Amnesty Journal Syrien 21. März 2018

Schulen ohne Syrer

Zwei junge Mädchen und ein Jugedlicher mit ihrem Vater im Wohnzimmer

Alleinversorger. Mohammed (Mitte) im Kreis seiner Familie in Istanbul, Dezember 2017.

Rund 1,3 Millionen syrische Flüchtlingskinder leben in der Türkei. Um zu verhindern, dass eine verlorene Generation entsteht, sollen alle in die Schule gehen. Doch dabei gibt es viele Schwierigkeiten.

Von Maja Weiss und Frank Müller (Fotos), Istanbul

Mohammed, ein schmächtiger Junge mit Bartflaum und großen Augen, nimmt einen Stapel halbfertig genähter Stoffstücke von einem Tisch. Die Näherin, eine ältere Frau, beugt sich vor, deutet mit dem Finger quer durch den Raum und sagt in freundlichem, aber strengem Ton, wohin er sie bringen soll. Mohammeds Familie floh vor zweieinhalb Jahren aus Syrien. Sie zählt zu den rund drei Millionen syrischen Flüchtlingen, die von der Türkei aufgenommen wurden. Rund 1,3 Millionen sind minderjährig.

Mohammed sagt, er sei fünfzehn, doch er wirkt jünger. Zu Anfang hat er Taschentücher, Stifte und Kaugummis auf der Straße verkauft. Seit zwei Monaten arbeitet er in der kleinen Textilwerkstatt im Istanbuler Stadtviertel Ümraniye, einer beschaulichen Arbeiterwohngegend auf der asiatischen Seite. Die Werkstatt liegt ein paar Straßenblöcke entfernt von dem einfachen, mit Kohle beheizten Häuschen, in dem seine Familie ein neues Zuhause gefunden hat. Der Vater ist im Krieg verwundet worden und kann nicht mehr arbeiten. Zusammen mit seiner 14-jährigen Schwester, die ebenfalls in einer Textilwerkstatt arbeitet, versorgt Mohammed die zehnköpfige Familie.

Sieben Jahre, nachdem die ersten Syrer in die Türkei kamen, kämpfen die meisten immer noch mit ökonomischen Problemen. Sie dürfen zwar arbeiten, werden kostenlos medizinisch versorgt und erhalten manchmal Warengutscheine, sind aber ansonsten auf sich allein gestellt. Wenn die Familie viele Kinder hat oder ein Mitglied krank ist, müssen die ältesten oft mitarbeiten. Verlässliche Zahlen gibt es dazu nicht, aber in Istanbul gibt es Tausende dieser kleinen Textilwerkstätten und in fast jeder finden sich Kinder wie Mohammed und seine Schwester.

Immerhin können seine beiden jüngeren Geschwister, Beraa und Fatema, eine Schule besuchen. Es ist eine Koranschule, in der sie auch ein wenig Türkisch, Mathematik und Sachkunde lernen. Allerdings dauert der Unterricht nur drei Stunden am Tag. Ihr Vater, ein freundlicher, großer Mann, möchte sie gern in einer regulären Schule anmelden, aber das ist nicht möglich, weil die Familie nicht in Istanbul registriert ist.

Bisher können Kinder nur dort zur Schule gehen, wo sich die Familie nach ihrer Flucht zuerst angemeldet hat. Dies sind in der Regel Orte nahe der syrischen Grenze. Doch oft ziehen die Familien um, weil es in den großen Städten im Westen der Türkei mehr Arbeitsmöglichkeiten gibt. Den Wohnort in der Registrierung zu ändern, war jedoch bisher kaum möglich.

Um das Problem zu lösen, läuft derzeit ein Programm, das alle Syrer in der Türkei neu erfassen soll. Im Zuge dieser Neu­registrierung können sie ihre Kinder am aktuellen Wohnort an einer staatlichen Schule anmelden. Beraa und Fatema warten noch auf ihren neuen Ausweis, dann können sie im nächsten Halbjahr endlich eine reguläre Schule besuchen. "Inschallah", sagt ihr Vater. "In einer Woche haben wir den Termin."

Ziel der türkischen Regierung ist es, allen syrischen Kindern im schulpflichtigen Alter den Schulbesuch zu ermöglichen. Mehr als eine halbe Million Kinder sollen bereits in Schulen sein. Die Kinderhilfsorganisation Save the Children nennt das einen beachtlichen Erfolg, verglichen mit anderen Gastländern wie dem Libanon und Jordanien. Jedoch bekommen nach offiziellen Zahlen rund 370.000 Kinder im schulpflichtigen Alter noch keinen Unterricht. In der Türkei bestehen normalerweise zwölf Jahre Schulpflicht.

