, macht er oft einen nachdenklichen Eindruck. Er würde gern etwas über seine Mutter wissen. Seit jenen erzwungenen zehn Minuten im Spätsommer 2023 hat er nichts mehr von ihr gehört.
War für ihn immer klar, wo er hingehört? Und was hat ihm die Kraft für seinen Widerstand gegeben? Rostyk überlegt sehr lange. Dann sagt er: "Naja, alles was sie in den Lagern mit uns gemacht haben … Für mich ist Russland etwas Schlechtes. Ich habe im Lager gemerkt, dass die Ukraine meine Heimat ist. Dass ich hier geboren bin. Und dass ich hier leben möchte."
Keno Verseck ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.