Amnesty Journal 01. Februar 2019

Verfluchter Aberglaube

Eine Frau mit rotem Kopf lacht und umarmt zwei Kinder, davor steht noch ein kleineres.

Geborgen bei der Therapeutin. Thérèse Mema Mapenzi.

In der Demokratischen Republik Kongo werden viele ­Kinder als Hexen verfolgt.

Von Bettina Rühl, Bukavu

Die 16-jährige Alliance sitzt auf einer Bank und malt. Ihr gegenüber sitzt ihre Freundin Grace, die ebenfalls bunte Stifte und ein Blatt Papier vor sich hat. Die beiden Mädchen müssen sich verrenken, weil es keinen Tisch gibt. Stattdessen malen sie auf der Bank, auf der sie auch sitzen. Das scheint die beiden nicht zu stören, sie sind ganz in die Geschichten vertieft, die sie zu Papier bringen.



Die Mädchen warten auf ein Gespräch mit der kongolesischen Therapeutin Thérèse Mema Mapenzi. Die sitzt in einem kleinen Zimmer auf dem Grundstück des katholischen Centre Olame in der ostkongolesischen Metropole Bukavu. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums kümmern sich um sozial benachteiligte Menschen, vor allem Frauen und Kinder. Seit Januar arbeitet Thérèse Mema regelmäßig mit Kindern oder Jugendlichen wie Alliance und Grace, die bisher keine psychologische Unterstützung bekamen. Die Therapeutin hört zu, wenn die Kinder von dem Alptraum erzählen, der ihre Kindheit war.



Alliance setzt sich in den Stuhl vor Memas Schreibtisch, ihr Bild hat sie mitgebracht. Die Buntstiftzeichnung zeigt ihr Elternhaus und ist aufgebaut wie ein Comic. Mit ihrer hellen, noch kindlichen Stimme beschreibt Alliance, was sie gemalt hat. Zur ersten Szene erklärt sie: "Hier kommt mein Bruder mit einer Machete und sagt zu mir: 'Hau ab, ich will dich nicht mehr sehen! Raus!'" Ihr Finger wandert auf dem Blatt Papier etwas weiter. "Mein Vater schreit auch: 'Raus!' Und meine Mutter: 'Raus! Ich will Dich nicht mehr!'" Sie wird auch von ihrer Tante verstoßen, kann nicht bei ihrer Großmutter bleiben und wird schließlich in ein Heim gebracht. In ihrem weichen Gesicht spiegelt sich keine Regung, unbeirrt erzählt sie drauf los.



Dabei sei erst noch alles normal gewesen, sagt Alliance. "Früher habe ich mit meinen Geschwistern in Kamituga gelebt, in der Nähe einer Goldmine. Es ging uns gut, und wir haben uns gut verstanden." Dann fing ihr ältester Bruder an, in der Mine nach Gold zu schürfen. Anfangs war er damit recht erfolgreich, dann hörte sein Glück plötzlich auf. Er suchte bei einem traditionellen Heiler nach einer Erklärung. Der sagte ihm, dass seine jüngere Schwester ihn verflucht habe. Als ihr Bruder nach Hause kam, war er außer sich vor Wut. "Er kam mit der Machete auf mich zu und hat geschrien: 'Ich bringe dich um!'" Bei diesen Worten zieht Alliance ihren rechten Zeigefinger an ihrer Kehle vorbei. Das ist fünf Jahre her, damals war sie elf Jahre alt, ihr Bruder 23. Von da an bedrohte er sie immer wieder.



Die Therapeutin Mema hört viele ähnliche Geschichten. "In diesem Jahr haben wir allein in der Provinz Südkivu 10.000 Kinder registriert, die der Hexerei beschuldigt wurden", sagt sie. Besonders häufig seien solche Anklagen in den Regionen, in ­denen Mineralien gefunden werden, also beispielsweise Gold, Koltan oder Kassiterit. Die Demokratische Republik Kongo ist reich an Bodenschätzen, doch wegen Korruption und Misswirtschaft ist die Bevölkerung trotzdem arm. "Die Leute glauben, sie müssen nur in eine Mine gehen und würden sofort Gold finden", sagt Mema. "Aber so einfach ist das nicht. Und wenn sie nichts finden, sind sie davon überzeugt, dass jemand sie verhext hat."



