Amnesty Journal 21. Juni 2023

Retten verboten

Ein übervoll mit Flüchtlingen besetztes Schlauchboot auf hoher See.

Aktivist*innen, die schiffbrüchige Menschen auf der Flucht nach Europa aus dem Mittelmeer zu retten versuchen, werden häufig mit Gerichtsverfahren überzogen. Zu den Anklagepunkten zählen etwa Beihilfe zur illegalen Einreise oder Leitung einer kriminellen Vereinigung. Betroffene berichten.

Stefen Seyfert, Vorstand RESQSHIP:

Mit unserem Motorsegler Nadir fahren wir Beobachtungseinsätze im zentralen Mittelmeer. Unsere ehrenamtlichen Crews bei RESQSHIP dokumentieren dort die Menschenrechtslage, erfassen Seenotfälle und melden diese an die zuständigen Behörden. Außerdem sind wir in der Lage, Ersthilfe zu bieten, wie zum Beispiel Rettungswesten und Trinkwasser zu verteilen oder auch medizinische Erstversorgung zu leisten. Unser Einsatzkonzept ist auf die Möglichkeiten der Nadir ausgerichtet. Das Schiff ist gut und sicher ausgerüstet. Unsere Crews werden vor den Einsätzen detailliert vorbereitet und trainiert. Die Nadir benötigt wegen ihrer geringen Größe derzeit kein Schiffssicherheitszeugnis. Zukünftig soll dies nach den Plänen des Bundesverkehrsministeriums aber verlangt werden, obwohl diese Vorgaben auf die kommerzielle Schifffahrt ausgerichtet sind und für unseren spezifischen Einsatzzweck nicht geeignet sind, die Sicherheit zu erhöhen. Wir empfinden dieses Vorhaben als massive Behinderung unserer humanitären Arbeit, ohne dass es in der Vergangenheit einen Anlass gab, an der Sicherheit der eingesetzten Schiffe zu zweifeln. Falls die Bundesregierung die Pläne umsetzt, wird unsere Arbeit stark erschwert oder sogar unmöglich gemacht. Mit vorgeschobenen Argumenten wird dann verhindert, dass wir Menschen in Not Hilfe leisten. Wenn man bedenkt, dass unsere Arbeit überhaupt nur nötig ist, weil die EU-Staaten ihrer Verantwortung für Menschen in Not nicht gerecht werden, ist dieses Vorgehen beschämend.

RESQSHIP e. V. wurde im Juni 2017 gegründet – von einer Gruppe von Menschen, die sich auf einer Seenotrettungsmission von Sea-Watch kennengelernt hatten. Den ersten Einsatz im Mittelmeer fuhr der Verein 2019.

Ein junger Mann mit Dreitagebart und Kurzhaarschnitt steht unter einem Sonnensegel auf einem Schiff, hinter ihm das Meer.

Stefen Seyfert, Vorstand RESQSHIP

Kathrin Schmidt, Iuventa-Crew:

Nach 16 Einsätzen im zentralen Mittelmeer wurde unser Schiff Iuventa im August 2017 von den italienischen Behörden beschlagnahmt. Fünf Jahre sollten die Ermittlungen wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise gegen einen Teil der Crew dauern, darunter auch ich. 2021 wurde schließlich das Verfahren in Italien eröffnet. Uns nunmehr vier Angeklagten drohen bis zu 20 Jahre Haft. Aktuell läuft die Vorverhandlung, in der mittels zahlreicher Anhörungen entschieden wird, ob der Fall in die Hauptverhandlung geht. Die Übersetzung der knapp 28.000-seitigen Akte wurde bis dato – von einem Polizeibericht abgesehen – ­abgelehnt, dafür wurde das italienische Innenministerium als Nebenkläger zugelassen. Es gibt an, in finanzieller und moralischer Weise durch die Rettungseinsätze der Iuventa-Crew geschädigt worden zu sein. In der Zwischenzeit hatten die Behörden die Iuventa so vernachlässigt, dass sie im Hafen zu sinken drohte. Im Dezember 2022 wurde richterlich beschlossen, dass das Schiff wieder hergerichtet werden muss. Unsere Crew hat deswegen nun gemeinsam mit anderen NGOs Strafanzeige erstattet. Prozesse dieser Art gibt es viele, und sie betreffen meist Geflüchtete. Diese systematische Kriminalisierung delegitimiert Migration und soll Flüchtende sowie Helfende abschrecken. De facto werden dadurch Fluchtrouten länger und gefährlicher. ­Europas Justiz trägt so ihren Teil zum Massensterben im zentralen Mittelmeer bei. Auch wenn dieses Verfahren mittlerweile für mich zu einer Art Tinnitus geworden ist, kann mir kein Gericht die Gewissheit nehmen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige getan zu haben.

