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Verfolgt wegen Menschenrechtsarbeit
Die drei tschetschenischen Menschenrechtsverteidigerinnen Eliza Moussaeva, Libkhan Bazaeva und Natalia Estemirova mit der ermordeten russisch-amerikanischen Journalistin Anna Politkovskaya (zweite von links) und der Amnesty-Ermittlerin Mariana Katzarova (ganz rechts) im Juni 2004
© Amnesty International
Wer sich in Tschetschenien für Menschenrechte einsetzt, wird bedroht, schikaniert und überfallen. Insbesondere für die Menschenrechtsorganisation Memorial verschärft sich die Lage.
Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow und andere Amtspersonen verunglimpfen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger seit Jahren systematisch als "Marionetten des Westens" und "Feinde Russlands", die Tschetschenien destabilisieren wollen. Örtliche Sicherheitsbeamte oder regierungsnahe Schlägertrupps griffen auch Aktivistinnen und Aktivisten an oder schikanierten sie. Ermittlungen, um die Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen, blieben aus. Die Straflosigkeit führt auch dazu, dass solche Übergriffe weiterhin geschehen.
Natalia Estemirova, ein führendes Mitglied der Menschenrechtsgruppe Memorial, wurde am 15. Juli 2009 entführt und getötet. Ihre Ermordung wurde bis heute nicht gründlich untersucht.
Bedroht, eingeschüchtert, getötet
Estemirova war eine der mutigsten und bekanntesten Menschenrechtsverteidigerinnen Russlands. Sie dokumentierte schwerste Menschenrechtsverletzungen während des zweiten Tschetschenienkriegs, darunter Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und Verschwindenlassen. Wegen ihrer Arbeit war sie ununterbrochen Drohungen und Einschüchterungen der tschetschenischen Behörden ausgesetzt.
Bewaffnete Männer entführten Estemirova nahe ihrer Wohnung in Grosny. Ihre Leiche wurde noch am selben Tag am Straßenrand in der Nachbarregion Inguschetien gefunden. Nach ihrer Ermordung musste Memorial sein Personal evakuieren und die Arbeit in Tschetschenien aus Sicherheitsgründen für fünf Monate unterbrechen.
Arbeit unter Druck
Die Situation für Menschenrechtlerinnen und -rechtler in Tschetschenien hat sich seit Estemirovas Ermordung kaum verbessert. Memorial arbeitete unter erhöhtem Druck der Behörden weiter. Am 9. Januar 2018 wurde Oyub Titiev, Leiter des Memorial-Büros im tschetschenischen Grosny, willkürlich inhaftiert: Angeblich hatte die Polizei bei einer Durchsuchung seines Autos Drogen "gefunden". Oyub Titiev bestreitet die Vorwürfe und sagt, dass die Drogen in seinen Wagen gelegt worden seien. Trotzdem ist er nun fälschlicherweise wegen unerlaubten Drogenbesitzes angeklagt. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.
Am 6. März 2018 verlängerte ein Bezirksgericht in Grosny die Untersuchungshaft von Oyub Titiev um weitere zwei Monate bis zum 9. Mai. Das Bezirksgericht argumentierte, dass Oyub Titiev bei einer Freilassung untertauchen, Druck auf Zeuginnen und Zeugen ausüben und Beweismaterial zerstören könne, was eine Gefahr für den Gerichtsprozess bedeuten könne. "Die Entscheidung Oyub Titievs Untersuchungshaft zu verlängern", kritisierte Denis Krivosheev, stellvertretender Direktor für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International.
Kurz nach Oyub Titievs Verhaftung wurde seine Familie wiederholt von den Behörden eingeschüchtert und verließ Tschetschenien deshalb. In Haft wurde Oyub Titiev unter Druck gesetzt, ein falsches "Geständnis" abzugeben. Er verweigerte das. Amnesty International befürchtet, dass er in Haft gefoltert wird.
"Die Tatsache, dass tschetschenische Behörden den Vorwurf des Drogenbesitzes gegen Titiev so offenkundig erfunden haben, ist wenig überraschend im Lichte der grausamen Methoden, mit welchen sie beharrlich solche Menschen verfolgen, die mutig genug sind, sich gegen Menschenrechtsverletzungen auszusprechen", sagte Bjorn Engesland, Generalsekretär des Norwegischen Helsinki-Komitees.
Fingierte Beweise
Oyub Titiev arbeitete viele Jahre im Büro von Memorial in Grosny und war bereits zuvor wegen seiner Menschenrechtsarbeit bedroht worden. Er übernahm kurz nach der Ermordung Natalia Esremirovas 2009 die Leitung des Büros.
Amnesty International geht davon aus, dass die Beweise gegen Oyub Titiev fingiert wurden, um ihn hinter Gitter und zum Schweigen zu bringen – auch um seine Arbeit und die seiner Kolleginnen und Kollegen zu behindern. Amnesty International betrachtet Oyub Titiev als gewaltlosen politischen Gefangenen und fordert, dass er unverzüglich und vorbehaltlos entlassen wird.
