Amnesty Journal Brasilien 26. März 2019

Amnesty-Filmpreis: Kampf um die Köpfe der Kinder

Ein Liebespaar hält sich auf einer Straße die Hände.

Regisseurin Eliza Capri sagt, dass es vielen Brasilianern schwer fällt, selbstbewusst Ziele und Träume zu artikulieren. 

Der Film "Espero tua (re)volta" der Brasilianerin Eliza Capai gewinnt den Amnesty-Filmpreis auf der Berlinale. Es geht um das Begehren der jungen Generation.

Von Jürgen Kiontke

São Paulo, 2018: "Wer sich mit uns anlegt, legt sich mit ­Satan an!" Macela, ihre Freunde Nayara, Koka und viele andere Schüler und Studierende São Paulos sind wütend: Gerade eben hat der Gouverneur die Schulen geschlossen und dafür ein Gefängnis eröffnet. Dabei hat Brasilien schon die dritthöchste Anzahl an Häftlingen weltweit. Die Polizei schlägt wahllos auf Demonstranten ein, und gerade erst ist ein Gegner der Proteste mit seinem Auto mitten in eine Demonstration gefahren. 

Die jungen Leute haben es satt, deshalb haben sie die Universität besetzt. Sie wollen ein Bildungssystem, das nicht nur die Klassenverhältnisse zementiert, indem es arme Schüler in schlecht ausgestattete Schulen pfercht, während die Oberschicht ihre Kinder auf Privatschulen schickt. Wie ihre Freunde hat sich Macela eine rote Pappnase aufgesetzt und bringt die Bildungsmisere knapp auf den Punkt: "Die Polizisten können nicht mal die Preisschilder auf den Tränengasgranaten lesen, die sie werfen."

Eliza Capais Film "Espero tua (re)volta", zu Deutsch etwa "Du bist dran", ist ein hochenergetisches Video, das immer wieder zu der wütend-engagierten Macela zurückkehrt. Die Kamera filmt wilde Straßenszenen, geht in enge Flure von Schulen, schaut Demonstranten über die Schulter.

In Rückblenden erfährt man vom historischen Kontext, lernt Aktivisten und Ziele kennen. Es sind die Proteste der jungen Generation Brasiliens, die 2013 mit Fahrpreisdemonstrationen begannen, aber schon kurze Zeit später das Thema Bildung in den Mittelpunkt stellten. "Wie wird unsere Zukunft aussehen?", fragen die Protagonisten zwischen Uni-Besetzung und lautstarkem Straßeneinsatz. Sie wollen wissen: "Wirst du frei und du selbst sein können? Werden Mädchen respektiert werden? Werden die Schulbücher schwarze Menschen erwähnen?" 

Waren es 2015 noch Schulen, die besetzt wurden, um damit mehr Bildungsgerechtigkeit zu fordern, ist es 2016 bereits ein Lokalparlament. Es hatte sich eine Massenbewegung geformt, da hatte die brasilianische Politik ihren krassen Rechtsruck noch gar nicht erfahren. "Das alles passiert mit der ersten Frau als Brasiliens Präsidentin", heißt es im Film. Will sagen: Eigentlich haben wir doch unsere Ziele erreicht. 

Was damals virulent war, bricht heute auf: Das Land hat mit Jair Bolsonaro ein extrem rechtes Staatsoberhaupt gewählt. "Er will Frauen an den Herd, Schwule und Lesben zurück in den Schrank. Er prahlt mit Gewalt und droht Minderheiten", sagt ­Capai. Bolsonaro lässt keinen Zweifel daran, für wessen Interessen er steht. Es kann also alles noch viel schlimmer kommen. 

Das Recht auf Bildung

Es scheint, als habe der mit 5.000 Euro dotierte Amnesty-Filmpreis dieses Jahr einen besonders würdigen Preisträger gefunden – feiert doch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ihr 70. Jubiläum. Ihr Artikel 26 behandelt das Recht auf Bildung. 

Aktueller könne ein Film derzeit kaum sein, befand denn auch die Jury, zu der die Schauspielerin Pegah Ferydoni, die Produzentin und Regisseurin Feo Aladag und Amnesty-General­sekretär Markus N. Beeko gehörten. Sie zeichneten Regisseurin Capai im Februar bei den Berliner Filmfestspielen aus. 

