Amnesty Journal Kolumbien 28. August 2019

Totgeschwiegen

Aktion gegen die Straflosigkeit vor dem Justizpalast in Bogota, März 2019.

Der Friedensprozess in Kolumbien stockt. Die neue Regierung stößt die Opfer des bewaffneten Konflikts vor den Kopf.

Von Knut Henkel, Bogotá

Dutzende großformatige Porträts sind auf der Plaza de Bolívar zwischen Parlament und Justizpalast aufgereiht. Mitglieder der Menschenrechtsorganisation MOVICE (Movimiento Nacional de Víctimas de Crímenes de Estado) haben die Fotos im Zentrum von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá aufgestellt. Jedes Jahr am 6. März ruft die Organisation dazu auf, der Opfer zu gedenken, die während des bewaffneten Konflikts ab Mitte der 1960er Jahre von staatlichen Sicherheitskräften getötet wurden. Ihre Zahl geht in die Zehntausende. Zwar ruhen seit dem Friedensvertrag mit den FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) vom November 2016 die Waffen. Doch noch immer sind Tausende Kämpfer der marxistischen ELN (Ejército de Liberación Nacional) und bewaffnete Paramilitärs aktiv.

Das Sterben geht also weiter, wenn auch mit verminderter Intensität. Auch die mehreren Zehntausend gewaltsam Verschwundenen belasten den Versöhnungsprozess im Land: ­Polizei und Armee haben über die Jahre viele vermeintliche Sympathisanten der Guerilla ermordet und verschwinden lassen. Das staatliche Nationale Zentrum für historisches Gedenken (CNMH) hat 82.998 durch Staatsgewalt verschleppte Personen gezählt. Etliche der Fotos auf der Plaza de Bolívar tragen ­Namen, die auch auf der Liste des CNMH stehen.

Einer von ihnen ist Luis Fernando Lalinde. Die Armee ließ den Soziologiestudenten aus Medellín am 4. Oktober 1984 verschwinden. Ein Dokumentarfilm über den prominenten Fall, der dank der Recherchen der Familie aufgeklärt wurde, findet sich nun auf der Homepage des Zentrums für historisches Gedenken. Er ist ein Lehrstück über das Vorgehen der Armee: Sie ließ Andersdenkende verschwinden und lässt die Familien bei der Suche nach ihren Angehörigen bis heute im Stich.

"Der Fall Lalinde ist typisch, denn er zeigt Strukturen auf, die auch für viele andere Fälle gelten", sagt Ana María Pedraza. Die Anwältin arbeitet für das Zentrum für historisches Gedenken und begleitet Familien bei der Durchsetzung ihrer Forderungen gegen den Staat. Immerhin ist bei Luis Fernando Lalinde eins geglückt: "Dank der hartnäckigen Suche der Mutter Fabiola und ihrer Kinder gelang es, sein Verschwinden aufzuklären", sagt Pedraza.

2016 sprach die Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten den kolumbianischen Staat nach mehr als zehn Prozessjahren schuldig – und ordnete spektakulär Wiedergutmachung für die Ermordung Lalindes an. Das ­Militär musste sowohl den Dokumentarfilm über das Leben des Opfers als auch ein kleines Erinnerungszentrum am Ort seiner Ermordung finanzieren.

Ihr persönliches Archiv mit Dokumenten zur Suche und zum juristischen Kampf gegen den kolumbianischen Staat vertraute die Familie jedoch lieber der Universität von Medellín an. Grund dafür ist die neue Leitung des Nationalen Zentrums für historisches Gedenken. Im Februar 2019 ernannte die Regierung unter Präsident Iván Duque den Historiker Rubén Dario Acevedo zum Direktor. Er hat sich einen zweifelhaften Ruf erworben, weil er bestreitet, dass es in Kolumbien einen bewaffneten Konflikt gab. Die im Friedensvertrag mit den FARC vereinbarte "Sonderjustiz für den Frieden" bezeichnete er auf Twitter als "Damoklesschwert der Guerilla und ihrer Freunde gegen die kolumbianische Armee".

