Amnesty Journal 04. Juli 2025

Alle zehn Minuten ein Femizid

Frauenschuhe, manche hochhackig, über einen Kopfsteinplatz verteilt, stehen paarweise zusammen.

Keine Einzelfälle: Aktion gegen Femizide, Amsterdam 2023

Weltweit wird alle zehn Minuten eine Frau ermordet, weil sie eine Frau ist. Meist wird die Tat als bedauerlicher Einzelfall dargestellt. Dies verdeckt das antifeministische und häufig rechtsextreme Gesellschaftsbild, das solche Femizide befördert.

Von Dinah Riese

Am 12. Mai überfuhr im niedersächsischen Varel ein Mann seine getrennt lebende Ehefrau absichtlich. Die Frau war zu Fuß unterwegs, als der 38-Jährige mit hoher Geschwindigkeit auf sie zufuhr und sie so schwer verletzte, dass sie noch am Tatort starb. Gegen den Mann lag ein gerichtlich angeordnetes Annäherungsverbot vor.

Am selben Tag tötete ein Mann in Nienburg seine Ex-Partnerin auf einem Parkplatz, indem er mit einem Messer mehrfach auf sie einstach. Eine Woche zuvor hatte in Goslar ein Mann seine schlafende Ehefrau in der gemeinsamen Wohnung mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und angezündet. Sie wurde schwer verletzt auf der Straße gefunden und starb an den Brandwunden.

Dutzende Fälle in Deutschland – allein bis Mai 2025

Für Taten wie diese gibt es ein eigenes Wort: Femizid. Es bedeutet, dass Frauen getötet werden, weil sie Frauen sind. Die geschilderten Fälle sind nur drei von insgesamt 37, die nach Angaben der Aktivistinnen von "Femizide stoppen" allein im Zeitraum Januar bis Mai 2025 in Deutschland verübt wurden. Sie zeigen, wie erschreckend alltäglich Femizide sind. Im Jahr 2023 registrierte das Bundeskriminalamt 360 vollendete Tötungsdelikte an Frauen und Mädchen – fast jeden Tag einen. Ob es sich bei jedem dieser Fälle um einen Femizid handelt, ist unklar, dafür fehlt die Datengrundlage. Doch ging es bei 247 dieser Fälle um häusliche Gewalt; 155 der Frauen wurden von ihren (Ex-) Partnern ermordet.

"Alle zehn Minuten töteten Partner oder Familienmitglieder 2023 eine Frau vorsätzlich." Mit diesem Satz brachten die Vereinten Nationen die weltweite Situation auf den Punkt: Im Jahr 2023 wurden 85.000 Frauen und Mädchen Opfer von Femiziden. In 60 Prozent der Fälle waren die Täter Angehörige oder Partner. Die Zahl der ermordeten Frauen ist tatsächlich wohl noch viel höher, denn laut UNO gibt es in etwa vier von zehn Morden an Frauen zu wenig Informationen, um sie zweifelsfrei als Femizid einzuordnen. Grund dafür sind nationale Unterschiede bei der Datenerhebung und den strafrechtlichen Ermittlungen.

Denn nicht immer, wenn eine Frau ­getötet wird, handelt es sich um einen ­Femizid. In Mexiko sind im Strafrecht ­sieben Merkmale definiert, die auf einen Femizid hindeuten. Dazu gehört neben einem (früheren) Beziehungsverhältnis zwischen Opfer und Täter etwa das öffentliche Zurschaustellen des Opfers oder erniedrigende Verletzungen oder Verstümmelungen. Das Land hat eine der höchsten Femizidraten weltweit. Wie in vielen anderen lateinamerikanischen Staaten ist Femizid in Mexiko ein eigener Straftatbestand. Doch führt dies nicht zwangsläufig dazu, dass Ermittlungsbehörden und Politik dem Thema mit der nötigen Ernsthaftigkeit begegnen, wie ein Bericht von Amnesty International im Jahr 2021 feststellte. 

