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Die Verbrechen in der Sektensiedlung Colonia Dignidad sind nie juristisch aufgearbeitet worden. Gelegenheiten gegeben hätte es auch in Deutschland genug.
Von Ute Löhning
Die letzte Chance auf juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad scheint in Deutschland vertan: Die Staatsanwaltschaft Krefeld hat die Ermittlungen gegen Hartmut Hopp, die "Nummer 2" der deutschen Sektensiedlung in Chile, im Mai eingestellt. In Deutschland war es das letzte laufende Verfahren zu Verbrechen in der sogenannten "Kolonie der Würde". Die Anwälte der Opfer haben Beschwerde eingelegt und fordern, die Ermittlungen wieder aufzunehmen.
Hopp war enger Vertrauter Paul Schäfers, des Chefs der 1961 in Südchile gegründeten Kolonie; er repräsentierte die Siedlung gegenüber Deutschland und der Botschaft in Santiago als eine Art Außenminister. Die meisten der 300 Siedlungsbewohner wurden während seiner Ägide über Jahrzehnte ihrer Freiheit beraubt. Sie mussten sklavenähnliche Arbeit verüben und erlebten sexualisierte Gewalt. Einige Chileninnen und Chilenen, die als Kinder aus meist armen Familien unter Druck von den Deutschen adoptiert wurden, teilten dieses Schicksal.
Als Leiter des Krankenhauses war Hopp über Jahrzehnte nicht nur für die Behandlung von Patienten zuständig, sondern auch für die Anschaffung und Verabreichung von Psychopharmaka. Die Sektenführer stellten gesunde Menschen mit Medikamenten ruhig; etwa dann, wenn sie versuchten, aus der bewachten Siedlung zu fliehen. Hopp galt außerdem als Verbindungsmann zum chilenischen Geheimdienst DINA (Dirección de Inteligencia Nacional), dessen Angehörige nach dem Militärputsch Augusto Pinochets 1973 auf dem Gelände Hunderte Oppositionelle folterten und Dutzende ermordeten. Außerdem stand der gebildete und fließend Spanisch und Englisch sprechende Arzt auch vertrauten Medienvertretern Rede und Antwort.
In Chile liefen die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Villa Baviera – so heißt die Colonia Dignidad seit 1988 offiziell – erst Mitte der 1990er Jahre an, lange nach dem Ende der Diktatur. Chilenische Kinder aus der Umgebung wurden zu dieser Zeit noch in der Siedlung festgehalten, manche von ihnen über zwei Jahre in einem sogenannten "Intensivinternat". Eine richtige Schule haben diese Kinder nie besucht. Stattdessen mussten sie arbeiten und waren sexualisierter Gewalt durch Sektenchef Paul Schäfer ausgesetzt.
Einer von ihnen, der damals zwölf Jahre alte Cristóbal Parada, konnte 1996 einen Zettel mit einem Hilferuf an seine Familie nach draußen schleusen. Die Mutter konnte so erfolgreich Strafanzeige wegen sexuellen Missbrauchs gegen Sektenchef Schäfer stellen. Einige Anwälte, Richter und Kriminalpolizisten hatten sich nicht bestechen lassen und die Familien der betroffenen Kinder unterstützt. Die Siedlung wurde durchsucht und die Kinder befreit. Wenn auch vieles nicht annähernd aufgeklärt wurde, konnten führende Mitglieder der Sekte in Chile verurteilt werden.
Schäfer wurde 2005 in Argentinien verhaftet, wo er sich acht Jahre lang versteckt hatte. "Dabei ging es um eine kriminelle Organisation: Die Colonia Dignidad war wirklich ein Staat im Staat", sagt Rechtsanwalt Hernán Fernández, der Opfer der Sekte vertritt: "Sie haben die ganze Umgebung kontrolliert und Angst verbreitet. Auf den staubigen Landstraßen, in den Dörfern der Gegend, patrouillierten nicht chilenische Polizisten, sondern die Gruppen der Colonia, mit Motorrädern, Flugzeugen, Pick-Ups und ihren Mercedes Benz."
2013 verurteilte der Oberste Gerichtshof in Santiago Hartmut Hopp wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch von Kindern zu fünf Jahren Haft. Dieser Strafe konnte sich der Sektenarzt allerdings 2011 entziehen – indem er nach Deutschland floh. Seitdem lebt er unbehelligt in Krefeld. Ein Antrag Chiles, Hopp solle seine Strafe in einem deutschen Gefängnis verbüßen, lehnte das Oberlandesgericht Düsseldorf im September 2018 ab. In dem chilenischen Urteil seien dem ehemaligen Krankenhausleiter keine "konkreten dienlichen Handlungen" nachgewiesen worden, die Schäfers Missbrauchstaten objektiv erleichtert hätten, so die Begründung.
