Amnesty Journal Deutschland 26. August 2020

Niemals müde in Hanau

Menschen mit schwarz-weißen T-Shirts halten Schilder mit den Porträts der Ermordeten in den Händen

Zusammenstehen: Trotz der abgesagten Demonstration findet am 22. August 2020 in Hanau eine Kundgebung statt.

Sechs Monate nach dem rassistischen Anschlag in Hanau haben die Betroffenen noch viel vor. Sie kämpfen für Aufklärung, Konsequenzen, Erinnerung und Gerechtigkeit. Und lassen sich von Corona nicht stoppen.

Von Lea De Gregorio (Text) und Bernd Hartung (Fotos und Videos)

Unscheinbar liegen der "24/7 Kiosk" und die "Arena Bar & Café" neben einem Friseursalon und einem Lidl-Parkplatz. Hanau, Stadtteil Kesselstadt. An der Kioskfassade haften Sticker mit den Namen der neun Menschen, die am 19. Februar 2019 in der Stadt ermordet wurden: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov. "Rassismus tötet" steht auf einem der Sticker in vielen Sprachen, auf einem anderen "#saytheirnames".

Dort, am Kurt-Schumacher-Platz, hätte am 22. August eine Demonstration starten sollen, um an den Anschlag vom 19. Februar 2020 zu erinnern, um die Namen derer lebendig zu halten, die aus dem Leben gerissen wurden. Sie mussten sterben, weil der Täter sie als migrantisch wahrnahm – Tobias R., ein Rechtsextremer, ein Rassist.

Ein Mann mit gebräunter Haut, gut sichtbaren Muskeln und einem schwarzen Shirt steht auf dem Lidl-Parkplatz. Menschen kaufen ein, schieben Wägen zu ihren Autos, wie sie es auch vor der Tat getan haben, wie sie es immer tun. "Security" steht auf dem Shirt des Mannes. Während der Tat war er im Dienst. "Ich habe gehört, wie die Leute von oben riefen: aufpassen, aufpassen – und dann habe ich gesehen, wie er ihn tötet". Mit ihn meint er Vili Viorel Păun, dessen Porträtbild mitten auf dem Parkplatz steht. Er wurde in seinem Auto erschossen.

Die Suche nach Aufklärung

Der "24/7 Kiosk" vor der "Arena Bar & Café" ist einer der Tatorte, an dem Tobias R. ein Massaker angerichtet hat; der Kiosk ist inzwischen geschlossen. Die Räume hinter den Scheiben sind leer. Sechs Monate sind seit der Tat vergangen. Was hat sich seither getan?

"Wenig", sagt Seda Ardal von der "Initiative 19. Februar" im Vorfeld der geplanten Demonstration. "Es war ein Kampf, bis die Morde überhaupt als rassistische Taten anerkannt wurden." Viele sind wütend, viele sind laut, wollen Erinnerung, Gerechtigkeit, Konsequenzen und Aufklärung. "Wir wollen Aufklärung, weil alle Angst davor haben, dass die Akten einfach geschlossen werden", sagt Ardal. "Der Täter ist tot." Tobias R. erschoss nach dem Anschlag seine Mutter und sich selbst.

Der Generalbundesanwalt spricht von einer beispiellosen Tat. Dabei steht das Attentat in einer langen Reihe rechtsextremer Gewalttaten. Und es hätte womöglich verhindert werden können, da sind sich Ardal und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter sicher. "Alle wissen aus eigenen Ermittlungen, wie sehr die Behörden versagt haben", sagt Ardal.

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Viele Fragen

Viele Fragen bleiben unbeantwortet: Warum wurde auf das Schreiben, das Tobias R. an den Generalbundesanwalt schickte und das mit dem späteren Bekennerschreiben stellenweise identisch ist, nicht reagiert? Wie kann es sein, dass er trotz seiner rechtsextremen Gesinnung, die er im Netz wiederholt zeigte, einen Waffenschein besaß? Warum wurden die Jugendlichen nicht ernst genommen, die im Jahr 2018 vor dem Jugendzentrum in Kesselstadt unweit des Tatortes von einem Mann mit Sturmgewehr bedroht wurden, bei dem es sich mutmaßlich um Tobias R. gehandelt hat?

Auf bis zu 10.000 Menschen schätzt Ardal die Anzahl derer, die am 22. August aus vielen Städten nach Hanau kommen wollten, um dafür zu demonstrieren, dass der Fall aufgeklärt wird. Einige hatten Sonderbusse organisiert. Doch die kommen nicht. Die Demonstration wurde am Abend zuvor kurzfristig verboten. Der Grund: steigende Corona-Zahlen.

