Amnesty Journal Brasilien 01. Januar 2020

Wächter des Waldes

Zwei Männer in Militäruniform sitzen auf einem Boot und halten Ausschau.

Auf der Hut. Die Waldwächter Claudio (links) und Leilson auf dem Rio Pindare.

Die Guajajara-Indianer im Nordosten Brasiliens haben ­Milizen gebildet, um ihre Lebensgrundlagen gegen illegale Holzfäller zu verteidigen.

Von Andrzej Rybak

Ein leiser Knacks verscheucht die Papageien. Claudio Guajajara, der als Kopf der Patrouille dem Urwaldpfad folgt, dreht sich um und ermahnt seine Männer mit Gesten zur Stille. Einer von ihnen ist auf einen trockenen Zweig getreten. Nach einer kleinen Pause setzt die Patrouille ihren Marsch fort. Claudio trägt Tarnkleidung, eine feste lange Hose, T-Shirt und Kappe. Seine Arme sind nach traditioneller Art mit geometrischen Mustern bemalt. Um seinen Hals hängen Ketten, darunter der riesige Stoßzahn eines Jaguars, den er vor Jahren erlegt hat.

Der Pfad endet auf einer kleinen Lichtung, auf der jemand als Schutz gegen Regen einen winzigen Unterstand aus Zweigen und Blättern errichtet hat. Doch kein Mensch ist zu sehen. "Es waren weiße Wilderer", sagt Claudio. "Sie waren vor etwa zwei Wochen hier."

"Der Wald ist unsere Mutter"

Er und seine Mitstreiter sind Wächter des Urwalds, Guardiões da Floresta. Die indigenen Guajajara haben sich zu einer Miliz zusammengetan, um ihr Land gegen Überfälle von Weißen zu verteidigen. "Wir sind 32 Krieger, alle bereit, für unser Land zu sterben", sagt der 52-Jährige pathetisch. "Der Wald ist unsere Mutter, er gibt uns alles, was wir zum Leben brauchen."

Der Wald von Caru, der in den 1980er Jahren als indigenes Gebiet ausgewiesen wurde, steht offiziell unter dem Schutz der brasilianischen Regierung. An seinen Grenzen stehen Tafeln, die Fremden den Zutritt verbieten. Doch das hindert die illegalen Holzfäller nicht daran, immer wieder einzufallen, Schneisen in den Wald zu schlagen und wertvolle Bäume zu fällen. Auch die Viehzüchter, deren Weideland an den Wald angrenzt, würden ­ihren Besitz gern vergrößern. Deswegen legten sie 2015 mehrere Feuer in dem Reservat – ein Teil des Waldes ging in Flammen auf.

Mit alten Schrotflinten, Pfeil und Bogen

Seit dem Amtsantritt von Präsident Jair Bolsonaro im Januar 2019 hat sich die Lage weiter verschlimmert. "Es herrscht Krieg", sagt Claudio. "Die Invasoren sind bereit, Gewalt anzuwenden. ­Jäger, Holzfäller, Farmer – alle haben Waffen. Es ist gefährlich." Um sich zu verteidigen, tragen die Indigenen alte Schrotflinten, manchmal auch Pfeil und Bogen.

In Brasilien sind seit 2015 rund 160 Indigene bei Landkonflikten getötet worden. Im Bundesstaat Maranhão, wo der Urwald mit Ausnahme der indigenen Gebiete fast komplett abgeholzt wurde, kommt es besonders oft zu Gewalt. Killerkommandos haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten etwa 80 Guajajara-Aktivisten getötet. Die Polizei greift kaum noch ein, und auch die nationale Behörde zum Schutz der Indigenen (FUNAI) ist hilflos – Bolsonaro hat sie weitgehend entmachtet und ihre Mittel gekürzt.

Doch die Guajajara haben nicht vor, klein beizugeben. Sie konnten ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Traditionen bewahren, obwohl sie am Rande des Amazonas-Urwalds leben und schon seit fast 400 Jahren ­regelmäßig Kontakt zu weißen Glücksrittern, Missionaren und Kolonisten ­haben. Insgesamt leben in Maranhão heute etwa 13.000 Guajajara in elf offiziellen Schutzgebieten. In Caru, das mit 173.000 Hektar etwas kleiner ist als das Saarland, sind es rund 420 Indigene, die meisten leben im Dorf Maçaran­duba.

