Amnesty Journal Deutschland 17. Juli 2023

Dein Feind und Helfer

Zwei Polizist*innen, beide tragen Uniform und Mundnasenschutz, kontrollieren einen schwarzen Mann.

Die Polizei genießt großes Vertrauen bei der deutschen Bevölkerung. Doch zunehmende Berichte über Rassismus, rechtsextremen Terror und gewaltsame Übergriffe auf Bürger*innen lassen das gute Image bröckeln. Ein Standpunkt von Stephan Anpalagan.

Es sind Zahlen, von denen ­andere Berufsgruppen nur träumen können: Mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland haben großes oder sehr großes Vertrauen in die Polizei. Sie gehört seit Jahrzehnten zu den Berufen mit dem höchsten Ansehen, und im deutschen Fernsehen beschäftigen sich beinahe 100 Serien regelmäßig mit ihrer Arbeit.

Man kann kaum glauben, dass diese Institution ein Imageproblem hat, obwohl bereits Kinder "Räuber und Gendarm" spielen und Erwachsene in nahezu kultischer Verehrung jeden Sonntagabend den "Tatort" schauen.

Seit einigen Jahren bekommt das Bild der freundlichen Polizei allerdings Risse. Risse, die selbst für die Mitte der Gesellschaft sichtbar werden. Nachrichten über Polizeigewalt, Rassismus, Rechtsextremismus, ja sogar Terrorismus in den Reihen der Polizei machen Schlagzeilen. Die seit Ewigkeiten eingeübten Erklärungen verfangen nicht mehr: Die Rede von den "Einzelfällen" taugt ebenso wenig wie der Verweis, die Polizei sei lediglich das "Spiegelbild der Gesellschaft".

Rechtsextreme, rassistische, antisemitische Gruppenchats

Es ist bemerkenswert, mit welch stoischer Realitätsleugnung Polizeifunktionär*innen, Polizeigewerkschafter*innen und Innenminister*innen die zahlreichen Vorfälle kleinreden und konsequenzlos an sich vorbeiziehen lassen. Dabei wäre es durchaus angemessen, die demokratiefeindlichen Umtriebe in den Sicherheitsbehörden zum Anlass zu nehmen, um deren Aufsicht, Kontrolle und Transparenz zu überprüfen und deren Selbstheilungskräfte zu stärken.

Die Grenzüberschreitungen der uniformierten und bewaffneten Staatsdiener*innen zeichnen ein düsteres Bild: In Essen, Mülheim und Münster stehen Dutzende Polizist*innen im Verdacht, rechtsextreme Bilder in WhatsApp-Gruppen geteilt zu haben. Dem Ermittlungsbericht des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen ging das Handeln der Polizis­t*in­nen "deutlich über das Posten rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher, rassistischer und antisemitischer Inhalte" hinaus und wies "nahezu alle Aspekte des Syndroms Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" auf. Dennoch muss niemand mit Haftstrafen rechnen. Die allermeisten Beschuldigten befinden sich weiterhin im Dienst.

In Düsseldorf wurden zwei Polizisten verurteilt, die einen wehrlosen Mann am Boden fixiert und minutenlang geschlagen haben, bis das Opfer mehrere Knochenbrüche im Gesicht erlitt. Sechs weitere Beamte sicherten die Szene gegen Zuschauer*innen ab. Vor Gericht bestritten die Beamten die Vorwürfe. Nur durch die Aufzeichnungen von Überwachungskameras in der Düsseldorfer Altstadt konnten die Täter überführt und verurteilt werden. Beide Polizisten befinden sich noch immer im Dienst. Die Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt.

Auffallend viele "Einzelfälle"

In Frankfurt ließ sich bis zum 1. Polizeirevier zurückverfolgen, wie Anschriften von Rechtsanwältinnen, Politiker*innen und anderen öffentlichen Personen abgerufen wurden. Sie alle erhielten kurz da­rauf Morddrohungen, die mit NSU 2.0 unterschrieben waren. Als man die Privaträume der Polizistin durchsuchte, die die Daten abgerufen haben soll, stellte man fest, dass sie Mitglied einer rechtsextremen Chatgruppe war, die ausschließlich aus Polizist*innen bestand. Ein besonders aktives Gruppenmitglied war bereits in der Vergangenheit mit rechtsextremen Sprüchen aufgefallen: Er wohnt mit seinem Bruder, der ebenfalls Polizist ist, in der Rechtsextremistenhochburg Kirtorf. Als man ihre Wohnungen und Grundstücke durchsuchte, fanden die Beamt*innen eine Ausstattung vor, die sie als "Nazi-Museum" bezeichneten.

Und dann sind da noch die Polizist*innen, die sich Terrororganisationen wie "Nordkreuz" oder der "Gruppe S." angeschlossen haben, Patronen, Leichensäcke und Löschkalk horteten und an einem "Tag X" politische Gegner ermorden, vermeintliche Fremde vernichten und die staatliche Ordnung stürzen wollten.

Doch trotz dieser und zahlreicher weiterer Vorfälle im ganzen Land heißt es vonseiten der Polizei und der Innenministerien, dies seien "Einzelfälle". Sie seien nicht repräsentativ für einen latenten Rassismus innerhalb der Sicherheitskräfte, seien kein Beleg für einen strukturellen Rechtsextremismus in der Polizei. Problematisch sei vielmehr die fehlende Anerkennung und die Gewalt gegenüber Polizeibeamt*innen.

Rechtswidrige Kontrollen

Das ist nicht ganz falsch. Wer sich in diesen gefährlichen Dienst begibt, hat es verdient, dass sie oder er ordentlich ausgebildet, ausgerüstet und ausgestattet wird. Dass sie oder er vernünftig bezahlt und geschützt wird. Dass sie oder er von uns allen geachtet und respektiert wird. Doch mit der Ausbildung, der Ausrüstung, der Ausstattung, den Befugnissen, den Mandaten, der Stellung in unserer Gesellschaft geht auch eine besondere Verantwortung einher.

Die Taten einzelner Polizeibeamt*innen finden nicht im luftleeren Raum statt. Polizist*innen bewegen sich in einer Umgebung, in der sich die Ressentiments gegenüber ganzen Bevölkerungsgruppen in offiziellen Polizeibegriffen wie "Nafri" oder "Döner-Morde" entladen. Kaum ein rassistischer Anschlag kommt ohne Polizeiversagen und "Ermittlungspannen" daher. In Fällen rechtsextremen Terrors wie beim NSU oder in Hanau werden regelmäßig die Angehörigen der Opfer verdächtigt – einzig und allein, weil sie Migrant*innen sind. Tausende Polizist*innen kontrollieren jeden Tag nichtweiße Bürger*innen dieses Landes, weil sie das "Racial Profiling" so gelernt haben. Mittlerweile gebieten Gerichte dieser rechtswidrigen Praxis immer häufiger Einhalt.

Der Wunsch nach einer besseren, transparenteren Polizei unter demokra­tischer Kontrolle geht zurück auf Schutzgüter von Verfassungsrang: dem Wunsch, dass der Staat die Menschenwürde verteidigt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, dass niemand in diesem Land um Leib und Leben fürchten muss.

Dies sicherzustellen, ist Aufgabe der Polizei. Denn mit großer Macht ist große Verantwortung verbunden. Der Vertrauensvorschuss in die beliebteste Berufsgruppe existiert. Aber nicht mehr uneingeschränkt.

Stephan Anpalagan ist Diplom-Theologe, Publizist und Geschäftsführer der gemeinnützigen Unternehmensberatung "Demokratie in Arbeit".

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