Amnesty Journal Bosnien und Herzegowina 21. Februar 2022

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Auf einem metallenen Untersuchungstisch liegen menschliche Knochen und Dreck vom Waldboden, zwei Hände mit Gummihandschuhen einer Person sind gerade dabei, diese Knochen zu untersuchen.

Dragana Vučetić untersucht Knochen, Tuzla, Oktober 2021.

Die forensische Anthropologin identifiziert im ostbosnischen Tuzla die Toten von Srebrenica. Der Überlebende Ramiz Nukić sammelt in den Wäldern Knochen von Ermordeten. Ihre Arbeit ist wichtig für die Aufklärung von Massenmorden.

Von Keno Verseck

Zehntausende menschliche Knochen hat die Anthropologin Dragana Vučetić schon in den Händen gehabt, Tausende Skelette von Ermordeten wieder zusammengesetzt. Sie macht das seit 16 Jahren, empfindet aber keine Routine. Man kann sich nicht an das Grauen gewöhnen, sagt sie.

Diesmal liegen im Untersuchungsraum die Überreste einer Frau, eines kleinen Kindes und eines Säuglings. Sie wurden auf einem Friedhof im ostbosnischen Ort Bratunac gefunden, wenige Kilometer nördlich von Srebrenica. Die drei wurden während des Bosnienkrieges ermordet und verscharrt.

Die Anthropologin zieht ein hellblaues Arbeitshemd an, streift Latexhandschuhe über und schüttet den Inhalt ­eines Plastiksackes vorsichtig auf einen Autopsietisch: ein größerer Schädel, die Hälfte eines kleineren Schädels, Dutzende Knochen, Erd- und Pflanzenreste, ­kleine Textilfetzen. Die Überbleibsel des ­Säuglings sind separat verpackt. Nun muss Vučetić die Knochen sortieren, fotografieren, vermessen, das geschätzte Alter und Geschlecht der Personen bestimmen und eine Entnahme von Knochen-DNA vorbereiten, damit eine Identifizierung der Toten möglich ist.

Vorsichtig beginnt sie, die Knochen zu untersuchen. Sie erkennt, dass es sich bei der erwachsenen Person tatsächlich um eine junge Frau handelt, wohl um die 25 Jahre alt. Bei dem Kind vermutet sie ein Alter von fünf bis sechs Jahren. Stück für Stück ordnet sie die Knochen auf den beiden Autopsietischen an, säubert manche, prüft andere auf mögliche Verletzungen.

Schmerzhaft, aber hoffnungsvoll

Nach zwei Stunden liegen die Knochen jeweils zu einer Skelettform angeordnet. Ernst schaut Vučetić auf die beiden Skelette, während sie ihre Handschuhe abstreift. Es ist ein seltsamer Moment. Schmerzhaft, aber auch hoffnungsvoll: Am Anfang war nur ein Knochenhaufen. Nun liegen dort die Silhouetten zweier Menschen. Vielleicht wird bald klar, wer sie waren und wie sie starben. Nun bekommen sie, Schritt für Schritt, ihre Identität zurück.

Dragana Vučetić, 42 Jahre alt, arbeitet als forensische Anthropologin am Podrinje Identification Project (PIP) in der ostbosnischen Großstadt Tuzla. Dort werden seit 2004 die Opfer des Völkermordes von Srebrenica und die Opfer anderer Massenmorde in Ostbosnien während des Krieges in den Jahren 1992 bis 1995 identifiziert. Das Projekt wurde von der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP) ins Leben gerufen, die 1996 für die verschwundenen Opfer des Bosnienkrieges gegründet worden war und die inzwischen weltweit in Kriegs-, Konflikt- oder Katastrophengebieten tätig ist.