Das letzte Stück Wald verteidigen

"Noch vor 40 Jahren war hier überall Urwald, der uns gehörte", sagt Maneu Guajajara. "Als die Weißen kamen, haben wir unser Land mit ihnen geteilt. Doch sie holten sich immer mehr, holzten es ab, zäunten ihre Weiden ein und drängten uns zurück. Doch dieses letzte Stück Wald werden wir nicht abgeben, wir werden ihn verteidigen – oder sterben."

Maneu bedeutet in der Guajajara-Sprache Tukan. Der alte Mann sitzt vor seinem Haus, das aus Holzbrettern gebaut ist. "Alles, was wir zum Leben brauchen, haben wir immer aus dem Wald geholt", sagt er. Nun ist diese Lebensgrundlage bedroht. "Die Weißen wollen uns unsere Heimat rauben und unsere Identität zerstören."

Die neue Bedrohung schweißt die Guajajara zusammen. Noch vor zehn Jahren paktierten einige von ihnen mit den Holzfällern und verdienten am Holzschlag mit. Es war leicht verdientes Geld. Doch inzwischen haben alle Guajajara in Caru diesen Praktiken abgeschworen. "Allen ist klar geworden: Ohne Wald gibt es für uns keine Zukunft", sagt Claudio Guajajara.

Unterstützung aus Berlin

Es waren vor allem die Frauen, die sich vehement für den Wald einsetzten – um ihren Kindern eine Zukunft zu sichern. Sie begrüßten die Gründung der Miliz zum Schutz des Waldes und beschlossen vor vier Jahren, sich ebenfalls zu organisieren. "Wir wollten es nicht den Männern überlassen, den Wald zu schützen, sondern sie tatkräftig dabei unterstützen", sagt Marcilene Guajajara. Ihren Zusammenschluss nannten sie Kriegerinnen des Waldes, Guerreiras da Floresta. Seit zwei Jahren wird das Guerreiras-Projekt von der Berliner Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt finanziell unterstützt.

Heute machen etwa 16 Frauen bei den Kriegerinnen mit. Die 36-jährige Marcilene Guajajara ist eine der Anführerinnen. "Wir begleiten die Männer auf den Patrouillen, schleppen Essen und Geschirr und kochen", sagt sie. Am Anfang marschierte die Angst mit. Doch die Frauen lernten schnell, mit potenziellen Gefahren umzugehen. "Die meisten Eindringlinge versuchen zu fliehen, wenn sie uns kommen hören, und lassen alles stehen und liegen", erzählt Marcilene. Die Indios nehmen die Motor­sägen, Flaschenzüge und Werkzeuge der Holzfäller an sich und übergeben sie später der Polizei. Ein paar Mal gelang es ihnen auch, Eindringlinge zu ergreifen.

Mit GPS und Funkgeräten auf Spurensuche

Vier Jahre nach der Gründung verfügen die Wächter und die Kriegerinnen über eine Ausrüstung, die ihnen die Arbeit erleichtert. Dank finanzieller Zuwendungen von NGOs und der FUNAI, konnten sie GPS- und Funkgeräte anschaffen. Sie haben Kanus mit Außenbordern, um auf den Grenzflüssen Caru und Pindare zu patrouillieren und zwei Quads, die sie für den Transport in der Trockenzeit nutzen. Die Frauen setzen inzwischen eine moderne Drohne für die Überwachung ein. "Wenn wir Spuren von Eindringlingen entdecken, marschieren wir sofort los", sagt Marcilene.

Der Waldschutz stellt die Guajajara vor manche Herausforderungen. Wenn die Männer auf Patrouille gehen, bleibt die ­Arbeit auf den Pflanzungen für mehrere Tage liegen. "Wenn es zu einer Konfrontation kommt, und etwas passiert, dann bleibt die Familie ohne Vater – und es gibt keine Entschädigung", schimpft Marcilene. Aufgeben kommt für sie dennoch nicht in Frage: "Ohne unser Land verlieren wir unsere Würde", sagt die Frau. "Die Indigenen in der Stadt leben meist in bitterer Armut und sind dem Alkohol verfallen."

Marcilene und ihre Kriegerinnen fahren oft in die nahe ­gelegenen Orte Santa Inês, São João do Carú und Alto Alegre. Sie leisten dort Aufklärungsarbeit, halten Vorträge und nehmen an Diskussionen teil. "Wir wollen unseren Nachbarn erklären, wie wichtig der Wald für uns ist", sagt Marcilene. Dabei stoßen sie auch auf Ablehnung, Vorurteile und Feindschaft. Doch die Frauen wissen, damit umzugehen. Sie haben in den vergangenen Jahren neues Selbstbewusstsein gewonnen. Heute sind sie stolz auf ihre Herkunft.

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