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Menschenrechte und Erinnerung – ein Dilemma

© Illustration: Lennart Gäbel
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 bezieht sich auf die Erinnerung an Weltkrieg und Holocaust, um das Bewusstsein für Menschenrechte zu stärken. Kollektive Erinnerung an Gewalterfahrungen kann aber auch der Mobilisierung zu neuen Gewaltakten dienen. Das ambivalente Potenzial der Erinnerung erfordert erhöhte Aufmerksamkeit für den öffentlichen Umgang mit der Vergangenheit.
Von Michael Gottlob, mit Illustrationen von Lennart Gäbel
Der 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), der im Dezember zu feiern ist, bietet einen guten Anlass zur Reflexion über Menschenrechtsarbeit und ihre historischen Dimensionen. Und dies in durchaus praktischem Interesse. Die Einordnung der Erklärung von 1948 in den zeitlichen Kontext mit seinen besonderen Herausforderungen, die Bilanz ihrer Auswirkungen und der Ausblick auf Probleme und Chancen der Zukunft dienen der Menschenrechtsbewegung zur Selbstvergewisserung und Vitalisierung. An sie zu erinnern und ihre Bedeutung immer wieder neu zu durchdenken, hält sie in Schwung.
Der Rückblick auf die AEMR und ihren historischen Rahmen kann aber auch eine Gelegenheit sein, die Funktion von Geschichte und Erinnerung selbst näher in den Blick zu nehmen. Die bekannten Menschenrechtserklärungen seit dem 18. Jahrhundert hatten alle einen engen Bezug auf Geschichte. Die Virginia Declaration of Rights, die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (beide 1776) und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) gingen einher mit historischen Kämpfen und Errungenschaften: Kämpfen um staatliche Unabhängigkeit, um politische Rechte, sozialen Wandel etc. Sie waren bestimmt vom Anspruch selbstbewusster Bürger*innen, sich in den Lauf der Ereignisse einzumischen und den geschichtlichen Prozess nach Vernunftprinzipien zu gestalten. Getragen waren sie vom Vertrauen auf eine globale Entwicklung, in der politische Macht an Moral und Recht gebunden wird.
Erinnern als hoher moralischer Wert
Bei der Menschenrechtserklärung von 1948 liegen die Dinge anders. Im Unterschied zu den Erklärungen von 1776 und 1789 war die AEMR die Reaktion auf eine gerade durchlebte Katastrophe. Zu Optimismus gaben die zurückliegenden Jahre von Krieg und Völkermord wenig Anlass. Und dennoch war die AEMR verbunden mit der Entschlossenheit, gerade diese Erinnerung an Schrecken und Gewalt zu einer mobilisierenden und stabilisierenden Kraft für Rechtsstaatlichkeit und Frieden in der Welt zu machen. Dies hat die Menschenrechtsbewegung auf Jahrzehnte geprägt. Viele Beobachter*innen sind bis heute überzeugt, "dass die lebendige Erinnerung an historische Ereignisse wie den Holocaust eine Schlüsselrolle bei der Internationalisierung der Menschenrechte gespielt hat" (siehe etwa die Online-Debatte des International Center for Transitional Justice vom Mai 2016 zum Thema "Does Collective Remembrance of a Troubled Past Impede Reconciliation?").
Auch die Gründung von Amnesty International gehörte dem historischen Momentum der Nachkriegszeit und ihrer mentalen Bewältigung an. Gerade in Deutschland hat Amnesty seine anfängliche Dynamik auch aus der gleichzeitig lauter werdenden Forderung nach Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gewonnen. Hinzu kam die Wahrnehmung im Kalten Krieg, dass die Entschiedenheit der Unterzeichner der AEMR in den vermeintlichen Zwängen der Realpolitik verloren zu gehen drohte, dass bloß ein taktischer oder rhetorischer Gebrauch der Menschenrechte übrig bleibe. Hier stellte sich die neue Organisation als Initiative von engagierten Zeitgenoss*innen dar, die die Idee der Menschenrechte im persönlichen, selbstverpflichtenden Sinne ernst nahmen und sie mit neuen Methoden umzusetzen suchten.
Unparteilichkeit war oberstes Gebot, die Anerkennung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen sollte ohne politische oder anderweitig motivierte Auswahl geschehen, sie sollte gerade auch die "Vergessenen" einschließen. Amnesty International setzte konsequent auf das emanzipatorische Potenzial der Menschenrechte. Dass Peter Benenson seinen Aufruf zur Solidarität mit den politischen Gefangenen als "Appeal for Amnesty" formulierte (mit einem Wort also, das eigentlich an Erlass oder Milderung von Strafe, an Vergeben eher als Erinnern denken lässt), deutet aber auch darauf hin, dass er sich den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Menschenrechtsarbeit als durchaus komplex vorstellte. Wie, das blieb zunächst offen.
