Amnesty Journal Deutschland 04. August 2022

Auf der Suche nach der Jugend

Eine ältere Frau mit Mundnasenschutz, ein älterer Herr und eine mittelalte Frau stehen in der Natur vor einer Erklärtafel und unterhalten sich, sie tragen alle Jacken, der Mann einen Regenschirm.

Gründungsgruppe des Solinger Pfades: Amnesty-Aktivist*innen Ursel Ullmann, Helmut Eckermann und Daniela Tobias (von links).

In der Welt und vor Ort: Um engagierte Menschen für die Arbeit von Amnesty zu gewinnen, müssen sie zunächst einmal auf das Thema aufmerksam werden. Ein Beispiel dieser ­Bildungsarbeit ist der Menschenrechtspfad in Solingen.

Von Nina Apin (Text) und Roland Geisheimer (Fotos)

Nass glänzend und schnurgerade liegt die Solinger Korkenziehertrasse im Regen – unterhalb rauscht der Straßenverkehr, auf die ehemalige Bahntrasse verirren sich an diesem grauen Tag nur wenige Fußgänger*innen und Radfahrer*innen. Bei schönem Wetter sehe das ganz anders aus, erzählt Daniela Tobias unter ihrer Regenkapuze: 2006 wurde die Strecke, die s-förmig durch die Stadt führt und nach 15 Kilometern in Wuppertal endet, im Rahmen des Strukturwandelprogramms "Regionale" im Bergischen Land für den nicht-motorisierten Verkehr umgebaut. "Seither hat der Solinger das Fahrradfahren entdeckt", sagt Tobias, die selbst bevorzugt mit dem Rad unterwegs ist.

An den Wochenenden, wenn bei schönem Wetter die Menschen aus der Umgebung auf ihren E-Bikes, Hollandrädern oder Scootern durcheinanderflitzen, macht der eine oder die andere vielleicht am Menschenrechtspfad in der Nähe des Botanischen Gartens eine Pause. Auf knapp 200 Metern laden 13 mit auffälligen bunten Illustrationen versehene Stahltafeln dazu ein, stehen zu bleiben und die Kurztexte zu lesen: zur Arbeit von Amnesty International und zu den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Mit Pathos und Grußwort des Alt-Bundespräsidenten

2012, zum 40. Geburtstag der Solinger Amnesty-Gruppe, wurde der Menschenrechtspfad feierlich eingeweiht, mit viel Pathos, wie bei solchen Anlässen üblich. Der damalige konservative Oberbürgermeister Norbert Feith sprach über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Alt-Bundespräsident Walter Scheel ließ ein Grußwort in seine Heimatstadt übermitteln und prophezeite dem politischen Bildungsangebot in bester Stadtlage einen großen Erfolg. Bis zur Eröffnung hatte die Amnesty-Gruppe Solingen allerdings viel Nervenstärke und Beharrlichkeit gebraucht, wie sich Helmut Eckermann erinnert: "Die Stadt wollte unseren Pfad am liebsten irgendwo im Abseits haben", erzählt der 72-Jährige und wirkt noch heute ehrlich empört.

Eine stillgelegte Müllkippe habe man ihnen angeboten und einen Friedhof. "Aber unser Thema gehört doch in die Stadtmitte, unter die Leute!" 575 E-Mails, unzählige Telefongespräche und anderthalb Jahre dauerte es, bis die Aktivist*innen den Kampf gegen die Bürokratie und das politische Desinteresse gewonnen hatten und auf die Korkenziehertrasse durften – auch dank der guten Kontakte in die Lokalpolitik, die sie durch die Betreuung von Geflüchteten während der Balkankriege aufgebaut hatten.

Unser Thema gehört in die Stadtmitte, unter die Leute!