"Die Kapazitäten müssen erweitert werden, um alle Kinder zu erreichen", sagt Selin Altunkaynak von SGDD-ASASM. Die Nichtregierungsorganisation kümmert sich seit mehr als 20 ­Jahren um Flüchtlinge in der Türkei. Im Auftrag des türkischen Staates und in Zusammenarbeit mit den UN unterhält sie spezielle Hilfsprogramme für Syrer.

Altunkaynak zitiert das Beispiel von Şanlıurfa, einer Stadt nahe der syrischen Grenze. Dort und im benachbarten Gaziantep leben besonders viele Syrer. "In Şanlıurfa bräuchte es etwa 100 neue Schulen, um alle Flüchtlingskinder mit zu versorgen, aber im letzten Jahr sind nur 14 Schulen neu eröffnet worden." Manche, die zuvor nur bis zum Mittag unterrichteten, haben nun eine zweite Schicht am Nachmittag eingeführt.

Besonders schwierig ist es, jene Kinder zu erreichen, deren Eltern in der Landwirtschaft und auf dem Bau arbeiten. Sie leben oft in Zeltstädten oder unter der Gnade eines Arbeitsvermittlers in einem heruntergekommenen Gebäude auf dem Land, wo es keine Schule in der Nähe gibt.

In den Regelschulen wiederum bereiten die mangelnden Türkischkenntnisse der Kinder häufig Probleme. Deshalb hatte das türkische Bildungsministerium Interimsklassen geschaffen. Dort lernen sie zunächst Türkisch, damit sie sich anschließend leichter eingliedern können. Das System soll nun auslaufen. Erstklässler werden inzwischen meist direkt regulär eingeschult.

Mohammeds Cousin und Cousine, die in derselben Straße wohnen, besuchen bereits die staatliche Schule in der Nachbarschaft. Doch beide tun sich schwer. Die achtjährige Alaa sitzt auf einem alten grünen Sofa und blättert Zeichnungen in ihrem Schulheft durch. Oft sitzt sie im Unterricht und malt, denn sie versteht kaum, was der Lehrer vorn erklärt. Ihrem Bruder Salih geht es genauso: "Die Lehrerin hat mich ganz nach hinten gesetzt. Da verstehe ich nicht, was sie sagt und kann die Tafel nicht richtig sehen", sagt er. "Und wenn ich etwas frage, dann ignoriert sie mich, weil sie mich nicht versteht."

Bis vor zwei, drei Jahren gab es in der ganzen Türkei zahl­reiche Schulen, die von Syrern selbst gegründet worden waren, geflüchtete syrische Lehrer beschäftigten und an den Lehrplan ihrer alten Heimat anknüpften. Aber die meisten wurden inzwischen geschlossen. Selin Altunkaynak rechtfertigt den Schritt der türkischen Regierung: "Es braucht einen vergleichbaren Standard. Auf absehbare Zeit werden die Flüchtlinge wohl hierbleiben. Um hier zurechtzukommen, ist es grund­legend, dass sie Türkisch lernen."

Viele syrische Eltern sorgen sich seitdem, dass ihre Kinder die Muttersprache verlernen; dazu kommen kulturelle Aspekte. Manche melden ihre Kinder lieber in einer privaten, islamischen Schule an, wo sie zum einen auf Arabisch unterrichtet werden und zum anderen den Koran studieren. Der 14-jährige Amar, ein hochgewachsener, blasser Junge mit ernstem Gesichtsausdruck, geht in eine solche Schule. "Die Religion ist wichtig", findet Amars Vater. "Sie gehört zu unserer Kultur." Die staatlichen Schulen sind jedoch strikt säkular. Amar macht es zwar Spaß, den Koran zu rezitieren und die Inhalte des heiligen Buchs zu verstehen. Aber er würde trotzdem lieber eine ­normale Schule besuchen.

Der 14-jährige redet wie ein Erwachsener. Er besucht die achte Klasse, danach ist hier Schluss, und er muss auf eine andere Schule wechseln. "Der Abschluss ist nicht anerkannt", sagt er. "Muss ich dann in der fünften Klasse nochmal neu anfangen?" Er macht sich Sorgen um seine Zukunft, er will Ingenieur werden. Einer wie er könnte einmal helfen, Syrien wiederaufzu­bauen – wenn er denn die Schule schafft. 

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