Etwa 40 Menschen versammeln sich am Samstag dennoch wie geplant am Kurt-Schumacher-Platz, an einem Aufsteller mit Bildern der Ermordeten, der um einen Baum herum angebracht wurde. Es ist ein kleiner stiller Ort neben dem Parkplatz. Die Anwesenden halten schwarz-weiße Schilder mit den Porträts der Ermordeten in den Händen. Später, bei der Kundgebung auf dem Freiheitsplatz, werden diese an alle Teilnehmer verteilt. Es sind Schilder mit Bildern junger Menschen, die sich einprägen sollen.

Aktiv werden gegen Rassismus

"Ich wohne direkt gegenüber", sagt die 26-jährige Zuhal, die auf Stufen nahe des Baumes sitzt. Ihr langes schwarzes Haar weht im Wind. Ferhat Unvar, einer der Ermordeten, sei mit ihrer Schwester befreundet gewesen. In Kesselstadt, sagt sie, leben viele migrantische Familien. Sie fühle sich als Hanauerin, als Kesselstädterin. Doch es habe sich vieles verändert. "Man ist sensibler", sagt sie. Vorsichtiger. "In der ersten Phase war es Angst. Aber ich dachte auch: Ich darf mich nicht einschüchtern lassen. Ich muss aktiv werden gegen Rassismus."

Vor ihr auf den Stufen liegt ein großes Banner. Darauf steht: "Hanau war kein Einzelfall, Staatsversagen hat Struktur." Schon aus den NSU-Morden hätte mehr gelernt werden können, sagt Zuhal. Sie spricht energisch, in ihren Worten liegt Wut. Dann springt sie plötzlich auf. Sie geht zum Baum mit den Porträts, spricht einen Mann mit blauem Hemd und Kamera an. "Sie sind hier nicht willkommen", sagt sie zu ihm, der zur AfD gehört. Diese Partei habe dafür gesorgt, dass Rassismus in Deutschland wieder sichtbarer wird. "Sie haben das Unsagbare sagbar gemacht."

Die Demo ist verboten, auf dem Freiheitsplatz darf aber eine Kundgebung stattfinden. Sie wird gestreamt und ins Internet gestellt. Auf dem Platz vor einem Einkaufszentrum sind 249 rote Punkte aufgemalt für all die Teilnehmer, die trotz Corona kommen dürfen. Sie tragen Mundschutz. Die schwarz-weißen Bilder mit den Porträts der Ermordeten sind nun verteilt.

Niculescu Păun ist der Vater von Vili Viorel Păun, dessen Bild auf dem Parkplatz am Kurt-Schumacher-Platz steht. "Mein Sohn ist ein Held", sagt er, bevor die Kundgebung beginnt. Er erzählt, wie sein Sohn den Täter mit seinem Auto vom ersten Tatort am Heumarkt bis nach Kesselstadt verfolgt habe. Mehrfach habe Vili Viorel Păun an dem Abend versucht, die Polizei zu erreichen – erfolglos. Die Anrufliste auf seinem Mobiltelefon bezeuge das. Niculescu Păun ist es wichtig, dass der Einsatz seines Sohnes gewürdigt wird. Wut und Stolz mischen sich mit Trauer. Er will, dass sein Sohn gefeiert wird.

Welche Normalität?

Während Angehörige die Erinnerung an den Anschlag lebendig halten, wollen andere zurück zur "Normalität". Der CDU-Landtagsabgeordneten Heiko Kasseckert fordert in einem Kommentar im Hanauer Anzeiger, die vielen Blumen am Grimm-Denkmal auf dem Marktplatz zu entfernen. Seit Februar werden dort immer wieder Blumen abgestellt, kommen Passanten vorbei und trauern. Die Angehörigen wollen keine Gedenktafel am Friedhof, wie Kasseckert es vorschlägt, sondern ein Denkmal mitten in der Stadt.

"In diesem Land ist nichts wichtiger als Normalität", sagt Newroz Duman von der "Initiative 19. Februar" zu Beginn der Kundgebung. Sie spricht energisch. Alltagsrassismus und rechter Terror gehörten zur Normalität in Deutschland. "Wer Einzelfälle sagt, sagt, es gibt eigentlich kein Problem", betont sie. "Wir fordern ein Ende des ganz normalen Rassismus." Mehrmals wird von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern laut wiederholt: Aufklärung, Konsequenzen, Erinnerung und Gerechtigkeit.

Angehörige und Freunde halten Reden mit Forderungen voller Wut. Sie wollen, dass sich etwas ändert, dass Hanau "eine Endstation" ist, dass rassistische Taten ein Ende haben, dass in den Behörden etwas passiert. "Wie konnte es sein, dass dieser Täter so oft auffällig wurde und nicht aus dem Verkehr gezogen wurde", sagt die Schwester des ermordeten Hamza Kurtović. Sie erklärt, dass der Täter sich lange auf die Tat vorbereitet hat, etwa bei Schießtrainings in der Slowakei. Leere Versprechen von Politikerinnen und Politikern will keiner der Betroffenen hören. Es ist der Wunsch nach Klarheit, der sie zusammenhält.

