Amnesty Journal 10. Juni 2025

Fluchtgeschichte: "Ankommen" von Vedran Džihić

Ein junger Mann mit Kurzhaarschnitt trägt ein Longsleeve mit leichtem V-Ausschnitt und steht vor einem Bücherregal.

Anders als sein Vater sieht Vedran Džihić in einer komplexen Identität auch eine Bereicherung.

Vedran Džihić nimmt die eigene Fluchtgeschichte als Ausgangspunkt für kluge Gedanken über Flucht und Identität.

Von Tanja Dückers

Vom Flüchtlingsjungen aus Bosnien zum renommierten Wiener Politikwissenschaftler: Der 1976 geborene Vedran Džihić beschreibt in "Ankommen" sehr persönlich seine Flucht und seine Ankunft in Österreich. Demütigungen blieben dem Autor nicht erspart. So wurde er als Schüler von einem Lehrer stets mit "Ferdinand" angesprochen. Seine Erfahrungen ordnet er in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen ein – aus der Perspektive desjenigen, der als erfolgreich "angekommener" Erwachsener die Ängste und Traumata seiner Vergangenheit jederzeit abrufen kann.

Dabei stellt sich Džihić die Frage: Wenn jemand wie ich – aus dem europäischen Bosnien stammend, mit christlichem Hintergrund mütterlicherseits, groß, blond, sprachbegabt, gut in der Schule – schon solche Steine in den Weg gelegt bekam, wie muss es dann erst jemandem ergehen, der nicht diese "Vorteile" hat? Für diesen Vergleich muss Džihić nicht lange suchen: Einfühlsam beschreibt er, wie sein Vater Abdullah, ein Muslim, oft auf Ausgrenzung und Ablehnung stieß. Wie er sich immer mehr zurückzog und einen unvollendet gebliebenen Roman begann mit dem Titel: "Tagebuch eines Flüchtlings". Vedran Džihić schreibt, dass es ihm auch deshalb so wichtig sei, sein eigenes Buch zu beenden, und wie stolz sein Vater auf ihn wäre.

Kämpferisch statt depressiv

Der Sohn wird kämpferisch statt depressiv: "Jeder ist jemand", zitiert er George Tabori, und er erinnert an Hannah Arendt, die in ihrem berühmten ­Essay "We Refugees" Einfühlung und ­einen Perspektivwechsel forderte. Džihić schreibt: "Was geschieht mit 'Anderen', wenn sie am Abend in den Nachrichten von Plänen zur 'Remigration' hören oder Debatten wie jene über die Leitkultur?" Er zweifelt an fixen Konzepten wie dem der finalen Ankunft. Und anders als sein Vater sieht er in einer komplexen Identität auch eine Bereicherung: "Aus mir wird wohl nie ein 'organischer' Österreicher, genauso wenig wie ich jemals wieder 'ein echter Bosnier' werde (…) Nationen sind nicht meines." 

Der Autor setzt sich mit der neu aufgeflammten Leitkulturdebatte auseinander, mit der schrittweisen Normalisierung des rechten Diskurses und den Erfolgen der FPÖ in Österreich und der AfD in Deutschland. 

Džihić schlägt dabei keinen larmoyanten Anklageton an. Stattdessen wirft er einen differenzierten Blick auf eine Aufnahmegesellschaft, die dem Flüchtling unberechenbar begegnet – mal herzenswarm mit Willkommenskerzen, mal mit bürokratischer Kälte. Dass es auf den Einzelnen ankommt und nicht auf ein "System", ist eine Botschaft von "Ankommen". Es ist das richtige Buch zur rechten Zeit: Die FPÖ verdankt ihren gegenwärtigen politischen Erfolg der Hetze gegen Migrant*innen und der Beschwörung einer homogenen Nationalkultur, die es so nie gegeben hat. 

Tanja Dückers-Landgraf ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Vedran Džihić: Ankommen. ­Kremayr & Scheriau, Wien 2024, 112 Seiten, 20 Euro.

WEITERE BUCHTIPPS

Hindunation mit Geschichte

von Bernhard Hertlein

Weltgrößte Demokratie. Wachsende Wirtschaft. Internet-Boom. Heimat Mahatma Gandhis, der das Prinzip des gewaltlosen Widerstands perfektioniert hat. Aus diesen Mosaiksteinen setzt sich ein Indienbild zusammen, das in jüngster Zeit immer mehr Risse bekommt.

Der Literaturwissenschaftler Michael Gottlob, der unter anderem an Universitäten in Indien und Italien lehrt, beschäftigt sich als Sprecher der Indien-Ländergruppe von Amnesty International seit vielen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen auf dem Subkontinent. In seinem Buch "Menschenrechte und Erinnerungspolitik in Indien" untersucht er die ambivalente Funktion von Geschichtsschreibung und setzt sich dabei auch mit dem Vorwurf auseinander, Menschenrechtsaktivist*innen aus dem Westen stünden in der Tradition kolonialer Unterdrückung.

In kolonialer Zeit erklärten die Kolonialmächte ganze Regionen für "geschichtslos". War eine große Vergangenheit nicht zu leugnen, wie im Falle Indiens, wurde dem Land jede Fähigkeit zur Weiterentwicklung abgesprochen. Gottlob teilt die Sicht postkolonialer Autor*innen, dies sei, neben Rassismus und ökonomischer Ausbeutung, ein Instrument imperialistischer Herrschaft gewesen. Gleichzeitig distanziert er sich von postkolonialen Theoretiker*innen wie Ashis Nandy, die historisches Denken an sich ablehnen, um sich von kolonialem Ballast zu befreien.