Insgesamt waren 18 Filme für den Preis nominiert, darunter Werke wie etwa "Born in Ein" von Maryam Zaree über die Geschichte ihrer Geburt im berüchtigten Foltergefängnis von Teheran, und "Talking About Trees" von Suhaib Gasmelbari über die aktuelle politische Lage im Sudan. Starken Eindruck hinterließen auch Rodd Rathjens "Buoyancy" über Sklavenarbeiter auf asiatischen Fischkuttern und "Midnight Traveler", in dem Regisseur Hassan Fazili seine Flucht aus Afghanistan mit dem Handy dokumentiert hat. 

Ein Ringen um Demokratie

Capais Film war einen Tick überzeugender: "Stellen Sie sich vor, Ihre Kinder gehen auf die Straße, weil die Regierung ihre Schulen schließen will – und werden mit Tränengas beschossen und mit Schlagstöcken malträtiert", hieß es in der Begründung der Jury. "Öffentliche Schulen schließen, das betrifft immer vor allem arme und sozial benachteiligte Familien." Der Film breche mit konventionellen Erzählstrukturen und begleite in seiner non-linearen dokumentarischen Form junge Menschen bei ihrem Ringen um Demokratie. 

"Er berührt Themen, die wirklich relevant sind", sagte Jurorin Feo Aladag. "Es ist ein Film, der uns mitnimmt, der trotz Schwere des Inhalts Hoffnung und Kraft gibt. Und der ein Aufruf zum Optimismus ist, indem er sagt: 'Du hast eine Stimme. Sie kann gehört werden.' Ich denke, das macht einen Film aus, der in unserer Auswahl läuft – und das macht auch Amnesty International aus."

Solidarität und demokratische Werte leben, selbstbewusst Ziele und Träume artikulieren, das falle vielen Brasilianern offensichtlich schwer, stellte Regisseurin Eliza Capai fest. Sonst hätten nicht so viele Bolsonaro gewählt und sich auch noch über seinen Sieg gefreut. Kulturschaffenden falle die Arbeit derzeit nicht leicht, Bolsonaro habe direkt das Kulturministerium geschlossen.

"Viele sind sogar glücklich mit dem rechten Hardliner, da sieht man das Ergebnis unserer Bildungspolitik", so die Regisseurin. Diktatur und Sklaverei seien noch in so manchen Köpfen. "Da fällt es vielen schwer, die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft zu entwickeln." Seine Wähler hätten für Bolsonaro gestimmt, obwohl er Minderheiten und Armen den Krieg erkläre, kurz: Individuen in Menschen erster und zweiter Klasse einteile. 

Der Preis schaffe internationale Aufmerksamkeit, sagte ­Capai in ihrer Dankesrede, und die sei derzeit enorm wichtig. Fundierte Informationen über Brasilien erhalte man mittler­weile eher über die internationale Presse als über inländische Medien. Sie appellierte besonders an die Deutschen, Brasiliens Entwicklung kritisch zu begleiten. "Wie es ist, wenn Extremisten auf ­legalem Wege in die Regierung gelangen, das weiß niemand ­besser als die Deutschen."

Von seinem Vorgänger inspiriert

Bereits im vergangenen Jahr war mit Karim Aïnouz ein Brasilianer Träger des Amnesty-International-Filmpreises. Der Regisseur hatte die Verleihung genutzt, um einen Offenen Brief brasilianischer Kulturschaffender zu verlesen, der auf die Zustände in seinem Heimatland aufmerksam machte. Mit Aïnouz verbindet Capai eine eigene Geschichte: Seine Filme hätten sie inspiriert, selbst zu drehen. 

Auch in ihren früheren Werken beschäftigte sich die 40-jährige Dokumentarfilmerin mit sozialen Themen und alternativen Erzählformen, etwa in "Tão longe é Aqua" ("Here Is So Far", BRA 2013), der auf Begegnungen mit Frauen während einer siebenmonatigen Reise durch Afrika basiert. Ihr Film "O jabuti e a anti" ("The Tortoise and the Tapir", BRA 2016) handelt von den riesigen, umweltzerstörenden Wasserkraftwerken im Regenwald Brasiliens. 

Sie selbst sagt, ihr Ziel sei es, "Stimmen aus den Randzonen der Gesellschaft zu verstärken und dem Publikum nahe zu bringen."

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