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Leere Versprechen

Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan Gültekin sagt, dass Politiker schon nach dem Attentat in Halle versprochen hatten, solche Taten künftig zu verhindern. "Dabei war das Hanauer Attentat schon in Planung." Im Mai waren die Betroffenen im Hessischen Landtag und hofften, auf ihre Fragen Antworten zu bekommen. Stattdessen sei nur die "exzellente Polizeiarbeit" gelobt worden, erklärt er. Vieles am Einsatz der Polizei halten die Angehörigen aber für fragwürdig. Beispielsweise, weshalb die Polizei erst um 3:03 Uhr die Wohnung des Täters erreichte, fünf Stunden nach der Tat. Verwunderlich ist auch, dass Vili Viorel Păun stundenlang tot in seinem Auto lag.

Auch die Ehefrau von Bilal, einem Eritreer, der im Juli 2019 im hessischen Wächtersbach bei einem rassistischen Angriff schwer verletzt wurde, spricht bei der Kundgebung. Es war "als wäre die Tat an Bilal ohne Folgen geblieben", sagt sie. Auch der Täter von Wächtersbach besaß legal Waffen. Auch er war wie Tobias R. im Schützenverein. Sie und Bilal seien nach der Tat von Wächtersbach nach Hanau gezogen. "Wir haben uns in Hanau sicher gefühlt." Der Terror habe dieses Gefühl zerstört.

Die Amnesty-Gruppe Hanau will auf dem Freiheitsplatz eine Statue der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufstellen. Dem Anschlag möchte die Gruppe damit etwas entgegensetzen. "Der Freiheitsplatz ist ein guter Ort, weil dort viele Menschen vorbeikommen", sagt Ulrich Kabatek. Neslihan Inalbars-Yilmaz, ebenfalls aktiv in der Amnesty-Gruppe, sagt: "Wir waren wie betäubt." Sie ist in Kesselstadt aufgewachsen. Aber sie stellt auch fest: "Hanau ist näher zusammengerückt."

Wie ein Zuhause

An der Ecke Krämerstraße und Heumarkt stehen ebenfalls Porträts der Opfer. Dort begann am 19. Februar der Schrecken – in und vor der Shishabar "Midnight" und dem Lokal "La Votre". In der Begegnungsstätte am Heumarkt, die schräg gegenüber der ehemaligen Shishabar "Midnight" liegt, ist jeden Tag jemand. Angehörige können sich dort treffen, vernetzen, sich gegenseitig stützen und Mut zusprechen. "Der Raum ist wie unser Haus", sagt Selpil Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhat Unvar und lächelt ein wenig. Sie wird wieder ernster, als sie sagt: "Ich konnte nur hier atmen."

Porträts der Ermordeten hängen an den großen Scheiben des Ladens. Über den Scheiben steht "#saytheirnames" in blau-weißer Schrift. Newroz Duman, die am Tag zuvor die Kundgebung moderierte, sitzt an einem weißen Tisch. Ein "Yalla, Yalla Migrantifa"-Sticker klebt auf ihrem Rücken. Die 30-Jährige sieht aus, als täte ihr eine Verschnaufpause gut. "Es gibt hier keine Pause", sagt sie auf die Frage, wie es jetzt nach der Kundgebung weitergeht. Die Ermittlungen würden schließlich noch laufen. Da gelte es, weiter Druck auszuüben. Es würde außerdem nicht reichen, einmal im Jahr zusammenzukommen und zu gedenken. Rassismus müsse in allen Bildungseinrichtungen Thema sein. Zudem stünden die Familien noch vor unzähligen Alltagsproblemen. "Fünf Familien müssen aus ihren jetzigen Wohnungen raus", sagt sie. Sie wohnen zu dicht an den Tatorten, zu dicht an dem Wohnhaus des Täters und hielten das nicht aus.

Außerdem müsse sich ein Untersuchungsausschuss bilden, der gegen die Behörden ermittelt. "Wir sind hier in Hessen", sagt sie. "Die Landesregierung hat ein jahrzehntelanges Versagen hinter sich." Neben Wächtersbach und Hanau nennt sie den NSU und das Attentat auf Walter Lübcke in Kassel. "Man hat nicht genau hingeguckt und vieles vertuscht." Auch der Täter Lübckes war den Behörden bekannt. Der Tag der Kundgebung wird auf den roten Sofas in dem Begegnungsraum nachbesprochen, Hanauer aus der Initiative setzen sich zusammen mit Angereisten aus verschiedenen Städten. Die Arbeit geht weiter. Und die Energie geht ihnen dabei nicht aus.

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