Die Crew der Iuventa führte in den Jahren 2016 und 2017 Such- und Rettungseinsätze im Mittelmeer durch, bis das Schiff am 2. August 2017 von den italienischen Behörden beschlagnahmt wurde. Amnesty International Deutschland hat die Crew für ihren mutigen Einsatz mit dem Menschenrechtspreis 2020 ausgezeichnet.

Eine junge Frau mit lockigem Haar trägt eine Adidas-Sportjacke und steht in der Kajüte eines Schiffs.

Kathrin Schmidt von der Iuventa Crew

Sean Binder, Emergency Response Center:

Ich habe über 100 Tage in Untersuchungshaft auf einer kleinen griechischen Insel verbracht. Mir drohen immer noch 20 Jahre Haft, wenn ich der mir zur Last gelegten abscheulichen Verbrechen für schuldig befunden werde – darunter Beihilfe zur illegalen Einreise, Leitung einer kriminellen Vereinigung, Geldwäsche und Spionage! Expert*innen haben gesagt, dass die Strafverfolgung auf wenig mehr hinausläuft als "die Kriminalisierung der Lebensrettung". Was ich getan habe, dass ich mit Handschellen an Mörder gekettet und in eine kleine Zelle gesperrt wurde? Suche und Rettung. Ich verbrachte fast ein Jahr damit, die zivilen Rettungsmaßnahmen auf der Insel Lesbos zu koordinieren. Ich arbeitete mit den Behörden zusammen, um medizinische Notdienste auf See und an der Küste zu leisten.

Jetzt denken Sie vielleicht: "Okay, das klingt deprimierend, aber was hat das mit mir zu tun?" Leider hat das durchaus etwas mit Ihnen zu tun: Wenn ich dafür kriminalisiert werden kann, dass ich meist nicht viel mehr tue, als Wasserflaschen zu verteilen und zu lächeln, dann können Sie das auch.

Stellen Sie sich vor, Sie kommen an den Ort eines Autounfalls. Sie sehen jemanden am Straßenrand liegen. Er braucht eindeutig Ihre Hilfe. Was würden Sie zuerst überprüfen: seinen Puls oder seinen Ausweis? Wenn Sie, wie ich, zuerst den Puls prüfen, wäre das ein Verbrechen. Sie haben dann genau das ­gleiche Verbrechen begangen, das ich begangen haben soll. Wir müssen für die Menschenrechte kämpfen. Wir müssen gegen die Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit kämpfen, die wir in ganz Europa und darüber hinaus sehen.

Die Hilfsorganisation Emergency Response Center International hat in den Jahren 2016 bis 2018 von Lesbos aus Such- und Rettungseinsätze ­geleistet.

Ein junger Mann mit T-Shirt, sein dichtes schwarzes Haar fällt ihm bis über die Augenbrauen.

Sean Binder von der Hilfsorganisation Emergency Response Center International

Amara, El Hiblu 3:

Wir fühlen uns verängstigt, erschöpft, enttäuscht und sehr frustriert, weil wir uns in einer Situation befinden, die wir in der EU für unmöglich gehalten haben. Wir werden der Welt als Kriminelle und Terroristen präsentiert, unsere Rechte und Würde wurden uns genommen. Trotzdem haben wir noch immer ­Hoffnung, dass alles gut werden wird. Da wir von Leuten und Menschenrechtsorganisationen unterstützt werden, die uns als Helden bezeichnen, haben wir Hoffnung auf eine Zukunft.

Drei junge Männer, mit dem Rücken zur Kamera unter freiem Himmel, einer von ihnen dreht sich um, er hält ein Handy in der Hand.

Im März 2019 trugen die Jugendlichen Amara, Kader und Abdalla (Nachnamen auf eigenen Wunsch nicht genannt) dazu bei, einen illegalen Pushback zu verhindern. Gemeinsam mit rund 100 weiteren Menschen waren sie vor Gewalt in Libyen über das Mittelmeer geflohen und von der Besatzung des Öltankers "El Hiblu 1" aus Seenot geborgen worden. Als der Kapitän versuchte, die Geretteten nach Libyen zurückzubringen, halfen die drei, dies zu verhindern, indem sie zwischen der Besatzung und den Geflüchteten übersetzten und vermittelten. Niemand auf dem Tanker kam zu Schaden und alle erreichten einen sicheren Hafen auf Malta.

Bei ihrer Ankunft wurden Amara, Kader und Abdalla, damals 15, 16 und 19 Jahre alt, verhaftet und der Schiffsentführung, Bedrohung der Besatzung sowie terroristischer Aktivitäten beschuldigt. Seither sind die drei unter dem Stichwort "El Hiblu 3" bekannt. Nach vier Jahren monatlicher Anhörungen befindet sich ihr Fall immer noch in der Beweisaufnahme. Es ist unklar, ob die Staatsanwaltschaft Anklage erheben oder die Vorwürfe fallen ­lassen wird. Sollten die drei jungen Männer verurteilt werden, drohen ihnen lange Haftstrafen.

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