Amnesty Journal 02. Februar 2021

Hoffnung auf eine zweite Befreiung

Ein Mann sitzt in einem Rollstuhl auf der Holzveranda seines Hauses und trägt eine dicke Winterjacke; im Hintergrund steht ein unverputztes Haus.

Wünscht sich ein gerechteres Kosovo: Fetah Rudi vor seinem Wohnhaus in Malishevo.

Ein neues Sondergericht in Den Haag soll mutmaßliche Kriegsverbrechen der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK aus dem Jahr 1999 untersuchen. Während die UÇK-Kämpfer im Kosovo vielen immer noch als Helden gelten, hoffen die Opfer und ihre Angehörigen auf Gerechtigkeit und weniger kriminelle Politiker im Land.

Von Dirk Auer

Es war am 15. Dezember 2000, als Fetah Rudi von 13 Kugeln getroffen wurde. Er war auf dem Rückweg von einem Treffen mit LDK-Parteichef Ibrahim Rugova. Kurz zuvor hatten die ersten Kommunalwahlen nach dem Krieg stattgefunden, die politischen Spannungen waren hoch, und Rudi war für die LDK in den Stadtrat von Malishevo gewählt worden. "Wir waren zu dritt", erzählt Rudi, "ich saß auf der Rückbank." Plötzlich tauchte hinter einer Brücke ein Opel Astra auf, rot, mit getönten Scheiben. Und dann fielen die Schüsse.

Seit dem Attentat sitzt Fetah Rudi im Rollstuhl. In seinem Haus hängt immer noch das Porträt von Rugova, der in den 90er-Jahren den gewaltfreien Kampf der Kosovo-Albaner gegen das Regime von Slobodan Milošević anführte und von 2002 bis 2006 Präsident des Kosovo war. Fetah Rudi war sein Anhänger und blieb es auch, als es während des Kriegs zu Rivalitätskämpfen mit der neu gegründeten albanischen Guerillaorganisation UÇK kam. Und auch nach dem Krieg, als es darum ging, wer die Macht im befreiten Kosovo übernimmt.

Schätzungsweise 800 Morde

Auf die Frage, wer hinter dem Anschlag stand, hat Fetah Rudi eine klare Antwort: "SHIK", sagt er, der umstrittene Geheimdienst, der schon während des Kriegs von der UÇK aufgebaut und erst 2008 offiziell aufgelöst wurde. Chef des SHIK war damals Kadri Veseli, der von 2014 bis 2019 Parlamentspräsident war. Das Attentat auf Rudi war kein Einzelfall. Nach einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2009 wurden allein in der unmittelbaren Nachkriegszeit schätzungsweise 800 Morde begangen – vor allem an Serben und Roma, aber auch an Albanern, denen die UÇK eine Kollaboration mit den Serben unterstellte. Zur Verantwortung gezogen wurde dafür fast niemand, denn im Kosovo Recht zu sprechen, ist schwierig – oft werden Zeugen eingeschüchtert oder sogar umgebracht.

Sowohl der UN-Justiz als auch der EU-Rechtsstaatsmission EULEX fehlte es jahrelang an Entschlossenheit und Mut, vor allem aber an der nötigen Rückendeckung, um die mutmaßlichen Täter vor Gericht zu bringen. Die ehemaligen UÇK-Kämpfer standen nach dem Krieg bald an der Spitze von Staat und Gesellschaft, und in Washington und Brüssel schätzte man die ehemaligen Warlords, weil sie eine oberflächliche politische Stabilität garantierten.

Doch Fetah Rudi kann auf späte Gerechtigkeit hoffen, die ihm und allen anderen Opfern und deren Angehörigen mehr als 20 Jahre lang vorenthalten wurde. Denn ein neues Sonder­gericht in den Haag soll jetzt die UÇK-Verbrechen aufklären, und auf der Anklagebank sitzt auch Kadri Veseli. Geschaffen wurde das Gericht bereits 2016, nachdem das kosovarische Parlament unter internationalem Druck die Verfassung geändert und damit die Rechtsgrundlage geschaffen hatte. In der Rechtsgeschichte ist das Gericht ohne Beispiel: Formal untersteht es dem kosovarischen Gesetz, seinen Sitz hat es jedoch in Den Haag, wo auch das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien angesiedelt war. Ausschließlich internationale Ankläger und Richter sollen die nötige Unabhängigkeit gewährleisten.