Am PIP Tuzla wurden dank vergleichender DNA-Analysen von Ermordeten und ihren überlebenden Angehörigen bisher rund 7.000 vermisste Personen aus Ostbosnien identifiziert, die meisten von ihnen Opfer des Völkermordes von Srebrenica. Dabei töteten Soldaten der bosnisch-serbischen Armee und Kämpfer aus Serbien, angeführt vom damaligen General Ratko Mladić, im Juli 1995 binnen weniger Tage mehr als 8.000 Menschen, fast ausschließlich bosniakische Männer und Jungen. Es war das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa seit dem Holocaust und dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

 Für Angehörige von unschätzbarer Bedeutung

Die Arbeit des PIP ist von unschätzbarer Bedeutung: Einzig durch sie können Angehörige verschwundener Ermordeter die sterblichen Überreste ihrer Liebsten zurückerhalten und bestatten; oft erfahren sie auch, wo und wie sie getötet wurden. Viele können erst danach mit dem Tod der Angehörigen abschließen – oft nach Jahren oder Jahrzehnten quälender Ungewissheit über das Schicksal ihrer Verwandten. Und die Arbeit des PIP ist auch von internationaler Bedeutung: Die Technologie der Extraktion von Knochen-DNA und der Abgleich mit DNA von Familienangehörigen wurde erstmals in Tuzla eingesetzt und perfektioniert. Sie kommt inzwischen weltweit bei der Identifizierung von Vermissten zur Anwendung.

Eine Frau steht in der Tür eines sehr langen Raumes, in dem Regale stehen, in denen menschliche Knochen aufgebwahrt werden.

Bei ihrer Arbeit in Tuzla, Oktober 2021: die forensische Anthropologin Dragana Vučetić.

Das PIP lieferte und liefert wichtiges Anklagematerial für die Prozesse gegen Kriegsverbrecher vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag und vor Gerichten in Bosnien-Herzegowina. Nicht zuletzt aber ist die Arbeit des PIP auch wichtig, um der Völkermordleugnung etwas Unwiderlegbares entgegenzusetzen. Denn in der Republika Srpska, dem serbisch dominierten Landesteil Bosnien-Herzegowinas, und in Serbien gehört die Leugnung oder systematische Relativierung des Völkermordes von Srebrenica wie auch die Verherrlichung von Kriegsverbrechern in wachsendem Maße zur Staatsräson.

Viele Leugner_innen behaupten, es habe in Srebrenica nur zwei- bis dreitausend bosniakische Opfer gegeben. Viele von ihnen seien Soldaten gewesen und im Kampf gefallen oder hätten Suizid ­begangen. Von Genozid – wie ihn der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) festgestellt hat – könne keine Rede sein. Zugleich ­habe es in und um Srebrenica Tausende serbische Opfer gegeben, über die niemand rede.

Krieg war in der Familie kaum Thema

Dragana Vučetić war 15 Jahre alt und Schülerin, als der Völkermord in Srebrenica begangen wurde. Sie ist Serbin, geboren in der Kleinstadt Šabac. Der Ort liegt nur 100 Kilometer nördlich von Srebrenica und nur 30 Kilometer östlich der bosnischen Grenze. Dennoch, erzählt Vučetić, habe sie damals fast nichts vom Krieg im Nachbarland mitbekommen. Er sei in ihrer Familie und in ihrer Umgebung kaum ein Thema gewesen.

Sie träumte davon, Archäologin zu werden und in Ägypten großartige Entdeckungen zu machen. Tatsächlich studierte sie Archäologie und Anthropologie in ­Belgrad und erforschte für ihre Diplom­arbeit Bronzezeitfunde in der Nähe ihrer Heimatstadt. Entdeckungsreisen nach Ägypten ergaben sich nicht. Stattdessen hörte sie 2003 von der Internationalen Kommission für vermisste Personen und dem Podrinje Identification Project in Tuzla. Dort suchte man forensische Anthropolog_innen. Tuzla war nur zweieinhalb Stunden Fahrt von Zuhause entfernt. Sie bewarb sich und wurde genommen. Sie ahnte nicht, wie radikal sich ihr Leben dadurch ändern sollte.

