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Die Mechanismen der Selbstzensur

Der türkische Staat setzt Kunst- und Kulturschaffende willkürlichen Repressionen aus.
Aus Istanbul Sabine Küper-Büsch
Der Kunstraum depo liegt im Istanbuler Innenstadtviertel Tophane. Das ehemalige Tabakwarenlager stammt aus dem Familienbesitz Osman Kavalas. Der Mäzen stellt das zentrale, dreistöckige Gebäude seit mehr als einem Jahrzehnt für Ausstellungen und andere Kulturveranstaltungen zur Verfügung. Das künstlerische Programm rankte sich ursprünglich vor allem um Menschenrechts- und Minderheitenthemen. Innovative, politische Dokumentarfilme hatten dort ein Stammpublikum. Heute beschränken sich die Aktivitäten auf wenige Einzelausstellungen von Künstlern mit weniger politischen Konnotationen.
"Ich war immer ein strikter Gegner von Militärinterventionen", sagte der Geschäftsmann und Kulturförderer Osman Kavala zum Auftakt eines neuen Verfahrens gegen ihn am 18. Dezember 2020. Mit fester Stimme wies er die Vorwürfe zurück, Drahtzieher des Putschversuches im Jahr 2016 gewesen zu sein. Die türkischen Behörden werfen Kavala Landesverrat vor, im Falle einer Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. Seit mehr als drei Jahren sitzt er in Untersuchungshaft. Im Februar 2020 sprach ihn ein Gericht von dem Vorwurf frei, Drahtzieher der Gezi-Proteste im Jahr 2013 gewesen zu sein, bevor er sich mit neuen, noch unglaublicheren Vorwürfen konfrontiert sah. Kavalas Anwälte bezeichnen die gesamte Anklage als Verschwörungstheorie.
Republikanische Geschichte umdeuten
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den Mäzen bereits bei der Festnahme als "roten Baron" bezeichnet, der ein "Handlanger dunkler Mächte" sei. Zu den dunklen Mächten zählen nach Auffassung der türkischen Justiz etwa der amerikanische Milliardär George Soros und die CIA. Kavala betonte bei der Anhörung im Dezember, die von Soros finanzierte Open Society Foundation, deren Berater er war, habe in der Türkei als eingetragener Verein jahrelang legal Förderprogramme zur Stärkung der Zivilgesellschaft finanziert. Die Verhandlung wurde vertagt. Einen Antrag auf Haftentlassung lehnte das türkische Verfassungsgericht am 29. Dezember ab, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits ein Jahr zuvor entschieden hatte, Kavala müsse umgehend freigelassen werden.
Der Fotograf Mehmet Kaçmaz spricht von einer Farce der türkischen Justiz und sieht in Kavala einen Sündenbock des Präsidenten. "Von der AKP kann man mittlerweile nicht mehr als Partei sprechen, es gilt dort und in der Regierung nur noch die Stimme eines Mannes, der alles entscheidet." 2023 ist der 100. Jahrestag der Republik, bis dahin wolle Recep Tayyip Erdoğan die republikanische Geschichte umdeuten, meint Kaçmaz. Der niedergeschlagene Putschversuch 2016 habe da eine unheilvolle Rolle zugewiesen bekommen, habe als eine neue Form des türkischen Befreiungskampfes zu dienen, wie der von Mustafa Kemal Atatürk geführte Unabhängigkeitskrieg gegen das kolonialistische Europa.
Die letzten Biotope
Kaçmaz selbst arbeitet derzeit an einer Dokumentation der ökologischen Auswirkungen des geplanten Milliardenprojektes "Kanal Istanbul". Das Bauprojekt soll das Schwarze Meer und das Marmara-Meer miteinander verbinden. "Es geht mir darum, mit meinen Fotos zu zeigen, dass die letzten Biotope um Istanbul herum in Gefahr sind." Bis November war Kaçmaz Mitglied des unabhängigen Nar-Kollektivs, einer Gruppe von Fotografen, die sowohl in der Türkei als auch international für hervorragende politische Dokumentarfotografie bekannt war.