Mit solchen Anklagen lässt sich Geld verdienen. Die Zahl derer, die aus derartigen Beschuldigungen ein Geschäft machen, nimmt laut Mema zu. "Das sind vor allem die Pastoren von evangelikalen Kirchen, traditionelle Heiler und Fetischpriester. Sie beschuldigen die Kinder der Hexerei." Weil die Zahl der ­Erweckungskirchen zunehme, steige auch die Zahl solcher Anklagen. Die sogenannten Erweckungskirchen berufen sich zwar auf die Bibel, verkünden aber häufig ihre eigene religiöse Lehre. Viele ihrer Pastoren leben ausschließlich von den Abgaben ihrer Gemeindemitglieder. Religiöse Dienstleistungen wie das Erkennen und Austreiben von Flüchen lassen sie sich extra bezahlen – auf Kosten ihrer Opfer.



Wenn Alliance durch das Dorf ging, zeigten die Menschen mit dem Finger auf sie. In der Schule wurde sie von den anderen Kindern gemieden. Die allgemeine Ablehnung hielt sie irgendwann nicht mehr aus. Sie trank eine Flüssigkeit, vor der jemand sie mal gewarnt hatte, weil sie giftig sei und man davon sterben könne. Als sie im Krankenhaus wieder zu sich kam, war sie zutiefst enttäuscht, weil sie noch lebte. Als sie nach Hause kam, sagte ihr Bruder: "Ihr hättet sie sterben lassen sollen. Es wäre gut, wenn sie endlich tot wäre." Wenig später wurde sie von ihrer Familie verstoßen, fand aber zu ihrem Glück Platz in dem katholischen Kinderheim Ek’Abana in Bukavu. Von dort aus geht sie für die Gespräche mit Mema ins Centre Olame. Sie fühle sich jetzt wohl, erzählt Alliance. "Mema ist wie eine Mutter für mich. Weil ich nie eine richtige Mutter hatte." Jetzt verliert Alliance doch die Fassung und fängt an zu weinen. Aus Sicht der Therapeutin ist es ein Erfolg, dass sich das Mädchen endlich öffnet – nur so wird sie das Erlebte irgendwann überwinden können.



Im Fall der 16-jährigen Grace haben sich sogar sechs selbst ernannte Pastoren an der sogenannten Hexenaustreibung be­teiligt und das Mädchen über Monate gemeinsam gequält. Der Grund: angeblich sei Grace für den Tod ihrer Mutter verantwortlich, die 2012 an einer Krankheit gestorben ist. "Sie haben mich immer wieder geschlagen und mir tagelang nichts zu essen gegeben", erzählt Grace, die aufgeweckt ist und ähnlich wie Alliance zunächst fast unbeteiligt wirkt, während sie Mema ihre Geschichte erzählt. Denn Grace ist heute zum ersten Mal hier, sie kam erst kürzlich wieder zurück ins Heim Ek’Abana.



Zwischenzeitlich war sie in einer Pflegefamilie, dort wollte sie aber nicht bleiben. Warum das so war, wird Mema am Ende der ersten Sitzung erfragen. Noch sprechen die beiden über das Bild, und auch sie hat die Geschichte ihrer Hexenanklage gemalt. "Manchmal haben sie mich eingeschlossen, oder sie haben mich ausgepeitscht. Das konnte über Stunden gehen." Sie wurde monatelang "behandelt", manchmal für Tage eingeschlossen, ausgehungert und ausgepeitscht. Und immer wieder beteten die selbst ernannten Pastoren für die angebliche Hexe.



Nach ein paar Monaten hatte ihr Vater genug, erklärte seine Tochter für unheilbar und brachte sie ins Heim Ek’Abana in Bukavu. Von dort aus kam sie in eine Pflegefamilie, denn manchmal suchen so viele heimatlose Kinder eine Unterkunft, dass der Platz im Ek’Abana nicht mehr reicht. Dort aber setzte sich der Alptraum fort, erzählt Grace der mütterlich wirkenden Mema: Der Familienvater sei immer wieder nachts in ihr Bett gekommen, habe sie begrapscht und noch mehr gefordert. Die Mutter habe sie gezwungen, die Hausarbeit zu erledigen. Vor einigen Wochen floh Grace, zurück ins Kinderheim. Dort fühlt sie sich wohl und willkommen, auch wenn das Essen manchmal knapp ist und der Platz eng.



"Ich lebe, als wäre ich ganz alleine", beschreibt Grace. "Das ist manchmal schwer, und wenn man noch ein Kind ist, muss man dafür viel Mut haben. Und ich werde mutig sein." Auch ­Alliance fühlt sich bei Ek’Abana wohl. "Ich darf dort bleiben. Ich darf da schlafen und kriege genug zu essen. Das ist jetzt mein zu Hause."

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