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"Das Gedächtnis der Menschheit ist nicht so kurz, wie die Täter vermuten"
Am 24. April gedenken Menschen weltweit der Ermordung Hunderttausender Armenier*innen von 1915-1923 (Armenien, Jerewan).
© Anthony Pizzoferrato / Middle East Images / AFP / Getty Images
Die Genozidforscherin Tessa Hofmann über Völkermord als Unterrichtsstoff und wie Erinnerungsprosa bei der Vermittlung helfen kann.
Interview: Tigran Petrosyan
Sie erklären in Ihrem Buch, wie sich der Genozid an Christ*innen im Osmanischen Reich an Schulen vermitteln lässt. Dieses bildungspolitische Ziel hat der Bundestag 2016 beschlossen. Was ist seither passiert?
Nur etwa ein Drittel der 16 Bundesländer hat Lehrpläne, die es ermöglichen, das Thema Genozid an einem anderen historischen Beispiel als der Shoah zu unterrichten. Da diese Regelung aber nur fakultativ ist, wird sie kaum angewendet. Der Erziehungswissenschaftler Martin Stupperich hat festgestellt, dass diese Zurückhaltung im Wesentlichen folgende Gründe hat: Die Lehrkräfte kennen sich mit anderen Genoziden nicht aus und haben auch keine Handreichungen dafür. Außerdem protestierten türkeistämmige Schüler*innen und ihre Eltern dagegen, dass der osmanische Genozid an deutschen Schulen unterrichtet wird, weil sie der Ansicht sind, dass die "Ereignisse von 1915" – so die offizielle Umschreibung in der Türkei – keinen Genozid darstellen.
Warum ist dieses Thema so wichtig?
Leider gibt es historisch und aktuell zahlreiche Beispiele für Völkermord. In Deutschland ist es sinnvoll, Beispiele zu wählen, die mit der deutschen Geschichte und Verantwortung verbunden sind: Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts an Zehntausenden Ovaherero, Nama und San von 1904 bis 1908 in der damaligen deutschen Kolonie "Südwest", dem heutigen Namibia, und die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden sowie der Sinti und Roma durch das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Aber dazu gehört eben auch der Genozid an anderthalb Millionen Armenier*innen sowie Hunderttausenden griechisch-orthodoxen Christ*innen durch den osmanischen Verbündeten im Ersten Weltkrieg. Zahlreiche vom Kaiser entsandte deutsche Soldaten wurden Augenzeugen der Vernichtung im Osmanischen Reich.
Ist das Ziel, die historische Verantwortung Deutschlands auch für diesen Genozid klarzumachen?
Die Aufarbeitung dieser negativsten Aspekte deutscher Geschichte dient der Erkenntnis historischer Verantwortung. Diese ist nicht mit persönlicher Schuld zu verwechseln. Vor allem aber verbindet sie sich mit der Hoffnung, weitere Verbrechen zu verhindern. Die Erinnerung an schwere Menschheitsverbrechen signalisiert potenziellen Täter*innen, dass das Gedächtnis der Menschheit doch nicht so kurz ist, wie sie vermuten. Kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen 1939 ermutigte Adolf Hitler etwa Zauderer in seinem Generalstab mit den Worten: "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"
Was heißt das für die deutsche Gesellschaft in der Gegenwart?
Wir sind ein multiethnisches Einwanderungsland mit der weltweit größten Diaspora türkeistämmiger Menschen: ethnische Türk*innen, Kurd*innen, Armenier*innen, Syro-Aramäer*innen bzw. Assyrer*innen und Chaldäer*innen sowie Griech*innen, deren Vorfahr*innen aus Istanbul, dem Pontosgebiet, Ostthrakien und Kleinasien stammen. Sie alle besitzen ein Recht darauf, auch die dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte zu erfahren. In der Türkei selbst wird der osmanische Genozid leider noch immer bestritten oder verharmlost.
Sie plädieren dafür, den Völkermord auch in Fächern wie Deutsch und Englisch zu behandeln, mittels postmigrantischer Prosa. Warum?
Geschichtslehrer*innen klagen oft darüber, thematisch überlastet zu sein, während am Geschichtsunterricht "gespart" wird. Die Genozidforschung ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, an der auch Soziolog*innen, Jurist*innen und Philolog*innen beteiligt sind. Das brachte mich auf die Idee, dass mit Hilfe von Prosatexten postmigrantischer Autor*innen der osmanische Genozid auch in den Fächern Deutsch, Englisch oder Französisch behandelt werden kann.
Können Sie konkrete Texte nennen?