Während der Gezi-Proteste zeigten die Fotografen im depo Istanbul-Landschaften. "Eine Aussicht für eine Million", hieß die Ausstellung, deren Konzept genial war: Die Fotografen waren mit städtischen Bussen bis zu den Endhaltestellen gefahren und hatten dort, in der Peripherie der 16-Millionen-Metropole, ein Istanbul fotografiert, das fast niemand kennt. Eine Stadt, die in Baustellen versinkt. Trabantensiedlungen, die ohne jede Infrastruktur in der Landschaft stehen, um die Migranten aus anderen Teilen des Landes aufzunehmen, die nach Istanbul strömen. Auf einem Foto sitzt ein alter Mann auf einem zerlumpten Sessel auf einem Acker und blickt verloren auf ein Hochhausmeer. Sogar im Istanbul Modern, einem Museum für zeitgenössische Kunst, stellten die Nar-Fotografen aus, doch das Kollektiv hat sich inzwischen aufgelöst. "Es war irgendwie die Luft raus", sagt Kaçmaz. Seine Arbeit setzt er seither als unabhängiger Fotograf fort.
Die neue Günstlingswirtschaft
Diese Entwicklung ist exemplarisch für das vergangene Jahrzehnt. Als Istanbul 2010 Kulturhauptstadt Europas war, entdeckte die türkische Regierung, welches Potenzial Kultur hat, um Menschen zu mobilisieren. Doch was damals als liberale Kulturförderungspolitik in Zusammenarbeit mit der EU begann, ist längst in Günstlingswirtschaft und Repression Andersdenkender umgeschlagen. Inzwischen müssen die Kulturschaffenden ständig mit Strafverfolgung und Zensur rechnen. "Der Bewegungsradius wird immer enger", sagt der kurdisch-deutsche Maler Mahmut Celayir und nippt an seinem Teeglas. Er hat ein Atelier in der Nähe des Galataturmes im Istanbuler Stadtviertel Beyoğlu. An einer Wand der Altbauwohnung lehnen großformatige abstrakte Bilder. Celayir beschäftigt sich seit Jahren mit der Landschaft seiner Heimat Bingöl in Ostanatolien, mal in plakativ farbigen, mal in düsteren Nuancen. Das politische Klima fließt immer wieder in seine Malerei ein.
Den Sommer hat Mahmut Celayir nicht nur wegen der Pandemie in den Bergen von Bingöl verbracht. "Ich habe mir eine Zeitlang den Luxus gegönnt, nur noch zu malen, und die aktuellen Entwicklungen nur am Rande zu verfolgen." Es vergeht kein Tag, an dem nicht Nachrichten über Repressionen gegen die Medien- und Kulturszene die Online-Netzwerke beschäftigen. Künstler und Medienschaffende werden angeklagt oder gar festgenommen, weil sie den Präsidenten, die Werte des Volkes oder die der Nation beleidigt haben sollen. "Das Ganze wirkt von außen oft wie eine Posse", meint Celayir, "aber die Konsequenzen für den Einzelnen sind oft dramatisch, und die Wirkung auf das politische Klima ist absolut toxisch". Die Atemschutzmasken gegen das Coronavirus erscheinen dem Künstler in diesen Tagen daher auch als ein Symbol für eine Gesellschaft, die politisch nach Atem ringt.
Willkür als Druckmittel
So verbot etwa der für den Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpaşa zuständige Staatsbeamte am 13. Oktober dem dortigen Stadttheater eine Vorstellung der kurdischen Theatergruppe "Teatra Jiyana Nû" (Neues Leben). Sie wollte unter dem kurdischen Titel "Bêrû" (Gesichtslos) eine Adaption der Komödie "Hohn der Angst" von Dario Fo aufführen. Momentan könne niemand wirklich einschätzen, was toleriert werde und was nicht, sagt Celayir. "Willkür ist immer das stärkste Druckmittel, weil es bei vielen die Mechanismen der Selbstzensur auslöst."
Im November wiederum zeigte der kleine unbekannte Ausstellungsort Kiraathane Edebiyat Evi eine hervorragende Ausstellung mit Arbeiten der kurdischen Künstlerin Zehra Doğan. Sie entstanden zwischen 2016 und 2019 in verschiedenen Gefängnissen in der Türkei. Die Künstlerin fertigte mit einem aus ihren Haaren gefertigten Pinsel eindrucksvolle Bilder, die die Repression in verschiedenen Provinzen an der Grenze zu Syrien und dem Irak zum Thema haben. Rollende Panzer, verzweifelte Frauen. Impressionen, die sie mit Tee, Kaffee, Abfallstoffen und Blut auf verschiedenen Tüchern, Laken, Kleidern, Handtüchern und Taschentüchern festhielt, die ihre Mutter ihr in das Gefängnis schickte. Mittlerweile lebt Zehra Doğan im Ausland. In der Türkei läuft ein Strafverfahren gegen sie wegen staatsfeindlicher Aktivitäten.
Sabine Küper-Busch ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.