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Wenn der Staat suspekt ist
Dimitra Andritsou von Forensic Architecture untersucht Tatorte mithilfe architektonischer Rekonstruktion.
© Sotiris Chatzicharalampous
Dimitra Andritsou untersucht Tatorte mithilfe architektonischer Rekonstruktion. Was sie dabei herausfindet, landet nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch in Museen.
Von Hannah El-Hitami
Mit Wohnhäusern oder Wolkenkratzern hat der Arbeitsalltag der Architektin Dimitra Andritsou wenig zu tun. Statt Gebäude zu entwerfen, baut sie Tatorte nach, um zu verstehen, welche Verbrechen dort begangen wurden.
Ob es um brennende Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln geht, um illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen oder um rechtsextreme Morde in Europa: Mithilfe von 3D-Modellen und Computeranimationen macht sie die Orte zugänglich und bringt ans Licht, was dort geschehen ist. Sie habe sich schon immer dafür interessiert, wie die Kontrolle über den Raum zum Machtinstrument werde, sagt die 29-jährige Griechin: "Die gebaute Umwelt ist ein Sensor für Politik, Gewalt und staatliche Verbrechen."
Am Ermittlungs-Monopol kratzen
Andritsou arbeitet bei der britischen Organisation Forensic Architecture (FA) und ist gerade in deren neues Büro in Berlin umgezogen. Dort koordiniert sie Investigative Commons, was übersetzt "Investigatives Gemeingut" heißt. Das Projekt hat ihre Organisation gemeinsam mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) ins Leben gerufen. Es kratzt am Monopol des Staates, was strafrechtliche Ermittlungen betrifft, vor allem wenn es um Verbrechen von Staaten oder einflussreichen Konzernen geht.
"Der Staat hat das Monopol auf Gewalt, und zugleich hat er als einziger Zugriff auf Beweismaterial", erklärt Andritsou und nennt als Beispiel einen Tatort, den die Polizei mit Absperrband versieht, um die Öffentlichkeit davon fernzuhalten. "Wir untersuchen aber meist Verbrechen, die der Staat begangen hat. Wie können wir also erwarten, dass er gegen sich selbst ermittelt?"
Andritsou und ihre Kolleg_innen von FA nehmen die Sache lieber selbst in die Hand und ermitteln gemeinsam mit Journalist_innen, Aktivist_innen, Künstler_innen und Überlebenden. Die Anwält_innen des ECCHR nutzen das gesammelte Beweismaterial, um Fälle vor nationale oder internationale Gerichte zu bringen.
Und nicht nur dorthin: Denn weil es um Gemeingut geht, werden die Ermittlungsergebnisse in öffentlichen Foren wie Museen für die Zivilgesellschaft zugänglich gemacht. Auch das Beweismaterial, das Investigative Commons nutzt, ist häufig "open source", also öffentlich zugänglich: Videos und Fotos, die Menschen vor Ort mit dem Smartphone aufgenommen haben. "Unsere Arbeit wird dadurch erleichtert, dass heutzutage so viel Material online zirkuliert", sagt Andritsou. "Wenn Leute mit ihren Smartphones filmen, wird aus ihnen eine Art Zeugenkollektiv. Genau dieses Material nutzen wir für unsere Arbeit."
Europäische Waffen im Jemen
Das erste gemeinsame Projekt von FA und ECCHR unter der Flagge von Investigative Commons haben die Organisationen im Sommer 2021 vorgestellt. Darin deckten sie auf, wie Waffen europäischer Konzerne im Jemen für Kriegsverbrechen genutzt werden. Eine interaktive Zeitkarte soll als Plattform für nationale und internationale Justizbehörden dienen, die zum Krieg im Jemen ermitteln.
Das ECCHR hat bereits 2019 beim Internationalen Strafgerichtshof eine Strafanzeige gegen wirtschaftliche und staatliche Akteure eingereicht, die in Waffenexporte involviert sind. "Es ist äußerst wichtig, dass unterschiedliche Disziplinen und Perspektiven zusammenkommen und Kräfte gebündelt werden", glaubt Andritsou. Trotz all seiner Schwachstellen sei vor allem das Justizsystem einer der wichtigsten Kanäle für Gerechtigkeit und einer der direktesten Wege, um etwas für die Betroffenen zu erreichen.
Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.