In einer streng formalistischen Argumentation überprüfte das Oberlandesgericht lediglich das chilenische Urteil, blendete verfügbare Erkenntnisse aus anderen chilenischen Urteilen oder sonstigen Berichten jedoch aus. Rechtsanwalt Fernández spricht von einer Beleidigung der chilenischen Justiz. "Die Bedeutung langjähriger Ermittlungen wird infrage gestellt." Zusammenarbeit auf Augenhöhe sehe anders aus; effiziente Kooperation zur Bekämpfung von Verbrechen auch. Zumindest hätte der chilenischen Justiz die Möglichkeit eingeräumt werden müssen, zusätzliche Unterlagen beizubringen, kritisiert das European Center for Constitutional und Human Rights (ECCHR).
Die Sprachwahl des Gerichts zur Beschreibung der Colonia Dignidad erinnert auf befremdliche Weise an die Selbstdarstellungen der Sekte: Sie sei ursprünglich als Wohltätigkeits- und Erziehungsgesellschaft gegründet worden, heißt es in der Erklärung des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Die Einrichtung des "Internats" bleibe – Schäfers Missbrauchstaten ausgenommen – somit sinnvoll, Hopps Handeln "sozialadäquat" und "neutral". Das ECCHR bezeichnet die Nicht-Vollstreckung der chilenischen Strafe in Deutschland als "Schlag ins Gesicht der Opfer der Verbrechen in der Colonia Dignidad".
Es blieben zuletzt nur noch die eigenständigen Ermittlungen seitens der deutschen Justiz. Sie muss auch bei Taten im Ausland ermitteln, wenn Täter oder Opfer deutsche Staatsangehörige sind. Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf und das ECCHR hatten 2011 Anzeige gegen Hartmut Hopp an dessen Wohnort Krefeld erstattet. Die Vorwürfe: Beihilfe zu Mord in Form von gewaltsamem Verschwindenlassen von Gefangenen, gefährliche Körperverletzung durch zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka ohne medizinische Indikation. Außerdem: Beihilfe zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch an Kindern in den 1990er Jahren.
Nach acht Jahren hat die Staatsanwaltschaft Krefeld diese Ermittlungen im Mai 2019 jedoch eingestellt. Es hätten sich in keinem Fall "belastbare Umstände ergeben, die einen hinreichenden Tatverdacht gegen den – jedwede Tatbeteiligung bestreitenden – Beschuldigten begründen könnten", heißt es in der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft. Es seien keine sexuellen Übergriffe des Beschuldigten bezeugt worden, die nach deutschem Recht strafbar sind. Weitere erfolgversprechende Ermittlungsansätze seien nun nicht mehr vorhanden. Hopps Verteidiger Helfried Roubicek schreibt von "Genugtuung" ob der Einstellung der Ermittlungen; es gebe "gegen Hopp de facto und de jure auch keinerlei Ermittlungsreste", die ihn für eine strafrechtliche Verantwortung überführen könnten. Die Staatsanwaltschaft komme ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zur Aufklärung nicht nach, kritisiert Fernández, sie schenke Hopp mehr Glauben als den Zeugen oder den Opfern.
Der 32 Jahre alte Chilene Jaime Parra will das nicht hinnehmen. Ab 1995 wurde er als Kind zwei Jahre lang im sogenannten "Intensivinternat" der Villa Baviera festgehalten und sexuell missbraucht. Er belastet Hopp schwer und findet es "sehr schmerzhaft", dass dieser noch immer auf freiem Fuß ist. Der Umgang der deutschen Justiz verhöhne die Opfer: "Alles, was er in Chile gemacht hat, bleibt straffrei, weil er Chile, dank seiner guten Beziehungen, trotz Ausreiseverbot verlassen konnte."
Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf vertritt den jungen Chilenen vor der deutschen Justiz. Der gesamte Komplex der in der Colonia Dignidad begangenen Straftaten sei nicht "ausermittelt". Schlangenhauf und das ECCHR hätten etliche Betroffene und Zeugen benannt, die nie persönlich vernommen worden seien. Die Staatsanwaltschaft stehe in der Pflicht, konsequent zu ermitteln, erklärt die Anwältin. Auch wenn die Ermittlungen nicht einfach seien, könne man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen: Weder im Fall der in der Siedlung missbrauchten Kinder noch im Fall der mutmaßlich etwa hundert dort ermordeten – teils noch in Massengräbern auf dem Gelände vermuteten – Gefangenen. Wichtig sei politischer Wille zur Aufklärung, sagt auch Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL). Die Einstellung der Krefelder Ermittlungen reihe sich ein "in eine lange Kette des Nichthandelns", kritisieren Schlagenhauf, ECCHR und FDCL.
