Aktuell Syrien 21. November 2018

Digitiale Aktivstinnen und Aktivisten decken Zerstörung in Rakka auf

stark zerstörte Wohnhäuser und ein niedergebrannter Pkw vor einem grauen Himmel

Zerstörte Wohnhäuser in der syrischen Stadt Rakka im Oktober 2018

Tausende digitale Aktivistinnen und Aktivisten auf der ganzen Welt nehmen am innovativen Crowdsourcing-Datenprojekt "Strike Tracker" teil, das heute startet. Mit Hilfe von Satellitenbildern zeigen sie auf, wie die Bombenangriffe der US-geführten Militärkoalition fast 80 Prozent der syrischen Stadt Rakka zerstört haben.

"Strike Tracker" ist die nächste Phase einer eingehenden Untersuchung von Amnesty International in Zusammenarbeit mit Airwars. Ziel ist, das schockierende Ausmaß ziviler Opfer während der viermonatigen Bombardierung durch die USA, Großbritannien und Frankreich gegen den sogenannten Islamischer Staat (IS) zu dokumentieren.

Recherchen vor Ort und Analysen von Amnesty International, die nach Ende der Schlacht um Rakka Ende Oktober 2017 durchgeführt wurden, zeigten: Es gibt überzeugende Beweise für offensichtliche Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch die von den USA angeführte Koalition. Sie führten dazu, dass die Koalition ihre Statistiken über die Zahl der zivilen Todesopfer von 23 auf mehr als 100 erhöhen mussten – eine Steigerung um 300 Prozent.

Tausende 'Strike Tracker’ helfen uns, genau einzugrenzen, wann und wo Gebäude zerstört wurden. Damit können wir wir die gewaltige Zerstörung in Rakka präziser erfassen.

Milena
Marin
Senior Adviser for Tactical Research beim Krisenreaktionsteam von Amnesty International

"Dank unserer sorgfältigen Untersuchungen vor Ort, Hunderten von Interviews inmitten der Trümmer von Rakka und Analysen von Expertinnen und Experten konnten wir die US-Koalition dazu bringen, fast jeden zivilen Todesfall, den wir bisher dokumentiert haben, einzugestehen. Aber da die Leichen mehr als ein Jahr später noch immer aus den Trümmern und Massengräbern geborgen werden, ist dies nur die Spitze des Eisbergs", sagte Milena Marin, Senior Adviser for Tactical Research beim Krisenreaktionsteam von Amnesty International.

"Es gibt noch einen Berg von Beweisen zu durchsuchen und das Ausmaß der zivilen Verwüstung ist einfach zu groß, als dass wir das alleine tun könnten. Tausende von 'Strike Trackers’ helfen uns, genau einzugrenzen, wann und wo die Luftangriffe und Artilleriefeuer der Koalition Gebäude zerstört haben. Damit können wir wir die gewaltige Zerstörung in Rakka präziser erfassen." 

So funktioniert es

Mit "Strike Tracker" kann jeder Mensch mit seinem Smartphone oder ihrem Laptop einen Beitrag zur Recherche von Amnesty International leisten und mithelfen, systematische zivile Schäden – einschließlich möglicher Verletzungen des Kriegsrechts – zu dokumentieren, die die Koalition bisher nicht anerkennen konnte oder wollte. 

Daten der UNO zeigen, dass mehr als 10.000 Gebäude im Laufe der Schlacht um Rakka im Jahr 2017 zerstört oder beschädigt wurden. "Strike Tracker" wird dazu beitragen, den Zeitpunkt der Zerstörung jedes dieser Objekte von Monaten auf Wochen oder sogar Tage genau einzugrenzen. Freiwillige Helferinnen und Helfer beobachten innerhalb eines Zeitfensters ein Gebäude auf Satellitenbildern, suchen nach Änderungen und markieren den Zeitpunkt vor und nach dessen Zerstörung.

Es wird erwartet, dass sich zwischen 3.000 und 5.000 digitale Aktivistinnen und Aktivisten an dem einmonatigen Projekt beteiligen werden. Um eine gute Datenqualität sicherzustellen, ist es das Ziel, jedes zerstörte Gebäude mehrfach von mehreren Trackern analysieren zu lassen.

Was passiert als Nächstes?

Die Ergebnisse von "Strike Tracker" werden dazu beitragen:

  • Das Bewusstsein für die verheerenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung zu schärfen, die während der Schlacht um Rakka in der Stadt eingeschlossen waren;

  • die Haltung der US-geführten Koalition zu zivilen Opfern zu ändern, so dass sie Verantwortung übernimmt und ordnungsgemäße Untersuchungen stattfinden können

  • den Familien der Opfer und Überlebenden zu helfen, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu suchen.

In einem Schreiben an Amnesty International vom September 2018 machte das US-Verteidigungsministerium – dessen Streitkräfte die meisten Luftangriffe und alle Artillerieangriffe auf Rakka durchgeführt haben – deutlich, dass es keine Haftung für die Hunderte von zivilen Opfern übernimmt, die es verursacht hat. Die Koalition plant keine Entschädigung für Überlebende und Angehörige der in Rakka getöteten Personen und weigert sich, weitere Informationen über die Umstände der Angriffe zu geben. 

"Die Leugnungen und das Schulterzucken der Koalition sind skrupellos – ihre militärische Offensive tötete und verstümmelte Hunderte von Zivilistinnen und Zivilisten und ließ dann die Überlebenden alleine zurück", sagte Milena Marin. 

"Die Daten, die wir mit 'Strike Tracker' sammeln, werden es uns ermöglichen, den rechtlichen und moralischen Druck auf die Koalition erhöhen, die volle Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Sie muss diese Fälle ein für alle Mal anerkennen und ordnungsgemäß untersuchen, um den Weg für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu ebnen." 

Amnesty International und Airwars werden Anfang 2019 die Ergebnisse von "Strike Tracker" auf einer interaktiven digitalen Plattform veröffentlichen.

Hintergrund

"Strike Tracker" ist das jüngste einer Reihe von Crowdsourcing-Datenprojekten, die Amnesty unter dem Namen Decoders durchführt. Seit der Einführung von Decoders im Juni 2016 hat Amnesty International vier Projekte erfolgreich abgeschlossen und mehr als 50.000 digitale Aktivistinnen und Aktivisten aus 150 Ländern mobilisiert. Die Freiwilligen durchsuchten riesige Datenmengen und verarbeiteten mehr als 1,5 Millionen Aufgaben. Sie halfen den Researcherinnen und Researchern von Amnesty International, den Erfolg von Urgent Actions-Kampagnen zu analysierenzerstörte Dörfer in der abgelegenen Provinz Darfur aufzuspürenÖlkonzerne für Tausende von Ölverschmutzungen in Nigeria verantwortlich zu machen und Tweets zu analysieren, um Online-Missbrauch und Bedrohungen für Frauen zu erkennen.

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