Amnesty Journal Ukraine 25. Oktober 2024

Zwischen den Fronten

Ein schwer verletzter Soldat, dessen Kopf halb verbunden ist, liegt in einem Krankenbett in einem mobilen Lazarett, das einem Bus ähnelt; ein anderer Soldat kümnmert sich um ihn, notiert etwas auf einem Klemmbrett-Zettel.

Ukraine: Evakuierung schwer verletzter Soldaten von der Front, April 2024

Amnesty dokumentiert seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, die dort verübt werden. Die Recherchen sollen dabei helfen, mutmaßliche Täter*innen eines Tages zur Rechenschaft zu ziehen.

Von Ralf Rebmann

Ersatzakkus für Smartphone und Laptop, einen Reservekanister Benzin für das Auto. Außerdem Verpflegung und Wasser, eine kugelsichere Weste und einen Helm. Bevor Amnesty-Expertin Anna Wright mit ihrem Team zu einer Recherchereise an die umkämpfte Front in der Ostukraine aufbricht, muss viel ­geplant werden – auch um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. "Wir haben an jedem Einsatzort Ansprechpartner*innen, die uns mit Informationen versorgen: Wie war die Nacht? Ist es sicher? Sind die Menschen bereit, mit uns zu sprechen?", sagt Wright, die aus der ukrainischen Stadt Donezk stammt und in Großbritannien lebt.

Sie arbeitet seit Mai 2023 im Amnesty-Regionalbüro Osteuropa und Zentralasien in London und ist verantwortlich für die Arbeit zur Ukraine, zu Belarus und Moldau. In der Ukraine sammelt die Ermittlerin beispielsweise Aussagen von Augenzeug*innen, die Menschenrechtsverletzungen durch russische Truppen ­erlebt haben. Sie spricht mit Betroffenen, mit Vertreter*innen von Behörden, schaut sich die Überreste zerbombter Schulen oder anderer ziviler Gebäude an und macht Fotos. "Unsere Aufgabe ist es, die Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, um später Beweise zu haben", sagt sie. "Der Krieg in der Ukraine ist noch nicht vorbei. Jeden Tag sterben Menschen. Täglich werden Städte zerstört". 

Mediale Aufmerksamkeit lässt nach

Mehr als zwei Jahre nach Beginn der russischen Invasion hat die mediale Aufmerksamkeit nachgelassen. Dabei wird entlang der Frontlinie im Osten und Süden der Ukraine noch immer heftig gekämpft. So zum Beispiel um die Stadt Charkiw, die nur 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Sie ist seit Mai 2024 verstärkt Ziel russischer Angriffe. Die Bomben treffen Wohnhäuser oder Einkaufszentren in dicht besiedelten Gebieten. "Noch während die Rettungsarbeiten laufen, folgt der zweite Angriff, der gezielt noch mehr Menschen tötet", sagt Wright. Möglicherweise handele es sich dabei um Kriegsverbrechen.

Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden in der Ukraine seit Beginn des Kriegs bis Ende Mai 2024 mindestens 11.000 Zivilpersonen getötet. Darunter waren mehr als 600 Kinder. Fast 22.000 Menschen wurden durch Bomben, Raketen, Minen und andere Waffen verletzt. Die UNO geht davon aus, dass die Zahl der zivilen Opfer deutlich höher ist. Verlässliche Informationen gibt es nicht.

Amnesty hat in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche Berichte veröffentlicht, die systematische Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen russischer Truppen in der Ukraine belegen: Dazu ­gehören Folter, rechtswidrige Tötungen und außergerichtliche Hinrichtungen von Zivilpersonen; die Verschleppung von Zivilpersonen in den besetzten ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk sowie systematische Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine.

Hohe Erwartungen an Amnesty

Amnesty hat auch die Situation der Ukrainer*innen in den von Russland besetzten Gebieten untersucht. "Die Menschen dort haben immer weniger Frei­heiten. Zivilpersonen werden willkürlich inhaftiert, weil die Besatzungsbehörden ihnen Verbindungen zu ukrainischen ­Behörden oder Streitkräften vorwerfen", sagt Wright. Ein Amnesty-Bericht vom Dezember 2023 dokumentiert, wie die russischen Besatzungsbehörden ukrainische Schulkinder indoktrinieren und Lehrer*innen und Eltern einschüchtern. In ­einer weiteren Recherche untersuchte Amnesty die Situation der älteren Bevölkerung in der Ukraine. Das Risiko, bei russischen Angriffen verletzt oder getötet zu werden, ist für sie ­besonders hoch. Zudem fehlt es an an­gemessenen Unterkünften und Pflege­einrichtungen.