Den Tweet hat der umstrittene Historiker zwar gelöscht, doch das investigative Nachrichtenportal Question pública machte ihn wieder sichtbar. In Kolumbien hat die Ernennung Acevedos zum Direktor einer Institution, die den gesetzlichen Auftrag hat, die Verbrechen des Konflikts zu dokumentieren, für massive Proteste gesorgt. So forderte beispielsweise die nationale Organisation der Indigenen Völker Kolumbiens sämtliche Dokumente zurück, die sie dem Archiv des Zentrums für historisches Gedenken zur Verfügung gestellt hatte.

Für die Leiterin des Hauses der Erinnerung in Medellín, Cathalina Sánchez Escobar, ist der Leitungswechsel beim CNMH ein Alarmsignal. "Die Erinnerungsarbeit muss raus aus der Politik. Aber das Gegenteil ist derzeit der Fall", warnt die Direktorin des ersten öffentlichen Museums für historisches Gedenken in Kolumbien.

Seit August 2018 amtiert der rechtskonservative Präsident Duque. Er hatte schon im Wahlkampf deutlich gemacht, dass er die Politik seines Vorgängers, des Friedensnobelpreisträgers Juan Manuel Santos, nicht fortsetzen werde. Duque drohte sogar, den Friedensvertrag mit den FARC zerreißen zu wollen. In dem Dokument ist nicht nur die Aufarbeitung der Geschichte und die Einsetzung einer Wahrheitskommission vereinbart, sondern auch die Gründung einer "Einheit zur Suche nach Verschwundenen".

Alles Vorhaben, die Gesetzesrang haben und das Land befrieden sollen. Doch aus dem Präsidentenpalast kommt immer wieder Störfeuer. So legte Duque sein Veto gegen ein Gesetz ein, das die Sonderjustiz für den Frieden auf eine rechtliche Grundlage stellen und deren Richter schützen soll. Nun muss das Verfassungsgericht über das Gesetz urteilen.

Eine Farce, findet Guillermo Guerrero Guevara: "Der Widerstand des rechten Lagers gegen die Sonderjustiz ist immens, denn dahinter stehen die Interessen von Großgrundbesitzern und Unternehmern. Sie haben Angst vor Ermittlungen, und Iván Duque ist ihr Präsident", sagt der Direktor des von Jesuiten gegründeten Forschungs- und Menschenrechtszentrums CINEP. Es berät Bauern bei Prozessen zur Landrückgabe und unterstützt den Friedensdialog auf allen Ebenen. Doch Rückgabe und Dialog stehen bei der Regierung derzeit nicht hoch im Kurs. Vielmehr orientiert sich Präsident Duque an der Politik seines Mentors, des früheren Staatsoberhaupts Álvaro Uribe Vélez, der Kolumbien von 2002 bis 2010 regierte. In seinen Ankündigungen nimmt Duque auf Uribes System der "demokratischen Sicherheit" Bezug, das Kolumbien mit militärischer Macht und einem Spitzelsystem gewaltsam befrieden wollte.

Bürgerrechtler kritisieren, dass zuletzt immer wieder Spitzel aufgefallen sind: So gebe es erneut Personen, die in der Nähe der neutralen Friedensgemeinden oder vor Büros von Menschenrechtsorganisationen Fragen stellen und beobachten. Auch ein Aufschwung der Paramilitärs ist zu beobachten: Je nach Quelle sollen 6.000 bis 9.000 der rechtsgerichteten Bürgerwehren aktiv sein – Tendenz steigend.

Viele wollen diese Entwicklungen nicht hinnehmen. "Uns bleibt derzeit nur, Widerstand zu leisten und auf bestehende Gesetze zu pochen", sagt Alirio Uribe Muñoz, Bürgerrechtsanwalt und ehemaliger Abgeordneter des linken Polo Democrático. Genau dies tun Vereinigungen wie die Opferorganisation Movice. Sie gehen nicht nur mit den Fotos der Verschwundenen an die Öffentlichkeit, sondern auch mit dicken gemalten Botschaften auf orangefarbenem Untergrund. "Sin olvido" ist da zu lesen: Kein Vergessen.

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