Helmut
Eckerman
Amnesty-Gruppe Solingen

Die direkte Nachbarschaft zum Schulzentrum Vogelsang, einem Komplex aus Realschule und Gymnasium, gehört zum Konzept. Der Pfad soll ein unkompliziertes Weiterbildungsangebot "für zwi­schen­durch" sein. Die fröhlichen, für Amnesty entworfenen Illustrationen der japanischen Künstlerin Yayo Kawamura sowie eine vereinfachte Textfassung der Menschenrechtsartikel sorgen für Zugänglichkeit, ebenso die aufwändige Gestaltung: Der knallige Farbdruck und die in Stahl geätzte Schrift wirken modern, jede Tafel wird von einer metallenen Bodenplatte mit dem Amnesty-Kerzenlogo flankiert, eine robuste Schicht schützt vor Graffiti. Aufgedruckte QR-Codes führen via Smart­phone zu kleinen Audioclips, eingesprochen von Solinger Schüler*innen aus verschiedenen Herkunftsländern, die erzählen, was das jeweilige Menschenrecht mit ihrer eigenen (Flucht-)Geschichte zu tun hat. Daniela Tobias, von Beruf Grafik­designerin, konzipierte ehrenamtlich die Gestaltung. Deren Umsetzung, erwähnt Helmut Eckermann, war nicht einmal teuer: Die rund 7.000 Euro wurden durch Spenden und Sponsorengelder eingeworben.

Amnesty-Nachwuchs erwünscht

Die Zusammenarbeit mit dem Schul­zentrum, das sich ursprünglich zur Patenschaft für die 13 Tafeln verpflichtet hatte, schlief allerdings irgendwann ein: Griffen Schüler*innen anfangs sogar in Eigeninitiative zum Mikro, um einen Audioclip einzusprechen, fanden sich bald keine Freiwilligen mehr, um den Audioguide fertigzustellen, trotz des Angebots eines kostenlosen Sprechtrainings. Auch regelmäßige Führungen im Rahmen des Unterrichts oder als Teil von Wandertagen finden schon lange nicht mehr statt – es sei "unheimlich zäh", die Schulgemeinde zur Beschäftigung mit dem Pfad zu animieren, der immerhin direkt vor dem Schultor liege, sagt Daniela Tobias.

Beim Treffen in einem Café im schmucklosen Stadtzentrum sprechen die Amnesty-Aktivist*innen über die Mühen, in Kontakt mit der jungen Generation zu kommen. Die Gruppe ist mit ihren Mitgliedern gealtert: Eckermann ist seit 1982 dabei und merkt, dass seine Energie in den vergangenen Jahren "merklich nachgelassen" hat. Ähnliches berichten seine Mitstreiter*innen Ursel Ullmann (dabei seit 1993) und Bernhard Erkelenz ("fast Gründungsmitglied"). Mit der 45-jährigen Daniela Tobias, die 2007 als Studentin mit einem Protestfilm gegen die anstehenden Olympischen Spiele in China dazugestoßen war, verliert die Gruppe ihr jüngstes aktives Mitglied: Als Vorsitzende der Bildungs- und Gedenkstätte Max-Leven-Zentrum widmet sie sich jetzt ganz der politischen Arbeit gegen Anti­semitismus, unter anderem mit einer Ausstellung über den Solinger NS-Widerstand.

Klimaschutz und Menschenrechte

An engagierten Menschen fehlt es in Solingen eigentlich nicht: Das Entsetzen über den rassistischen Brandanschlag auf eine türkische Familie 1993 führte zu Ini­tiativen wie dem Solinger Appell und dem Jugendstadtrat. Auch in der Flüchtlingsarbeit sind viele aktiv, bei der Bewegung "Seebrücke" oder dem Netzwerk "Solingen hilft", das derzeit Spenden und Unterkünfte für Geflüchtete aus der Ukraine organisiert. Mit ihnen arbeitet die Amnesty-Gruppe immer wieder zusammen, aber zu einer dauerhaften Verstärkung und Verjüngung hat es bislang nicht gereicht – wohl auch, weil es in Solingen keine Universität gibt. "Sobald die jungen Leute das Abi in der Tasche haben, sind sie weg", beobachtet Helmut Eckermann.

Hoffnung setzt die Gruppe nun auf Fridays For Future, deren Anhänger*innen in der Stadt ebenfalls sehr aktiv sind. Den jungen Leuten sei durchaus klar, wie eng Klimaschutz mit Menschenrechten zusammenhänge, es habe da zuletzt vielversprechende Kontakte gegeben, sagt Helmut Eckermann. "Wir müssen endlich ran an die Jugend!", ruft Ursel Ullmann ungeduldig und lässt sich nur unwillig ­erklären, warum der gemeinsame Work­shop, den man mit der Volkshochschule und Fridays For Future geplant hat, noch immer nicht zustande gekommen ist. Es stehen die Abschluss­prüfungen an den Schulen an. Jetzt gilt es, die, die bleiben, an Amnesty zu binden – damit sie den Pfad und die Gruppe weiterentwickeln.

Weitere Informationen: amnesty-solingen.de

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