Amnesty Journal Pakistan 11. August 2023

"Ich lebe in der ständigen Angst, dass die Polizei mich festnimmt und abschiebt"

Zwei Männer im Porträt, der linke trägt Hemd, Weste und Brille, die Arme vor dem Körper verschränkt; der rechte trägt Brille und Hemd.

Mirwais Zazai hat als Journalist in Kabul gearbeitet, Umar Ijaz Gilani arbeitet in Islamabad als Anwalt.  

Hunderttausende Afghan*innen sind in den vergangenen beiden Jahren ins Nachbarland Pakistan geflohen. Ein Gespräch mit dem pakistanischen Rechtsanwalt Umar Ijaz Gilani und dem afghanischen Journalisten Mirwais Zazai über Fluchtgründe und die Situation in Pakistan.

Interview: Oliver Schulz

Seit der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan vor zwei Jahren sind etwa 250.000 Menschen nach Pakis­tan geflohen. Was sind das für Menschen?

Umar Ijaz Gilani: Sie gehören ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen an. Besonders stark vertreten sind Menschenrechtsaktivist*innen und Personen, die auf einem ähnlichen Gebiet aktiv waren und sind. Auch sehr viele Menschen, die mit der alten Regierung in Kabul verbunden waren oder die mit den einstigen Geberländern für den afghanischen Wiederaufbau zusammengearbeitet haben, sind geflohen. Unter den Geflüchteten sind auch ehemalige Mitarbeiter*innen von Botschaften und sehr viele Journalist*innen.

Fliehen diese Menschen, weil sie in Gefahr sind und Angst haben müssen, von den Taliban festgenommen zu werden?

Ja. Sie sitzen in Afghanistan in der Falle, weil sie für die alte Regierung oder alte Institutionen gearbeitet haben, also für die Feinde der Taliban. Sie befinden sich auch deshalb in einer ausweglosen Situation, weil sie in Afghanistan ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können – Menschen, die im Bereich Menschenrechtsschutz, für internationale Organisationen oder als Medienschaffende gearbeitet haben, finden unter den Taliban keine Arbeit mehr.

Wie ist Ihre Flucht nach Pakistan verlaufen?

Mirwais Zazai: Als die Taliban im August 2021 die Regierung übernahmen, geriet ich sofort in große Gefahr. Ich habe acht Jahre lang für große Medienunternehmen gearbeitet. Ich hatte eine Nachrichtensendung im Radio und habe viele Meldungen gebracht, die von den Taliban handelten und sich gegen sie richteten. Ich war eine bekannte Stimme und erhielt bereits vor der Machtübernahme viele Todesdrohungen. Daher hatte ich große Angst vor dem Tag, an dem die Taliban mich finden würden. Sie suchten mich und fragten meine Nachbarn nach mir. Die warnten mich und sagten, ich solle nicht nach Hause kommen. Ich verbrachte mehrere Tage und Nächte in meinem Büro und besuchte nur manchmal Verwandte, bis ich endlich ein Visum für Pakistan hatte.

Sind Sie offiziell nach Pakistan eingereist?

Nein. Es war unmöglich, auf offiziellem Wege ein Visum für Pakistan zu bekommen. Also kaufte ich es auf dem Schwarzmarkt zum exorbitanten Preis von 800 US-Dollar. Im Osten Afghanistans, im Ort Torkham, ging ich zu Fuß über die Landesgrenze. Ich hatte mein Aussehen komplett verändert: Mein Bart war lang, und ich hatte mir ein Tuch um den Kopf gewickelt, um mein Gesicht zu bedecken. An der Grenze waren sehr viele Menschen. In dem Getümmel ist mir die Flucht gelungen.

Ist Ihre Familie noch in Afghanistan?

Ja, wir haben ein Haus in Kabul. Meine Familie ist immer noch dort, doch ihre wirtschaftliche Situation ist sehr schlecht. Weil mein Vater unter der vorherigen Regierung Polizist war, muss er sich bis heute vor den Taliban verstecken.

Die Lage in Afgha­nistan verschlechtert sich von Tag zu Tag. Journalisten werden bedroht, die Meinungsfreiheit existiert nicht mehr, alle Menschenrechte werden von den Taliban verletzt.

Mirwais
Zazai

Wo leben Sie jetzt?

Ich lebe jetzt in Islamabad, habe aber viele Probleme. Ich übersetze gelegentlich Medienberichte, verdiene damit leider sehr wenig. Meist esse ich nur Brot, weil ich mir nichts anderes leisten kann. Wie viele andere Geflüchtete in Pakistan leide ich unter Depressionen, habe aber nicht die finanziellen Möglichkeiten, zum Arzt zu gehen.

Wie ist Ihre rechtliche Lage?

Mein Visum ist abgelaufen. Ich kann mich deshalb nicht frei bewegen und lebe in der ständigen Angst, dass die Polizei mich festnimmt und abschiebt. Meist ­halte ich mich in der Nähe meiner Unterkunft auf. In die Stadt oder auf den Markt zu gehen, ist zu gefährlich.

Ist Mirwais Zazai ein Einzelfall?

Umar Ijaz Gilani: Nein. Alle afghanischen Flüchtlinge benötigen ein Visum, das von der Regierung in Islamabad ausgestellt wird. Weil diese Visa nur für kurze Zeit gelten, sind sie häufig bereits abgelaufen. Seit dem vergangenen Sommer wurden bereits Hunderte Geflüchtete abgeschoben. Bisher allerdings nur in der Provinz Sindh, in der sich die großen Städte Karatschi und Hyderabad befinden. Offensichtlich hat die Provinzregierung den Eindruck, mit den Flüchtlingen allein gelassen zu werden, und ist frustriert, dass internationale Unterstützung ausbleibt.

Pakistan hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, ist also rechtlich nicht verpflichtet, Flüchtende zu schützen. Sie haben dennoch in Islamabad gegen die ­Abschiebungen protestiert.

Ja, denn ich halte diese Rückführungen für brutal und unmenschlich. Ich habe die Nationale Menschenrechtskommission aufgefordert, die staatlichen Behörden anzuweisen, die Abschiebungen zu stoppen. Das Parlament muss Gesetzes­änderungen in Betracht ziehen, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.

Haben Sie eine Antwort erhalten?

Die Menschenrechtskommission hat lediglich zurückgefragt, wie viele afghanische Flüchtlinge in Pakistan von Abschiebungen betroffen seien. Konkrete Änderungen oder auch nur Empfehlungen gab es bislang nicht.

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Mirwais Zazai: Ich möchte auf keinen Fall in meine Heimat zurückkehren, weil ich dort nicht sicher bin. Die Lage in Afgha­nistan verschlechtert sich von Tag zu Tag. Journalisten werden bedroht, die Meinungsfreiheit existiert nicht mehr, alle Menschenrechte werden von den Taliban verletzt. Ich habe große Angst, weil die Taliban keinerlei menschliche Werte respektieren. In Pakistan möchte ich aber auch nicht bleiben. Ich möchte in ein wirklich sicheres Land ziehen.

Umar Ijaz Gilani (36) arbeitet in Islamabad als Anwalt.Er ist auf Verfassungs- und Verwaltungsrecht spezialisiert und setzt sich für die Rechte Geflüchteter ein. Mirwais Zazai (27) hat als Journalist in Kabul für die Medienunternehmen Moby Group und Tolo News gearbeitet. Jetzt lebt er als Geflüchteter in Islamabad.

Oliver Schulz ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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