Gottlob geht auch auf aktuelle Entwicklungen ein: Unter der von Ministerpräsident Narendra Modi geführten Regierung werden Straßennamen ausgetauscht, Schulbücher umgeschrieben, Tempel zerstört und Erinnerungen getilgt, etwa die an Gandhis Mörder. Ziel dieser Politik ist es, Indien als Hindunation und Vormacht in der Region zu etablieren. Die Folgen spüren vor allem Angehörige anderer Religionen, allen voran Muslime. 

Michael Gottlob: Menschenrechte und Erinnerungspolitik in Indien. Historische Perspektiven im Zeichen der Dekolonisierung. Transcript, Bielefeld 2024, 177 Seiten, 40 Euro.

Verzweifelte Liebe

von Frédéric Valin

Victor Heringer sagt es gleich zu Beginn: "Das Meer ist sehr weit weg von diesem Buch". Und das, obwohl "Die Liebe vereinzelter Männer" in Rio de Janeiro spielt und von der Sehnsucht handelt – der nach Liebe und nach Leben. 

Der Protagonist dieses Romans wächst in den 1970er Jahren als Arztsohn in einer Favela auf. Eines Tages bringt sein Vater einen Jungen namens Cosmin mit nach Hause, den Camilo zunächst hasst, um sich dann unsterblich in ihn zu verlieben. Warum der Junge in den elterlichen Haushalt aufgenommen wurde, bleibt unklar: Vielleicht hat Camilos Vater bei Folterungen assistiert und das Kind eines seiner Opfer adoptiert. Die Mutter zieht sich jedenfalls nach der Aufnahme Cosmins völlig von der Familie zurück und beschäftigt sich fortan nur noch damit, in einem Hinterzimmer ihre Sammlung goldener Eier zu polieren.

Der Art, wie sich Camilo in Cosmin verliebt, haftet nichts Rauschhaftes an. Es ist vielmehr eine tiefe, unbedingte Liebe, die Camilo selbst nicht versteht und die erst ganz zur Entfaltung kommt, als Cosmin tot ist – ermordet von einem Nachbarn im Viertel. Jahrzehnte später wird Camilo den Enkel des Mörders in sein Leben lassen, ohne dass dies seinen Schmerz lindert. In einer Gesellschaft, die glaubt, vorschreiben zu müssen, wie Menschen sein sollen, verhindert die Taubheit der Gefühle jede Annäherung oder Versöhnung. 

"Die Liebe vereinzelter Männer" ist ein Buch der Hitze, jeder Satz in diesem Buch brennt. Es ist ein zutiefst humanistischer und verzweifelter Roman, der die tiefen Wunden, die eine Militärdiktatur, wie jede ungerechte Gesellschaft, hinterlässt, fühlbar macht. Dieses fantastische Buch ist Bestandsaufnahme und Anklage zugleich. Am Ende gibt es keine Moral und auch keinen Appell, der die fragmentierte Handlung rückwirkend zusammen fügt – nur die Liebe vereinzelter Männer.

Victor Heringer: Die Liebe vereinzelter Männer. Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch. März Verlag, Berlin 2024, 208 Seiten, 24 Euro.

Hinter der Fassade

von Marlene Zöhrer

Der 13. Februar sollte ein Tag der Freude und Feierlichkeiten am Schulzentrum werden. Doch die von der Vertrauenslehrerin und dem Schuldirektor akribisch vorbereitete und herbeigesehnte Verleihung des Diversitätspreises an die Brennpunktschule eskaliert: Es kommt zu einer Massenpanik, einem Großaufgebot der Polizei, mehreren Verletzten, einem Toten und zu vielen falschen Verdächtigungen …

Der Jugendroman "Die Tasche" rekonstruiert die Ereignisse rückblickend anhand von Sprachaufzeichnungen, Chatprotokollen, Interviews, Presseberichten und anderen Textteilen, welche die Schüler Jakob und Musa Hamada zusammen getragen haben. Zentral ist dabei das Sprachtagebuch ihres Freundes Mohammed, das dieser mit seinem Smartphone aufnimmt und das einen ungefilterten und ehrlichen Blick auf seinen Alltag ermöglicht. Einen Alltag, der weit entfernt ist von "bunt, offen und divers" oder einem "Miteinander auf Augenhöhe", wie es die Lehrerin in ihrer Rede zur Preisverleihung beschreibt. Deshalb will Mohammed, der den Preis stellvertretend für die Schülerinnen und Schüler entgegennehmen soll, nicht an der Feier teilnehmen. Weder er noch die anderen ahnen jedoch, dass einige Mitschüler*innen eigene Pläne und Motive haben, um die Verleihung des Diversitätspreises zu boykottieren. 

Der von Houssein Kahin und Kornelia Wald multiperspektivisch angelegte Jugendroman ist in hohem Tempo erzählt. Er wirft Fragen auf, provoziert die Lesenden zu Spekulationen und lässt sie hinter die Kulissen einer oberflächlich heilen Welt blicken. Rassismus und Vorverurteilungen treten dabei ebenso deutlich zutage wie Probleme und Unsicherheiten von Jugendlichen und Erwachsenen. 

Sehr zu empfehlen ist auch die im Audio Verlag erschienene Hörbuchfassung, der es gelingt, die Spannung und Atmosphäre des Textes einzufangen. 

Houssein Kahin, Kornelia Wald: Die Tasche. Arena, Würzburg 2024, 224 Seiten, 15 Euro, ab 12 Jahren.

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