Lateinamerikanische Proteste werden international

Dass die Morde an Frauen inzwischen zum Politikum wurden, ist nicht zuletzt lateinamerikanischen Aktivist*innen zu verdanken, die immer wieder demonstrieren und ihr Recht auf Leben einfordern. So entstand 2015 in Argentinien etwa die Bewegung "Ni una menos" ("Nicht eine weniger"), die inzwischen ­international gegen Gewalt gegen Frauen kämpft.

"Femizide sind ein besonders krasser Ausdruck geschlechtsspezifischer Gewalt", sagt Katharina Masoud, Amnesty-Fachreferentin für Geschlechtergerechtigkeit, Intersektionalität und Antirassismus, "und man kann sie nicht losgelöst von antifeministischen Ideologien betrachten." Ideologien also, die Geschlechtergerechtigkeit sowie sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ablehnen oder gar aktiv bekämpfen. "Jedem Femizid liegt die Vorstellung von männlicher Macht und Kontrolle über weibliche Körper zugrunde – bis hin zum Recht, Gewalt über diese Körper auszuüben", sagt Masoud. Wer mit der Vorstellung patriarchaler geschlechtlicher Ordnung breche, werde sanktioniert. Masoud verweist auf Fälle, in denen eine Frau entscheidet, sich von einem Partner zu trennen, dieser aber glaubt, die Frau dürfe sich ihm nicht einfach entziehen und sich schon gar nicht für einen anderen entscheiden. "Es sollen aber auch trans Frauen dafür sanktioniert werden, dass sie sich nicht der rigiden ­Geschlechterordnung fügen, oder Sex­arbeitende dafür, dass sie sich dem Bild der nur in der Ehe sexuell aktiven Frau widersetzen", sagt Masoud.

Nick Fuentes: "Your body, my choice"

Nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im November 2024 postete der US-Podcaster und Rechtsextremist Nick Fuentes ein Video auf TikTok. "Männer gewinnen wieder", jubelte er und richtete sich dann direkt an Frauen: "Wir werden euch für immer klein halten", und: "Your body, my choice" – in Abwandlung des feministischen Slogans "My body, my choice". Nicht die Frau bestimme über ihren eigenen Körper – sondern Männer.

Es ist kein Zufall, dass Fuentes, der ein "white supremacist" ist, also die Vorherrschaft der "weißen Rasse" einfordert, so offensiv die Macht über weibliche Körper beansprucht. Antifeminismus ist ein oft übersehenes, aber zentrales Element rechter und rechtsextremer Ideologie: Demnach ist die Lebenswelt und die Aufgabe der Frau das Haus, die Reproduktion und der Erhalt eines imaginierten Volkskörpers. Rechte bis rechtsextreme Kräfte vertreten überall auf der Welt ein traditionelles, zweigeschlechtliches, vermeintlich "natürliches" Rollenverständnis. Feminismus und weibliche Selbstbestimmung sind ein Angriff auf diese Ideologie und müssen deshalb bekämpft werden. Auch mit Gewalt.

Jedem Femizid liegt die Vorstellung von männlicher Macht und Kontrolle über weibliche Körper zugrunde – bis hin zum Recht, Gewalt über diese Körper auszuüben.

Katharina
Masoud
Amnesty-Fachreferentin für Geschlechtergerechtigkeit, Intersektionalität und Antirassismus

Der rechtsextreme Antifeminismus ist umso gefährlicher, weil er anschlussfähig ist bis in breite Teile der Gesellschaft. "Darauf, dass die Feministinnen den Bogen überspannen, können sich Männer unterschiedlichster Lager und Milieus immer noch einigen", schrieb die Journalistin Lea Susemichl 2019. Antifeminismus sei ein "Einstiegsdiskurs" für rechtsextreme Ideologie, sagt auch Gunda Opfer von der Amnesty-Themenkoordinationsgruppe Menschenrechtsverletzungen an Frauen.