Anfangs musste sich Vučetić über die Einzelheiten des Völkermordes von Srebrenica informieren. "Ich hatte vorher keine Ahnung", sagt sie. "Es war sehr verstörend, zu erfahren, wie viele Menschen ermordet wurden. Bis heute fällt es mir schwer, zu verstehen, warum das passiert ist und wieso es immer noch so oft geleugnet wird. Wir haben doch die Fakten."

Sie erinnert sich an ihren ersten Einsatz bei der Öffnung eines Massengrabes. Es war im Sommer 2004 nahe des Dorfes Blječeva, elf Kilometer nördlich von Srebrenica. Dort wurden damals etwa 250 ermordete Männer und Jungen exhumiert. "Beim Anblick der vielen Toten wurde mir plötzlich das Ausmaß dieses Verbrechens klar", erzählt Vučetić. "Die Leichen waren noch nicht vollständig verwest, es roch sehr stark. Nach der Arbeit möchtest du die Bilder vergessen und nicht mehr nachdenken, aber dieser Geruch bleibt in deiner Nase. Diese Anfangszeit war hart. Es war die Zeit, in der ich erwachsen ­wurde."

Rucksäcke, Trinkflaschen, Messer

Nur einige hundert Meter Luftlinie entfernt von dem Ort, an dem Vučetić ihr ­erstes Massengrab sah, lebt der Bauer Ramiz Nukić. Er hätte in Blječeva verscharrt sein können. Aber er hat überlebt. Und er ist zurückgekehrt an den Ort seiner Kindheit und Jugend, an den Ort des Völkermordes. Er wohnt in einem einsam gelegenen Haus am Hang eines Hügels, inmitten von Wald und Heuwiesen, zusammen mit seiner Frau. Oft kommen seine sechs erwachsenen Kinder und seine Enkel aus den umliegenden Dörfern zu Besuch.

Ein Mann  mit wettergegerbtem Gesicht schaut mit ernstem Gesichtsausdruck in die Kamera, er trägt Jacke und Pullover, darunter ein Karohemd, dessen Kragen hervorlugt.

Ramiz Nukić im Oktober 2021 in Kamenice.

Nukić hat nach der Jahrtausendwende, als Bosniak_innen wieder in ihre einst "ethnisch gesäuberten" Heimatgegenden in Ostbosnien zurückkehren konnten, nicht nur sein zerstörtes Haus wieder aufgebaut. Der Überlebende sucht seitdem auch nach den Toten. Sobald er Zeit hat, fährt er in die umliegenden Wälder und durchkämmt sie nach alter Kleidung und Schuhen, nach den wenigen Gegenständen, die die Ermordeten dabei hatten, Rucksäcke, Trinkflaschen, Messer – und auch nach Knochen. Kleidung und Ge­genstände holen Mitarbeiter des Srebrenica Memorial ab, der Gedenkstätte des Völkermordes. Für Knochen kommen Mitarbeiter des PIP aus Tuzla. Sie dokumentieren die Funde an Ort und Stelle kriminalistisch, dann werden die Knochen zum PIP gebracht.

Überreste von 300 Menschen gefunden

Die Überreste von etwa 300 Menschen hat Nukić inzwischen gefunden. Er hat nie ein Anatomielehrbuch studiert und kann dennoch menschliche von tierischen Knochen unterscheiden und sie oft sogar Körperteilen zuordnen. "Er ist ein außergewöhnlicher Mann", sagt Dragana Vučetić. "Selbst wir Experten können einzelne Knochen im Wald nur schwer erkennen, denn oft sind sie kaum von Stöcken zu unterscheiden. Aber Nukić hat ein ­gutes Auge."

Der 60-Jährige kennt die Gegend in- und auswendig. Im März 1993 musste die Familie Haus und Hof verlassen und in die nahegelegene Enklave Srebrenica ziehen. In der Nacht des 11. Juli 1995, wenige Stunden nach dem Fall der Enklave und dem Einmarsch der Truppen Mladićs, war Nukić unter den rund 15.000 Männern und Jugendlichen, die flüchteten und sich auf den "Todesmarsch von Srebrenica" begaben, um das befreite Gebiet in Tuzla zu erreichen, 70 Kilometer nordwestlich.

