Amnesty Journal Deutschland 21. März 2018

Die Übergriffe der Anderen

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Die #MeToo-Debatte rückt die sexuellen Übergriffe an Silvester 2015 in Köln in ein neues Licht. Deren Deutung als Folge der "Flüchtlingswellen" erscheint heute als offen rassistisch.

Von Tanja Dückers

Es scheint, als würde im Zuge der Diskussion um die Skrupellosigkeit von Männern wie Harvey Weinstein, Dieter Wedel und einigen anderen sowie ihrer Mitwisser, Komplizen und Weggefährten die düster-dämonische Aura der "Kölner Silvesternacht" 2015 langsam ein wenig verblassen. Denn die #MeToo-Debatte macht sichtbar, mit welcher Selbstverständlichkeit Frauen weltweit sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind – auch in den USA, in Deutschland und in anderen westlichen, aufgeklärten, liberalen und progressiven Ländern (so die Selbstwahrnehmung). Bis dahin war vielen die "Kölner Silvesternacht" als ein singuläres Ereignis erschienen.

Mehr als zwei Jahre nach dem Jahreswechsel, an dem zahlreiche Frauen in Köln – und auch in anderen deutschen Städten – Opfer von sexuellen Übergriffen und zum Teil auch Raubdelikten wurden, ist die Wendung "Kölner Silvesternacht" zum geflügelten Begriff geworden. Die Deutung dieses Ereignisses durch die Medien, durch Politiker, Feministinnen, Migrationsexperten und Prominente hat seitdem kein Ende gefunden.

Während in der öffentlichen Debatte sofort die "Flüchtlingswellen", vor allem "Asylbewerber und Illegale" (Alice Schwarzer) als ursächlich für den "Sex-Mob" (Bild) angesehen wurden und die Willkommenskultur Angela Merkels an den Pranger gestellt wurde, mehrten sich bald auch die Stimmen, die sich gegen eine Pauschalverurteilung aussprachen. Diese machten auf die stets hohe Zahl an sexuellen Übergriffen, inklusive Vergewaltigungen, während des Karnevals und des Oktoberfestes aufmerksam. Doch diese Übergriffe, meist von autochthonen Deutschen verübt, hätten bislang kaum mediales Interesse hervorgerufen. Diejenigen, die sich gegen die Dämonisierung der "Kölner Silvesternacht" wehrten, verwiesen zudem auf Zahlen des Bundesfamilienministeriums, nach ­denen knapp 60 Prozent aller Frauen in Deutschland bereits sexuelle Belästigungen erlebt haben und jede siebte Frau ­sexuelle Gewalt in strafrechtlich relevanter Form erfahren hat. Diese Zahlen sind nicht neu.

Den sicherlich anspruchsvollsten und gleichzeitig gelungensten Versuch der Einordnung der "Kölner Silvesternacht" und der Reaktionen darauf stellt der Essay "Unterscheiden und herrschen" der Soziologinnen und Geschlechterforscherinnen Sabine Hark von der Technischen Universität Berlin und Paula-Irene Villa von der Universität München dar. Wie es dazu kommen konnte, dass eine Vielzahl von Journalisten, Prominenten und anderen Meinungsmachern nach der Silvesternacht sofort pauschalisierend von einer Unvereinbarkeit der Kulturen sprechen und die sexuellen Übergriffe für eine sonst eher im ultrarechten Lager anzutreffende offen rassistische Rhetorik instrumentalisieren konnte, zeigen Hark und Villa überzeugend auf.

In einer zentralen Passage ihres Essays erläutern die Soziologinnen, "dass Rassismus und Sexismus nicht von den Identitäten oder Eigenschaften einer Gruppe oder eines Individuums her gedacht werden können, sondern nur von den Verhältnissen, in denen diese produziert und relevant gemacht werden. Weder gibt es Rassismus, weil es 'Rassen', noch Sexismus, weil es 'Geschlecht' gibt. Es verhält sich vielmehr genau anders ­herum."

Damit werden die Ereignisse der "Kölner Silvesternacht" nicht verharmlost, wohl aber wird die Konstruktion des Täterprofils und die ebenso gefährliche wie gefällige Dichotomie "Dunkelhäutiger männlicher Täter – weißes weibliches Opfer" (schon ein Topos in Disneyfilmen) hinterfragt.