Erinnern oder vergessen?
Die Arbeit an vielen und unterschiedlichen Einzelfällen ließ bald das Bedürfnis nach einer genaueren Klärung des Verhältnisses zwischen Erinnerung und Menschenrechtsarbeit aufkommen. Spätestens mit der Kampagne gegen Straflosigkeit in den 1990er Jahren rückte Erinnerung ganz in den Fokus. Die Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen sollte nicht nur der Forderung nach Gerechtigkeit entsprechen, sondern auch neuen Menschenrechtsverletzungen vorbeugen. Denn, so die Grundannahme im Amnesty-Jahresbericht 1992: "Solange die Agenten der Repression Menschen in der Gewissheit entführen, foltern und ermorden können, dass ihre Untaten nicht aufgedeckt und sie strafrechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wird es nicht gelingen, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen." Amnesty zählte in der Folge 1995 zu den Gründungsmitgliedern der weltweiten "Koalition für einen Internationalen Strafgerichtshof".
Im Kampf gegen Straflosigkeit wurde der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Vergangenheitsaufarbeitung programmatisch. Und in der Überzeugung, dass dies auch der Friedenssicherung diente, wurde dem Erinnern ganz allgemein ein hoher moralischer Wert beigemessen. "In der zeitgenössischen Menschenrechtsbewegung ist dies zu einem Glaubensartikel geworden – und die Menschenrechtsbewegung (…) ist in vielerlei Hinsicht der leitende säkulare Moralkodex unserer Zeit", schrieb der US-Publizist David Rieff.
Im Selbstverständnis der Menschenrechts- und Friedensbewegungen wird die Erinnerung hoch bewertet. Dem stehen indes Erfahrungen entgegen, bei denen die Vergegenwärtigung der Vergangenheit ganz anderen Zwecken dient als dem von Gerechtigkeit und Frieden. David Rieff, der als Journalist in den 1990er Jahren über Konflikte in Afrika, auf dem Balkan und in Zentralasien berichtete, bezweifelt, dass die Inanspruchnahme der Erinnerung die Menschenrechte stärkt.
Gegen die Annahme, dass "sich zu erinnern den Interessen des Friedens dient und bei der Schaffung einer öffentlichen Kultur hilft, die Gräueltaten und Folter ablehnt", spreche die Beobachtung von Konflikten, "in denen die Erinnerung nicht mildert, sondern als Ansporn zum Horror dient". Ein jüngeres Beispiel aus Europa waren die Hassreden des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević mit Bezugnahme auf die Schlacht auf dem Amselfeld (1389), die die Menschen zum Krieg im zerfallenden Jugoslawien angestachelt haben.

© Illustration: Lennart Gäbel
Angesichts der vielen Beispiele für das zerstörerische Potenzial von Erinnerung müsse man sich daher von dem damit verbundenen hohen moralischen oder politischen Anspruch verabschieden, meinte Rieff und sah sich vor ein Dilemma gestellt: "Erinnerung mag der Verbündete der Gerechtigkeit sein, aber sie ist kein verlässlicher Freund des Friedens." Vor allem die Erinnerung an frühere Niederlagen, das Aufreißen von Wunden, ob selbst verursacht oder von anderen zugefügt, könne als moralische Option zwar manchmal angebracht sein, in anderen Fällen aber nicht. Manchmal, schrieb Rieff, sei es besser zu vergessen (Rieff, In Praise of Forgetting: Historical Memory and Its Ironies, 2016).
Frieden und Gerechtigkeit
Für die mögliche friedensstiftende Wirkung des Vergessens lassen sich tatsächlich viele historische Beispiele anführen. Der Althistoriker Christian Meier verweist auf die Situation im Jahr 404 v. Chr., als "eine kleine Gruppe von Tyrannen die Macht in Athen an sich gerissen und etwa fünf Prozent der Bevölkerung ermordet" hat. Nach dem Sturz der Tyrannen blieb es verboten, öffentlich an diese Morde zu erinnern. Anklagen durften nur gegen die Hauptschuldigen erhoben werden. Indem man das Erinnern erstickte, "wurde offenkundig der innere Frieden im Staat wiederhergestellt und gesichert" (Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns, 2010).