In Deutschland ist in keinem Fall je Anklage erhoben worden. Dabei liefen schon 1961 Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs. Mehr als zehn weitere Verfahren gegen Vertreter der Colonia Dignidad wurden in den folgenden Jahrzehnten in Nordrhein-Westfalen eingestellt, darunter Ermittlungen, die auf Aussagen von Folterüberlebenden basierten, die Amnesty veröffentlicht hatte. Auch die Ermittlungen wegen Beihilfe zum Mord an Gefangenen gegen Reinhard Döring, der sich 2004 nach Deutschland abgesetzt hatte, wurden im Januar eingestellt. Das ECCHR wertet die mangelnden Ermittlungen in Deutschland als Verstoß gegen das UN-Antifolterabkommen. Im April kritisierte der UN-Antifolterausschuss, dass Deutschland der Folter oder Misshandlung bezichtigte Angehörige der Colonia Dignidad weder ausliefere noch gegen sie ermittele.
Deutschland sei schon längst zum Rückzugsgebiet für Täter der Colonia Dignidad geworden, kritisiert Rechtsanwalt Fernández; Hopp sei zwar nicht der einzige, aber der prominenteste Fall. Beim Ringen um eine Wiederaufnahme der Ermittlungen gehe es sowohl um Fragen von Entschädigungen, aber auch "um Nicht-Wiederholung von Straftaten und um Weiterentwicklung von Gesellschaften", sagt Andreas Schüller vom ECCHR.
Jaime Parra.
© Ute Löhning
Deutsche Justiz schützt Sadisten
Jaime Parra besuchte ab 1995 ein sogenanntes "Intensivinternat" in der Colonia Dignidad. Er wurde regelmäßig von Sektenchef Paul Schäfer missbraucht: "Zum ersten Mal bekam ich die Tabletten von Doktor Hopp", erinnert er sich. "Er hat mit Schäfer auf Deutsch gesprochen und sie mir verordnet. Auf Spanisch hat er zu mir gesagt: 'Von jetzt an musst du das nehmen, damit es dir besser geht.' Ich sollte das nehmen. Und zwar jeden Tag. Sie sollten mich gefügig machen. Ich gehorchte ohne jeden Widerstand. Ich konnte nicht sprechen, es war wie mit offenen Augen zu schlafen. Vor dem Einschlafen musste ich immer die Tabletten nehmen. Dann kam jemand und brachte mich zu Schäfer. Ich erinnere mich, dass ich die Medikamente genommen habe und erst viel später in Schäfers Zimmer wieder zu mir kam. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper, wusste aber nicht, was passiert war."
Jaime Parra hat bereits im Februar 2018 detailliert vor einem chilenischen Gericht ausgesagt. Die Protokolle liegen der Staatsanwaltschaft Krefeld vor. Sein Anwalt Hernán Fernández hatte ihn und weitere Mandanten damals zu Vernehmungen begleitet. "Paul Schäfer beging sexuellen Missbrauch an drei, vier oder noch mehr Jungen pro Tag", sagt Fernández. "Er war wie ein Raubtier und auf eine Art zwanghaft. Er ordnete an, einen Jungen um Mitternacht oder im Morgengrauen zu wecken und zu ihm zu bringen, danach noch einen anderen Jungen und so weiter. Geholfen haben ihm dabei Leute aus dem Führungskreis der Sekte. Hopp hat die Jungen gezielt auf Paul Schäfers Missbrauch vorbereitet. Die Psychopharmaka, die er ihnen persönlich verschrieb und gab, hatten keinen anderen Sinn, als das Bewusstsein der Jungen zu trüben. Er sah sie einen nach dem anderen in Schäfers Zimmer hinein- und wieder herausgehen, wissend zu was sie hineingingen."
Der Dienstsitz der Folterer
In Chile sind während der Diktatur von 1973 bis 1990 etwa 3.000 Menschen ermordet worden. Mehr als 1.000 Personen gelten als verschwunden. Auf dem Gelände der Colonia Dignidad wurden Hunderte Oppositionelle vom Geheimdienst DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) und von Führungsmitgliedern der Sekte gefoltert; nach Aussagen ehemaliger Bewohner der Siedlung wurden Dutzende ermordet und in Gruben verscharrt. Ihre Leichen wurden 1978 wieder ausgegraben und verbrannt, um Spuren zu verwischen. Bis heute ist keine einzige Person namentlich identifiziert. Sie gelten als Verschwundene. "Die Colonia Dignidad war der Ort, an dem die DINA im Süden von Chile agiert hat, die hatten dort keinen anderen Ort. De facto war das Gelände der Colonia deren Dienstort", sagt Anwältin Schlagenhauf. In dieser Zeit soll Sektenchef Paul Schäfer und Hartmut Hopp auch intensiven Kontakt zu Manuel Contreras gepflegt haben, dem Chef der DINA. Auf dem Gelände der Villa Baviera werden heute noch sterbliche Überreste in Massengräbern vermutet. Bei Grabungen konnten Forensiker an einem Ort zwar Spuren von Verbrennungen nachweisen, doch noch keine Rückschlüsse auf die Identität der Toten ziehen. Bereits 1977 hatte Amnesty International Berichte von Überlebenden der Folter in der Broschüre "Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA" veröffentlicht, durfte darüber aber wegen einer von der Colonia Dignidad angestrengten Unterlassungsklage bis 1997 nicht mehr berichten.