"Titiev’s Verhaftung ist ein klares Zeichen, dass die tschetschenischen Behörden versuchen, Memorial aus Tschetschenien zu vertreiben. Das ist ein Affront gegen alle, die dort Schutz vor Menschenrechtsverletzungen benötigen. Titiev sollte nicht in Gewahrsam sein, wo nach unserer Einschätzung seine Gesundheit und seine Sicherheit gefährdet sind," sagt Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch.
Schikanen und Einschüchterungen
In den vergangenen Monaten war Oyub Titiev gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen von Memorial Berichten nachgegangen, denen zufolge 27 Tschetscheninnen und Tschetschenen zunächst verschwunden waren und dann in der Nacht vom 26. Januar 2017 von der Polizei erschossen wurden. Die unabhängige russische Tageszeitung Novaya Gazeta berichtete ausführlich über den Fall. Oyub Titievs Kolleginnen und Kollegen betrachten seine Inhaftierung als einen Versuch der Behörden, ihn an der legitimen Ausübung seiner Menschenrechtsarbeit zu hindern.
Währenddessen nehmen die Schikanen und Einschüchterungen gegen andere Memorial-Verantwortliche weiter zu. Auch Oyub Titievs Anwalt Petr Zaikin berichtete, dass er während seines Aufenthaltes in Tschetschenien von Agentinnen und Agenten in Zivil verfolgt wurde.
Maskierte Männer setzten am 17. Januar das Büro von Memorial in Nasran, in der Nachbarrepublik Inguschetien, in Brand.
Am 19. Januar führte die Polizei eine Razzia im Memorial-Büro in Grosny durch. Die Memorial-Angestellten berichteten, dass die Polizei "Beweismaterial" mitnahm, welches sich vor Beginn der Durchsuchung nicht im Büro befand, etwa Zigarettenstummel mit einer unbekannten Substanz. Sie befürchten, dass diese "Beweismaterialien" gezielt platziert wurden und nun als falsche Beweismittel genutzt werden könnten, um Oyub Titiev zu belasten.
Telefonische Morddrohungen
Das Memorial-Auto, das zuvor von Oyub Titievs Anwalt in Tschetschenien genutzt worden war, wurde am 22. Januar in Machatschkala im benachbarten Dagestan niedergebrannt. Etwa zur gleichen Zeit erhielten Angestellte des Memorial-Büros in Dagestan telefonische Morddrohungen. Memorial nimmt an, dass diese Vorfälle mit der Strafverfolgung von Oyub Titiev in Tschetschenien in Verbindung stehen.
Sirazhutdin Datsiev, Leiter des Memorial-Menschenrechtsbüros in Dagestan,wurde am 28. März brutal angegriffen. Augenzeugenberichten zufolge wurde der Menschenrechtsverteidiger vor seinem Haus in Dagestans Hauptstadt Machatschkala von einem unbekannten Mann stark auf den Kopf geschlagen und getreten.
Amnesty International ist überzeugt, dass die geschilderten Vorfälle Teil eines abgestimmten und politisch motivierten Versuchs sind, Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.
Memorials hartnäckige Menschenrechtsarbeit
Memorial dokumentiert seit mehr als 25 Jahren Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und hat intensiv über die Verstöße gegen die Menschenrechte berichtet, die während der zwei Tschetschenienkriege vom Militär verübt wurden. Später hat Memorial auch Verstöße der vom Kreml ernannten tschetschenischen Behörden dokumentiert.
Während der letzten 10 Jahre hat Memorial bedeutende Erkenntnisse veröffentlicht, etwa zu kollektiven Strafmaßnahmen, Verschwindenlassen, Folter und anderen Misshandlungen, auch zum Niederbrennen von Häusern als Bestrafung sowie zu außergerichtlichen Tötungen durch lokale Sicherheitsbehörden.
Memorial hat das gegenwärtige Tschetschenien immer wieder als "totalitäre Enklave" innerhalb Russlands beschrieben und angemerkt, dass tschetschenische Behörden unter der Führung von Ramzan Kadyrov in nahezu alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens eingreifen, einschließlich Politik, Religion, Wissenschaft und Familiäres.
Falls Memorial gezwungen sein sollte, Tschetschenien zu verlassen, wird keine Organisation mehr übrig bleiben, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und Opfer in einem Klima der Straffreiheit verteidigt.
Hier findest Du Tweets, die du rausschicken kannst:
@KremlinRussia, der Menschenrechtsverteidiger Oyub Titiev muss freigelassen werden. Die Verfolgung von @hrc_memorial muss gestoppt werden. #FreeOyubTitiev #Justice4ChechenHRDs
Dieser Blogtext erschien zuerst am 28. Februar 2018 auf dem Blog der britischen Amnesty-Sektion
Übersetzung aus dem Englischen: Lara Zumstein