Am Morgen des 12. Juli 1995 geriet die Kolonne in einen Hinterhalt, wenige hundert Meter vom einstigen Wohnort der ­Familie Nukić entfernt. Im Granatenhagel starben Hunderte Menschen. Ramiz Nukić überlebte und lief mit dem Rest der Kolonne tagelang weiter. Seinen Vater und zwei seiner Brüder hat er in den Wirren des Hinterhalts verloren. Sie wurden, wie er später erfuhr, gefangengenommen und erschossen.

Im Jahr 2002 kehrte er zurück an seinen Geburtsort, an den Schauplatz des Völkermordes. Er fand Ermordete im Keller seines zerstörten Hauses. Und baute es wieder auf, um darin zu wohnen. Wie konnte er das aushalten? "Ich bin zurückgekehrt, weil ich keinen anderen Platz zum Leben hatte", sagt Nukić. "Aber der eigentliche Grund war, dass ich meinen Vater und meine Brüder suchen wollte."

Botschaft an die Welt

An einem nasskalten Tag im Spätherbst steigt Nukić auf seinen Traktor und fährt zu jenem Hügel des Hinterhalts vom 12. Juli 1995. Dann geht er mit einem Stock in der Hand durch den Wald und untersucht die Laubschicht nach Gegenständen und Knochen. Diesmal findet er nichts. Aber er zeigt Schuhe, einen Pullover, eine Blechdose und ein Knochenstück, die er in den Tagen zuvor entdeckt und an der Fundstelle versteckt hat, bis sie abgeholt werden.

Nukić sucht und sucht, seit fast zwei Jahrzehnten. Er würde es sonst wohl nicht aushalten, dort zu leben. Seinen Vater und seine Brüder hat er nicht gefunden. Ihre Überreste wurden 2008 in einem weit entfernten Massengrab entdeckt. Dennoch macht er weiter. Er möchte all jenen helfen, die verzweifelt auf die Überreste ihrer geliebten Angehörigen warten.

Niemand sonst in Ostbosnien sucht privat so unermüdlich und seit so langer Zeit nach den Opfern des Völkermordes. Viele Medien in Bosnien haben über Ramiz Nukić berichtet, einige hochrangige Politiker besuchten ihn. Aber keine Regierung hat ihn je ausgezeichnet – obwohl die Erinnerung an den Völkermord von Srebrenica zentral ist, wenn es um die Identität des bosnischen Staates geht. Auch bezahlt ihn niemand für seine Suche. Nukić und seine Frau leben in ärmlichen Verhältnissen. Sie züchten Schafe und könnten Unterstützung gebrauchen. Doch Nukić klagt nicht. Er sagt: "Ich werde weitersuchen, solange ich kann."

"In erster Linie Mensch"

Auch Dragana Vučetić sagt, sie werde in Tuzla so lange weiterarbeiten, wie es nötig sei. Sie ist eine eher stille Frau. Sie spricht ungern über ihre Rolle bei der Identifizierung der Toten, sondern betont, dass es um Teamarbeit gehe. Manchen Überlebenden bedeutet es viel, dass sie als Serbin Aufklärung leistet, sie empfinden es als Hoffnungsschimmer angesichts der unter vielen Serb_innen verbreiteten Leugnung des Völkermordes. Vučetić mag es nicht, wenn man ihre ­Herkunft betont. "Ich bin in erster Linie Mensch, Frau und Teil eines Teams, das nicht auf die Ethnie schaut", sagt sie.

Wie geht sie mit der Leugnung des Völkermordes um? "Manche Leute lassen sich nicht von den Fakten überzeugen, die wir am PIP wissenschaftlich erbringen", sagt sie. "Wichtig ist, dass wir unsere Arbeit für die überlebenden Familien fortführen. Und dass wir eine Botschaft an die Welt und auch an uns selbst senden: Nicht zu vergessen, was passiert ist."

Keno Verseck ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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