"Die als bedrohlich empfundene weibliche Autonomie soll neutralisiert werden"

"Viele Männer sehen sich als Verlierer der Gleichstellung. Rechtsextreme nutzen das, um gegen einen vermeintlichen Genderwahn oder angebliche Umerziehung durch Feministinnen zu hetzen", sagt Opfer. Das trage dazu bei, frauenfeindliche Gewalt zu verharmlosen. "Die als bedrohlich empfundene weibliche Autonomie soll neutralisiert werden." Die Vorstellung, Männer hätten einen Besitzanspruch auf Frauen, sei in viele Kulturen und Religionen eingeprägt. Rechtsextremer Antifeminismus habe es auch deshalb so leicht, weil er an gesellschaftlich weit verbreitete Vorstellungen anknüpfe, Opfer spricht von einem "Brückennarrativ".

Die Anwältin Christina Clemm zitiert in ihrem Buch "Gegen Frauenhass" gängige Rechtfertigungen für Frauenmorde: "Die Tat geschah aus Liebe", der Tod sei "quasi aus Versehen" geschehen. "Zu einem Streit gehören immer zwei." "Nach ihrem Karriereschritt war es nicht leicht für ihn", und dass sie mehr verdiente, habe bei ihm "zu einem Gefühl der Unterlegenheit" geführt. Clemm kennt all diese Aussagen, die erklären sollen, warum ein Mann seine (Ex)-Partnerin umbringt oder es versucht, zur Genüge – ­geäußert wurden sie von Richter*innen und Staatsanwält*innen.

Gesellschaftliche Gewalt stoppen

"Antifeminismus und rechte Ideologien verschärfen die Bedrohung, der Frauen ausgesetzt sind", sagt die Anwältin Asha Hedayati. "Aber die Struktur ist ohnehin da." Immer wieder sei in den Medien von einem "schrecklichen Familiendrama" die Rede. "Die Täter als Extremisten darzustellen, macht die strukturelle und alltägliche Gewalt gegen Frauen unsichtbar", sagt Hedayati. "Wir schauen auf den Einzelfall, anstatt zu fragen: Welche Rolle spielt unsere Gesellschaft dabei, dass jemand so etwas tut?" Oft würde der Frau sogar eine Mitschuld gegeben: "Warum hat sie nicht rechtzeitig gehandelt und sich getrennt?"

Die beiden Aktivistinnen von "Femizide stoppen" wollen diesen Blick auf die Gewalt gegen Frauen verändern. "Femizide sind keine Einzelfälle, sondern haben System", steht unter jedem ihrer Instagram-Posts, in denen sie seit 2021 Femizide in Deutschland zählen. "Unsere Schulfreundin Derya und ihr Sohn Kian wurden 2021 in Köln von Kians Vater ermordet – und zunächst hat niemand darüber gesprochen, dass das geschlechtsspezifische Gewalt war", sagt Lilly S., die ihren vollen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennt. "Wir haben uns so ohnmächtig gefühlt." Im Netz stieß sie auf eine Aufstellung chilenischer Aktivist*innen über Femizide und stellte fest, dass es so etwas für Deutschland nicht gab. "Also haben wir damit angefangen." Inzwischen hat die Seite 120.000 Follower*innen.

Dass die UNO und Regierungen mittlerweile von Femiziden sprechen, sei ein Erfolg feministischer Kämpfe, sagt Lilly S. "Aber es reicht nicht, wenn man wie die deutschen Behörden zwar den Begriff verwendet, um internationalen Vorgaben gerecht zu werden – sich aber weder ausreichend um eine Definition und Analyse noch um Prävention kümmert." Anfangs sei das Veröffentlichen von Femiziden für sie eine Art Trauerbewältigung gewesen, sagt sie. "Aber dann haben wir gesehen, dass wir damit Menschen erreichen, Diskussionen anstoßen und dazu beitragen, dass immer öfter nicht bloß von einem 'Familiendrama' gesprochen, sondern die gegen Frauen gerichtete strukturelle Gewalt wahrgenommen wird." Und deshalb machen sie weiter.

Dinah Riese ist Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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