Spezifische Erinnerungsprosa entstand zuerst in den großen armenischen sowie griechischen Diasporen Frankreichs und der USA. Dort publizierten schon früh Überlebende wie der armenisch-französische Autor Victor Gardon autofiktionale Texte. In deutscher Sprache sind, beginnend mit dem Roman "Hier sind Löwen" (2019) von Katarina Poladjan, bisher vier Prosatexte erschienen, in denen der osmanische Genozid als Urgrund einer Familiengeschichte auftaucht. Besonders bewegend ist "Gleißendes Licht" (2023) von Marc Sinan, dessen Protagonist ebenso wie der Autor einer türkisch-armenischen Familie entstammt, also Opfer und Täter zu seinen Vorfahren zählt.
Wie ist die Situation der Armenier*innen heute?
Sie sind anhaltend gefährdet: Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler*innen warnen schon seit August 2022 vor einer "imminenten Genozidgefahr" für die Armenier*innen im Südkaukasus.
Wie ist die Lage der Syro-Aramäer*innen und der griechisch-orthodoxen Christ*innen im Nahen Osten?
Sie leiden unter der wachsenden religiösen Radikalisierung und Willkürakten islamistischer Milizen. Der Nahe Osten ist die Urheimat des Christentums, aber die Angehörigen dieser Religion schwinden dort, was die Lage für die Verbliebenen noch schwieriger macht. In der Diaspora kämpfen sie gegen Assimilationsdruck und Identitätsverlust. Griech*innen gibt es in der heutigen Türkei nach dem zwangsweisen, asymmetrischen "Bevölkerungsaustausch" von 1923 kaum noch. Das sakrale griechisch-orthodoxe Kulturerbe ist dort bedroht, man denke an die Umwandlung der byzantinischen Hofkathedrale Hagia Sophia in Istanbul und die Hofkathedrale in Trabzon.
Welche Rolle spielen Religion, Rassismus und Nationalismus bei Genoziden?
Die Ursachen für Genozid sind komplex. Als gruppenbezogenes Großverbrechen geht es jedoch stets um das, was im Englischen "othering" genannt wird, also die Stigmatisierung einer Gruppe nicht nur als "anders", sondern als minderwertig und gleichzeitig bedrohlich. Schwelende innenpolitische Konflikte können auf diese Weise "umgeleitet" werden. Rassismus und Nationalismus sind dabei wichtige Treiber. Der Religion kommt eine sekundäre, aber wichtige Rolle zu. Im Fall des osmanischen Genozids wurden religiöse Unterschiede zu unvereinbaren Differenzen erklärt und Hass und Sozialneid gegenüber Christ*innen instrumentalisiert. Interessanterweise waren die Urheber*innen dieses Völkermords mehrheitlich Atheist*innen oder Agnostiker*innen.
Welche Rolle spielt Sprache bei der Gewalt?
Wenn wir beginnen, menschlichen Gruppen ihre Menschlichkeit abzusprechen, ist es nicht mehr weit bis zur Vernichtungsbereitschaft. Die jungtürkischen Genozidtäter*innen etwa bezeichneten die osmanischen Griech*innen als "Tumore", die entfernt werden müssten.
Wie kann man einen Genozid verhindern?
Sowohl die Vereinten Nationen als auch unabhängige NGOs wie Genocide Watch widmen sich der Prävention und frühzeitigen Erkennung von Genozidgefahren. Gregory Stanton hat ein bekanntes Zehn-Stufen-Modell entwickelt, das ich auch als Unterrichtsmaterial empfehle. Die vierte Stufe, die Entmenschlichung, halte ich für einen entscheidenden Kipppunkt. Die Unterzeichnerstaaten der UN-Genozidkonvention verpflichten sich, bei Bekanntwerden einer Genozidgefahr einzuschreiten. In der Praxis geschieht dies aber nur selten. Obwohl frühzeitig vor einer Genozidgefahr im Südkaukasus gewarnt wurde, schaute der bestens informierte Westen untätig zu, bis es zur Vertreibung kam. Nun war der Weg frei für die kollektive Ausbeutung der Bodenschätze in Bergkarabach. Wenn wir uns die Gründe ansehen, warum Staaten ihrer Schutz- und Präventionsverpflichtung nicht nachkommen, finden wir meist schnöden Eigennutz.
Tessa Hofmann ist Soziologin und Menschenrechtlerin aus Berlin. Im März 2024 erschien ihr Buch "Der Genozid an den indigenen Christen des Osmanischen Reiches" im V. Hase & Koehler Verlag.
Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.