Amnesty Journal 26. Juli 2018

Fremd im eigenen Land

Eine Frau mit Albinismus berührt mit ihrem Gesicht eine weiße Muschel, die ihr von einer schwarzen Hand gereicht wird

Den Blicken ausgeliefert. Florence Kisombe beim Shooting von "Stranger in a Familiar Land" 2016 in Nairobi.

In Tansania und Malawi ist das Leben von Menschen mit Albinismus bedroht, weil ihren Körperteilen magische Kräfte zugeschrieben werden.

Von Tabea Gleiter, Julia Kleinewiese und Fabian Vehlies

Eine junge Frau steht verloren vor Blechhütten in Kibera, einem Stadtteil der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Passanten starren sie an – sie scheint nicht dazuzugehören. Im Schatten sucht sie Schutz vor der starken Sonne, ihre helle Haut verdeckt sie mit einem weißen Tuch.

Die Fotos des kenianischen Fotomodells Florence Kisombe wurden von der ugandischen Künstlerin Sarah Waiswa aufgenommen. In ihrer Reihe "Stranger in a Familiar Land" hat sie die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen mit Albinismus in den Mittelpunkt gerückt. Fremd in einem vertrauten Land, so fühlen sich viele afrikanische Menschen mit Albinismus, denn sie werden nicht nur diskriminiert, sie müssen ­sogar um ihr Leben fürchten.

In Tansania und Malawi etwa hält sich hartnäckig der Aberglaube, dass Menschen mit Albinismus Geister seien, die nicht sterben, sondern lediglich verschwinden können. Ihren Körperteilen sprechen Wunderheiler magische Kräfte zu, die in Zaubertränken und Amuletten verwendet für Glück, Wohlstand und Macht sorgen sollen. Menschen mit Albinismus sind deshalb stark gefährdet: In Tansania sind es etwa 33.000, in Malawi etwa 10.000, die in ständiger Furcht vor Ermordung, Entführung und Verstümmelung leben müssen. Häufig sind Frauen und Kinder die Opfer; nicht selten beteiligen sich nahe Verwandte an den Angriffen. Nach der Geburt eines Kindes mit ­Albinismus verlassen viele Ehemänner ihre Frauen; Säuglinge werden ausgesetzt oder aus Scham und Furcht versteckt, bisweilen jahrelang.

Zu den häufigsten Straftaten gehört die Schändung von Gräbern, um an Körperteile zu gelangen, die teuer verkauft werden können. 75.000 US-Dollar werden nach UN-Angaben für einen ganzen Körper bezahlt. Laut der kanadisch-tansanischen NGO Under The Same Sun, die sich für den Schutz von Menschen mit Albinismus einsetzt, wurden in Tansania in den vergangenen Jahren 180 Angriffe registriert, davon waren 76 Morde.

Um den Aberglauben zu bekämpfen und weitere Gewalttaten zu verhindern, klärt Under the Same Sun in Seminaren darüber auf, dass es sich bei Albinismus um eine genetische Störung der Pigmentierung von Haut, Haaren und Augen handelt, die weder an Geschlecht noch ethnische Herkunft gekoppelt ist und nur vererbt wird, wenn beide Eltern das Gen in sich tragen.

In Malawi hat in den vergangenen Jahren die Armut zugenommen und in der Folge auch die Kriminalität. Dies hat dazu geführt, dass auch die alten Mythen von den magischen Kräften der Menschen mit Albinismus wieder aufleben. Vor allem außerhalb der Erntezeit, wenn es keine Arbeit gibt und Hunger herrscht, lassen sich arme Menschen dafür bezahlen, die begehrten Körperteile zu beschaffen.

Die Aufträge kommen von einflussreichen Kunden, die sich davon schnellen Erfolg und Reichtum erhoffen. Medizinmänner und kriminelle Banden profitieren von der Nachfrage. Auch wenn sich die überwiegende Mehrheit der traditionellen Heiler deutlich von den Taten distanziert, beschert sie einigen von ihnen lukrative Geschäfte – und das bei geringem Risiko, denn kaum ein Angreifer kommt vor Gericht. Obwohl sich die Regierung bemüht, die Verbrechen aufzuklären, bleiben die Ressourcen von Polizei und Justiz begrenzt. Nicht einmal jeder dritte Fall wird erfolgreich abgeschlossen. Hinzu kommt, dass Staatsbedienstete und Politiker dem Problem nicht die gebotene Aufmerksamkeit schenken – sei es, weil sie selber Vorurteile hegen, sei es, weil sie in die dunklen Geschäfte verwickelt sind.

Neben der Verbrechensprävention benötigen die betroffenen Menschen aber auch eine bessere medizinische Versorgung: Trotz ihres hohen Hautkrebsrisikos gibt es bislang keinen angemessenen Zugang zu Sonnencreme und ärztlicher Behandlung. Gerade einmal zwei Prozent der Menschen mit Albinismus in Malawi werden vierzig Jahre alt – auch weil es in dem landwirtschaftlich geprägten Land nur wenige Berufe gibt, die ausreichenden Schutz vor der tropischen Sonne bieten. In der Schule können Kinder mit Albinismus durch ihre angeborene Sehschwäche dem Unterricht nur schwer folgen. Ohne Hilfsmittel und Rücksichtnahme der Lehrer sind sie nicht selten gezwungen, die Schule abzubrechen.

Eine, die sich damit nicht abfinden will, ist Annie Alfred. Für das Mädchen aus Malawi setzte sich Amnesty International beim Briefmarathon 2016 ein. "Die Leute nennen mich Geist. Die Leute nennen mich eine Weiße, weil ich Albinismus habe. Aber ich bin genau wie sie – nur mit weißer Haut und weißen Haaren", sagt sie und träumt weiter von einer Karriere als Krankenschwester.

Zwar haben sich die Regierung und der Oberste Gerichtshof von Malawi 2016 verpflichtet, die Straflosigkeit zu beenden. ­Gesetzesänderungen führten dazu, dass Verbrechen besser ­aufgeklärt werden können. Doch die Praxis sieht anders aus: Zwischen Januar 2017 und Juni 2018 sind Amnesty zufolge ­abermals vier Menschen ermordet worden.

Das zeigt, wie wichtig mehr Aufmerksamkeit für Menschen mit Albinismus ist. Auch deshalb gibt es seit 2015 eine unabhängige UN-Expertin für das Thema, die Nigerianerin Ikponwosa Ero. Im Juni fand bereits zum vierten Mal der "Internationale Tag der Aufklärung über Albinismus" statt. Künstlerinnen wie Sarah Waiswa zeigen Menschen mit Albinismus in einem anderen Licht, und auch das Fotomodell Florence Kisombe widersetzt sich in ihren Bildern dem konventionellen Blick – und spielt stattdessen in ihren Accessoires mit Vorurteilen und Diskriminierung. 

Die Autorinnen sind Mitglieder der Amnesty-Hochschulgruppe Kiel.

Weitere Artikel