Jeden Tag aufzuwachen und zu wissen, dass du, deine Kinder, deine Familie und deine Freunde getötet werden könnten, ist eine wahnsinnige Realität.

Veronika
Velch
ukrainische Amnesty-Sektion
Eine Frau sitzt auf einer Couch, ihre Haare fallen ihr auf die Schultern, sie trägt ein T-Shirt, Ohrringe und eine Halskette.

Veronika Velch, Direktorin der ukrainischen Amnesty-Sektion

Trotz dieser Recherchen hat das Vertrauen in Amnesty gelitten. Auslöser war eine Pressemitteilung vom 4. August 2022, in der die Organisation kritisierte, dass ukrainische Truppen zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser oder Schulen gezielt als Militärposten nutzten und damit die eigene Zivilbevölkerung gefährdeten. Die Veröffentlichung löste international heftige Kritik aus, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Amnesty vor, mit der Veröffentlichung "Opfer und ­Täter gewissermaßen auf eine Stufe gestellt" zu haben. Die damalige Direktorin der ukrainischen Amnesty-Sektion, Oksana Pokalchuk, kritisierte die Veröffentlichung des Internationalen Amnesty-Sekretariats in London und trat zurück. Amnesty leitete auf internationaler Ebene eine Untersuchung ein, die aus einer völkerrechtlichen Analyse, der Auswertung interner Abläufe sowie daraus abgeleiteten Empfehlungen bestand.

"Die Menschen in der Ukraine waren enttäuscht, weil sie Unterstützung und Hilfe erwarteten", sagt Veronika Velch, die Nachfolgerin von Oksana Pokalchuk. Seit April 2024 leitet die Kommunikationsexpertin die ukrainische Amnesty-Sektion. Velch hat jahrelang in Washington gelebt und dort zu Menschenrechten und Krisen gearbeitet. "Krisen sind auch Momente, um etwas Neues aufzubauen", sagt sie.

Kita im Luftschutzbunker

Die Erwartungen an die ukrainische Amnesty-Sektion sind hoch. Gleichzeitig erschweren die Angst vor weiteren Angriffen und die ständigen Stromausfälle die Arbeit vor Ort, erzählt Velch. In den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in Kiew habe sie keine Nacht gut geschlafen. "Jeden Tag aufzuwachen und zu wissen, dass du, deine Kinder, deine Familie und deine Freunde getötet werden könnten, ist eine wahnsinnige Realität." Es seien "surreale Momente", wenn sie ihren einjährigen Sohn aus dem Luftschutzbunker der Kita abholen müsse. Ihr Ehemann ist der ukrainische Filmemacher Oleg Sentsov, für dessen Freilassung sich Amnesty eingesetzt hatte, als er sich in russischer Haft befand. Velch sieht ihren Mann kaum, er kämpft für die ukrainische ­Armee an der Front.

Velch möchte vor allem eine Stimme für die Ukrainer*innen sein. "Wir müssen präsent sein und unsere Arbeit machen", sagt sie. Es gebe viele wichtige Themen zu bearbeiten. Dazu gehöre auch, dass viele Ukrainer*innen in den Militärdienst einberufen werden. "Zivilpersonen treten quasi über Nacht in ein neues Verhältnis zum Staat. Wenn ihre Anliegen nicht gehört werden, kann das zu Problemen führen", sagt sie. Gemeinsam mit anderen Menschenrechtsorganisationen will sie sich dafür stark machen, dass die Ukraine "Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte als wichtigste Werte im Land erhält und nicht für vermeintlich mehr Sicherheit aufs Spiel setzt". Weil Amnesty eine große internationale Menschenrechtsorganisation sei, könne sie der ukrainischen Bevölkerung Gehör verschaffen und deren Menschenrechte stärken. Dies trage auch dazu bei, das Vertrauen in Amnesty zu stärken.

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