Auch in der Neuzeit gehörte zu vielen europäischen Friedensverträgen wie etwa dem Frieden von Utrecht (1713) oder den Verträgen von Versailles (1783) eine "Oblivionsklausel", die besagte, dass nach einem Krieg beide Seiten das Kriegsgeschehen vergessen sollten. Jeder Anlass zu weiteren Streitigkeiten war zu vermeiden. Und auch heute gibt es Situationen, die so ausweglos erscheinen, dass vom ständigen Erinnern an frühere Grausamkeiten auf beiden Seiten eher abgeraten wird. Als Beispiel wird oft der Konflikt zwischen Israel und Palästina genannt.
Ist es also besser, auf Vergessen zu setzen? Das ist pauschal schon deshalb keine Lösung, weil auch beim Vergessen Gewalt und Unrecht im Spiel sein können. Machtverhältnisse manifestieren sich auch dadurch, dass abweichende Stimmen zum Schweigen gebracht, unerwünschte Erinnerungen ausgelöscht werden.
Missbräuche öffentlich anerkennen
Bei näherem Hinsehen erscheint das auf Versöhnung angelegte Vergessen nicht weniger voraussetzungsreich als die auf Gerechtigkeit zielende Erinnerung. Befreiend und friedensfördernd kann das Vergessen nur wirken, wenn es im Einvernehmen und mit Blick auf eine gemeinsame, Sieger*innen und Besiegte, Täter*innen und Opfer umfassende Zukunft geschieht. Und selbst dann bleibt die Frage offen, wie nachhaltig ein so erwirkter Frieden sein kann, solange der Anspruch auf Aufarbeitung und Gerechtigkeit uneingelöst bleibt. So argumentiert denn auch Aleida Assmann gegenüber Christian Meier: "In traumatisch gespaltenen Gesellschaften führt der Weg zur Rechtsstaatlichkeit und Integration heute eben gerade nicht mehr (…) durch das Vergessen, sondern durch das Nadelöhr der Anerkennung, Erinnerung und Aufarbeitung" (Assmann, Formen des Vergessens, 2016).
Vor allem bei einer direkten Konfrontation von Täter und Opfer kommt das Vergessen als Weg zur Versöhnung kaum in Betracht, wie auch Pablo de Greiff, der frühere UN-Sonderberichterstatter für Transitional Justice, Rieff, entgegenhält: "Als ob dies frei zu entscheiden wäre. Personen, die von vergangenen Missbräuchen betroffen sind, haben keine solche Wahl." Die Diskussion könne nicht darum gehen, ob sie sich erinnern, sondern darum, "ob die Missbräuche öffentlich anerkannt werden oder nicht". Die Alternative zur nationalistisch, kulturalistisch, identitär verengten Erinnerung mit ihrem innewohnenden Gewaltpotenzial liegt daher nicht im Vergessen, sondern in besseren, das heißt offenen, vielfältigen, inklusiven Formen des Erinnerns.
Die Erfahrungen mit Formen von Transitional Justice können Ansätze zu einem solchen Erinnern liefern. In der Aufarbeitung traumatischer Vergangenheiten durch Wahrheitskommissionen kommt es nach de Greiff vor allem darauf an, alle Seiten zu beteiligen und Parteilichkeit zu vermeiden. Gefordert sind "Berichte, die nicht nur auf die Anerkennung von Opferrolle und Leid abzielen, sondern auch auf die Bedeutung von (verallgemeinerten) Rechtsansprüchen, und (…) die Rechte nicht nur einer Gruppe, sondern von allen zu bekräftigen suchen" (De Greiff, "Unacknowledged Past Breeds Manipulation and Fear", ICTJ Online-Debatte).
Ähnliche Anforderungen gelten für die Arbeit von Amnesty International. Die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen geschieht hier nicht zu dem Zweck, erlittenes Unrecht zu vergelten, sondern um den Opfern Anerkennung zu verschaffen und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Zugleich werden anhand konkreter Fällen allgemeine Prinzipien eingefordert und bekräftigt.
Die Realität in der internationalen Politik ist allerdings, dass in jüngster Zeit wieder solche Formen des öffentlichen Umgangs mit Geschichte in den Vordergrund treten, die zur Verletzung statt zur Verteidigung der Menschenrechte beitragen. Ihre Eindämmung erfordert höchste Aufmerksamkeit.
Michael Gottlob, Jahrgang 1950, Historiker, lebt in Berlin und ist Amnesty-Mitglied seit 1969. Seit 2007 ist er Sprecher der Indien-Koordinationsgruppe.