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Wortgewaltig und gesäuselt

Coverplatte Re:Imagined: Wolf Biermanns Texte und Lieder entfalten im neuen Gewand wieder Wucht.
© Jürgen Ritter / Imago
Auf dem Album "Wolf Biermann Re:Imagined – Lieder Für Jetzt!" interpretieren bekannte deutsche Bands Wolf Biermanns politische Lieder neu.
Von Thomas Winkler
IIm Spätsommer tauchte der alte Polterer mal wieder auf. Die Landtagswahlen im Osten der Republik standen bevor, die politische Katastrophe war abzusehen. Und wer könnte den Deutschen besser die Leviten lesen als Wolf Biermann? Der gebürtige Hamburger und Überzeugungsostler, der nicht mehr DDR-Bürger hatte sein dürfen, aber auch mit dem Westen fremdelte, lieferte auch mit 87 Jahren noch verlässlich das Gewünschte: Er erklärte Björn Höcke (AfD) und Sahra Wagenknecht (BSW) zum "politischen Brautpaar der Stunde", zu "Erben des Hitlerschen Nationalsozialismus und des Stalinschen Nationalkommunismus". Den Ostdeutschen bescheinigte der Liedermacher, feige Jammerer zu sein.
Geholfen hat die Standpauke wenig, wenn man die Wahlergebnisse betrachtet. Vielleicht auch deshalb, weil sich manche gefragt haben dürften: Wolf Biermann? Wer ist das? Oder zumindest: Ach, lebt der noch? Der einst so Wortgewaltige, auch Nervtötende, meldet sich nur noch selten zu Wort, seine letzten Aufnahmen liegen fast ein Jahrzehnt zurück. Auch Auftritte sind sehr selten, er ist in einer Lebensphase angekommen, in der er Galakonzerte zu seinem Geburtstag besucht oder Preisverleihungen, bei denen er für sein Lebenswerk gewürdigt wird.
Als Diktatoren noch Angst vor Dichter*innen hatten
"Wolf Biermann Re:Imagined – Lieder Für Jetzt!" ist so eine Würdigung. Das Doppelalbum, für das junge und ältere, bekannte und sehr bekannte deutsche Popkünstler*innen 22 Biermannsongs neu entdeckten, ist auch eine Erinnerung daran, welche Kraft, ja Macht Biermanns Lieder und seine Poesie einmal besaßen. 1976, als Biermann von Erich Honecker aus der DDR ausgebürgert wurde, hatten Diktatoren noch Angst vor Dichter*innen, und Intellektuelle mischten sich, auch im Westen, aktiv in politische Debatten ein.
Wie einflussreich Biermanns Kunst war, zeigt sich daran, wer bei "Wolf Biermann Re:Imagined" mitmachte. Neben prominenten Namen wie Ina Müller, Wolfgang Niedecken (BAP) oder der Schauspielerin Meret Becker stehen Deutschrap-Pioniere wie Torch oder die junge Popvisionärin Balbina, die Gießener Popband OK Kid oder die Ex-Rainbirds-Sängerin Katharina Franck.
So unterschiedlich die Interpret*innen sind, so unterschiedlich ist ihr Zugang. Kaum jemand versucht, Biermanns sperrigen Vortragsstil oder seine eckige Gitarrentechnik zu imitieren. Stattdessen eignet sich die Rapperin Haiyti das Stück "Am Alex an der Weltzeituhr" an, und arbeitet aus einer typischen DDR-Geschichte über die Stasi die universelle Geschichte eines tragischen Verrats heraus. Der Nachwuchsrocker Betterov macht aus dem depressiven "Lied vom donnernden Leben" ein episches Melodrama. Und die Entertainerin Annett Louisan säuselt ausgerechnet die blutige Revolutionsfantasie "So soll es sein – so wird es sein" als Friedensutopie.
Auch Biermanns berühmte "Ermutigung" bekommt ein neues Gewand, von Bonaparte, den Veteranen des "Coolen Berlin". Das Lied steht exemplarisch für die Aktualität Biermanns, aber auch für die Kraft, die Worte haben können. "Du, lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit", heißt es da, denn ein neuer Frühling wird kommen, und "das Grün bricht aus den Zweigen". Die Hoffnung stirbt zuletzt, sie ist noch sehr am Leben – wie Wolf Biermann.
V.A.: "Wolf Biermann Re:Imagined – Lieder Für Jetzt!" (Clouds Hill/Warner)
WEITERE MUSIKEMPFEHLUNGEN
von Thomas Winkler
Murat Ertel hat einmal erzählt, wie er schon als Kind darauf trainiert wurde, Geheimnisse zu bewahren. In seiner Familie gab es Künstler*innen und Dissident*innen, und der kleine Murat musste Bücher verstecken, Briefe verbrennen und nach der türkischen Polizei Ausschau halten. Er musste auch mitansehen, wie sein Vater und dessen Brüder aus dem Gefängnis nach Hause kamen, "gefoltert, blutig und mit gebrochenen Knochen". Daraus hat der heute 60-jährige Künstler gelernt, seine Botschaften vorsichtig in seiner Musik zu verstecken. Ertel war damit so erfolgreich, dass er sich in seiner langen Karriere zwar Ärger mit der türkischen Obrigkeit einhandelte, aber mit seiner elektrifizierten Langhalslaute (Saz) zu einem der bekanntesten Rockmusiker des Landes wurde.
Auch in Deutschland ist er kein Unbekannter seit seiner Zusammenarbeit mit der Weltmusikband Embryo und dem Auftritt seiner Band Baba Zula in Fatih Akins Dokumentarfilm "Crossing the Bridge". Mit ihrem neuen Album "İstanbul Sokakları" beziehen sich Baba Zula auf die eigene Geschichte, spielen so langatmige wie spannungsgeladene Improvisationen, die eine sichere Balance finden zwischen Krautrock und Blues, Reggae und türkischem Pop. Das Album ist aber auch ein aktuelles Porträt der Stadt Istanbul, die überall aufscheint durch Field Recordings, in denen man die Möwen über dem Bosporus hört oder einen Zug, der den Bahnhof in Richtung München verlässt.
Wie diese Straßenaufnahmen erzählt auch die Musik, in der türkische Musikstile mit Einflüssen aus der ganzen Welt zusammenfinden, vor allem von einer Sehnsucht nach Offenheit. Dafür muss man die Texte gar nicht verstehen. Übersetzt man sie aber, ist Ertel diesmal für seine Verhältnisse eher unvorsichtig: Der Song "Arsız Saksağan" richtet sich "an die Journalisten, die zum Schweigen gebracht werden, an die Menschen, die eingesperrt werden, nur weil sie sich wehren".
Baba Zula: "İstanbul Sokakları" (Glitterbeat Records)