Staatspräsident Thaçi muss nach Den Haag

Dass nach so vielen Jahren überhaupt noch solch ein Gericht entstehen konnte, ist einem Schweizer zu verdanken. Der Politiker und Staatsanwalt Dick Marty hatte 2011 in einem Bericht für den Europarat schwerwiegende Vorwürfe gegen die UÇK erhoben: Von geheimen Gefangenenlagern während des Kriegs war die Rede, in denen Serben, Roma, aber auch Albaner gequält, gefoltert und ermordet wurden. Besonders schockierend war der Vorwurf, dass einzelnen Opfern Organe entnommen worden sein sollen, die dann auf dem internationalen Schwarzmarkt verkauft worden seien.

Die Europäische Union setzte daraufhin einen Sonderermittler ein: den Amerikaner Clint Williamson, der in den 90er-Jahren bereits die Anklage gegen den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević mit verfasst hatte. Sein Bericht, den er drei Jahre später vorlegte, bestätigte im Grunde die Vorwürfe von Dick Marty. Und so entstanden die Pläne für ein Sondergericht, das ausschließlich der Aufklärung möglicher UÇK-Verbrechen dienen soll.

Die politische Szenerie Kosovos wurde mit den ersten Vorladungen und Anklagen bereits kräftig in Unruhe versetzt. Im Sommer 2019 trat der damalige Premierminister Ramush Haradinaj zurück, nachdem er eine Vorladung aus Den Haag erhalten hatte. Und im November 2020 wurde die Anklage gegen weitere ehemalige UÇK-Kommandanten bestätigt, die inzwischen hohe politische Positionen innehaben – darunter Staatspräsident Hashim Thaçi.

Zu jenen, die immer noch auf Gerechtigkeit warten, gehört auch Silvana Marinković. Sie leitet in der serbischen Enklave Gračanica eine kleine Organisation, die sich für Familien von Vermissten einsetzt. Die Serbin erinnert sich noch genau an die chaotische Zeit nach dem Krieg, als die serbische Minderheit zum Ziel von Racheakten und Vertreibung wurde. Es gab Morde, Häuser wurden angezündet, orthodoxe Kirchen zerstört. Ihr Mann verschwand am 19. Juni im Dorf Lipjan, nachdem uniformierte UÇK-Einheiten dort die Macht übernommen hatten. Das war neun Tage nach dem offiziellen Kriegsende. "Wir haben lange gehofft, dass er sich noch meldet", erzählt Marinković. Aber bis heute fehlt jede Spur – und die Täter sind weiter in Freiheit.

Schwierige Beweisaufnahme

Mehr als 20 Jahre später ist die Beweisaufnahme äußerst schwierig. Zeugen sind gestorben oder sie können sich nicht mehr erinnern. Erschwerend kommt hinzu, dass das Gericht im Kosovo nur wenig Unterstützung genießt, weil dort bisher keine gesellschaftliche Debatte über die UÇK-Kriegsverbrechen stattgefunden hat. Stattdessen finden sich im ganzen Land unzählige Heldendenkmäler, die an gefallene UÇK-Kämpfer erinnern.

Die wenigen Menschenrechtsaktivisten, die die Erzählung des sauberen und heiligen Befreiungskriegs infrage stellen, ­gelten als Verräter und erhalten Drohungen. In einer solchen Atmosphäre überhaupt Zeugen zu finden, die bereit sind, auszusagen, wird für das Gericht zur zentralen Herausforderung. In den vergangenen Monaten sollen zwei mögliche Zeugen unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen sein.

Doch Fetah Rudi ist vom Erfolg des Gerichts überzeugt.

Er hat seine Geschichte bereits zu Protokoll gegeben, als die Ermittler des Gerichts ihm in Malishevo einen Besuch abstatteten. Zahlreiche andere Zeugen sind in den vergangenen Jahren außer Landes gebracht worden. "Die Menschen sind mutiger geworden und werden aussagen", sagt Rudi. Sie ließen sich nicht mehr alles gefallen von dieser korrupten Klasse, die das Land seit Jahren im Griff halte.

Er sitzt in seinem Rollstuhl vor seinem Haus und schaut über den Hof auf die Berge in der Ferne. Für ihn gibt es keine Hoffnung, dass er jemals wieder laufen kann. Aber Kosovo, sein Land, brauche noch einmal eine letzte Katharsis: "Wir alle müssen befreit werden von diesem kriminellen Netzwerk", sagt Rudi.

Dirk Auer ist freier Journalist und Autor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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