Mit dem Begriff "Toxischer Feminismus" belegen Hark und Villa wiederum die Haltung von Feministinnen wie Alice Schwarzer und anderen, die rassistisch motivierten Interpretationen der "Kölner Silvesternacht" in den Medien Vorschub geleistet haben. Als "Femonationalismus" bezeichnen Hark und Villa eine Ideologie, die originär feministische Anliegen nolens volens in den Dienst von nationalistischen und rassistischen Projekten stellt. So wie der Nationalismus keine Haltung nur für Rechtsgesinnte ist, so ist er auch nicht inkompatibel mit feministischem Gedankengut. Nationalistische und rassistische Anschauungen werden geteilt, sofern sie feministischen Zielen dienlich sind – der Zweck heiligt die Mittel.

Die Zeit scheint Hark und Villa Recht gegeben zu haben:

Als sie ihr Buch schrieben, gab es die #MeToo-Debatte – deren Initiatorinnen es im vergangenen Jahr gemeinsam als "Person des Jahres" auf das Cover des Time-Magazins schafften – noch nicht.

Im Zuge dieser Debatte erinnerte man sich auch wieder an das Jahr 2013, in dem die junge Medienberaterin und Feministin Anne Wizorek bei Twitter den Hashtag "Aufschrei" etabliert hatte. Die Aufschrei-Diskussion war ein Vorläufer der #MeToo-Debatte. Zahlreiche Frauen – und auch Männer – hatten unter #Aufschrei ihre Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen und sexualisierter Gewalt öffentlich gemacht. Beinahe zeitgleich hatte die junge Journalistin Laura Himmelreich im Stern am 24. Januar 2013 ein mit "Der Herrenwitz" betiteltes Porträt über den notorisch anzüglichen FDP-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle veröffentlicht. Hierin schildert Himmelreich, wie Brüderle am Abend des Dreikönigstreffens der FDP in einer Hotelbar mit ungeniertem Blick auf ihren Busen feststellte: "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen."

Ähnlich wie auch heute in der #MeToo-Debatte warfen Frauen damals ihren Geschlechtsgenossinnen "Hysterie" vor: Die bekannte Journalistin und Buchautorin Wibke Bruhns fand die Aufschrei-Aktion übertrieben. Bei "Günther Jauch" verrannte sie sich mit der Bemerkung, Männer und Frauen seien "zwei verschiedene Spezies" so wie "Kühe und Stiere" in obskure Biologismen. So etwas sagte die erste Frau, die Anfang der siebziger Jahre im bundesrepublikanischen Fernsehen die Tagesschau-Nachrichten übernommen hatte und damit zu einer Vorreiterin in Sachen Gleichberechtigung geworden war. Die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) meinte 2013, die Äußerung ihres Parteikameraden auch noch aktiv als "Kompliment" verteidigen zu müssen.

Anne Wizorek hatte sich später auch zur "Kölner Silvesternacht" zu Wort gemeldet und die Haltung, die Sabine Hark und Paula-Irene Villa dann ausführlicher in ihrem Essay begründeten, auf den Punkt gebracht: "Geflüchtete pauschal anders zu bewerten, finde ich erstmal problematisch. Man muss sexualisierte Gewalt ansprechen und kritisieren – aber nicht nur in Bezug auf eine Menschengruppe, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem."

Die #MeToo-Bewegung sowie die Erinnerungen an die beiden früheren großen Debatten um Sexismus im Alltag haben deutlich gemacht, dass sexuelle Übergriffe und Grenzüberschreitungen überall und von allen Schichten verübt werden, von Migranten ebenso wie von Nicht-Migranten. Zweifellos bleibt "die Kölner Silvesternacht" mit ihrer hohen Opferzahl ein alarmierendes und deprimierendes Ereignis. Dennoch wurde sie nun in ein zeitliches und räumliches Kontinuum an Gewalt gegen Frauen gerückt. 

Sabine Hark, Paula-Irene Villa: Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. transcript, Bielefeld 2017. 176 Seiten, 19,99 Euro.

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