Aktuell Russische Föderation 28. Februar 2018

Verfolgt wegen Menschenrechtsarbeit

Porträt von fünf Frauen, die nebeneinander in einem Büro stehen

Die drei tschetschenischen Menschenrechtsverteidigerinnen Eliza Moussaeva, Libkhan Bazaeva und Natalia Estemirova mit der ermordeten russisch-amerikanischen Journalistin Anna Politkovskaya (zweite von links) und der Amnesty-Ermittlerin Mariana Katzarova (ganz rechts) im Juni 2004

Wer sich in Tschetschenien für Menschenrechte einsetzt, wird bedroht, schikaniert und überfallen. Insbesondere für die Menschenrechtsorganisation Memorial verschärft sich die Lage.



Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow und andere Amtspersonen verunglimpfen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger seit Jahren systematisch als  "Marionetten des Westens" und "Feinde Russlands", die Tschetschenien destabilisieren wollen. Örtliche Sicherheitsbeamte oder regierungsnahe Schlägertrupps griffen auch Aktivistinnen und Aktivisten an oder schikanierten sie. Ermittlungen, um die Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen, blieben aus. Die Straflosigkeit führt auch dazu, dass solche Übergriffe weiterhin geschehen.



Natalia Estemirova, ein führendes Mitglied der Menschenrechtsgruppe Memorial, wurde am 15. Juli 2009 entführt und getötet. Ihre Ermordung wurde bis heute nicht gründlich untersucht. 

Bedroht, eingeschüchtert, getötet

Estemirova war eine der mutigsten und bekanntesten Menschenrechtsverteidigerinnen Russlands. Sie dokumentierte schwerste Menschenrechtsverletzungen während des zweiten Tschetschenienkriegs, darunter Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und Verschwindenlassen. Wegen ihrer Arbeit war sie ununterbrochen Drohungen und Einschüchterungen der tschetschenischen Behörden ausgesetzt.



Bewaffnete Männer entführten Estemirova nahe ihrer Wohnung in Grosny. Ihre Leiche wurde noch am selben Tag am Straßenrand in der Nachbarregion Inguschetien gefunden. Nach ihrer Ermordung musste Memorial sein Personal evakuieren und die Arbeit in Tschetschenien aus Sicherheitsgründen für fünf Monate unterbrechen.

Angriffe auf Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger in Tschetschenien

Porträt einer Frau

15. Juli 2009: Die Memorial-Mitarbeiterin Natalia Estemirova wird von Unbekannten in Grosny entführt, nach Inguschetien gebracht und ermordet. Die Verantwortlichen wurden nicht ermittelt.

Kreis mit dem Buchstaben i

20. Oktober 2009: Der Memorial-Vorsitzende Oleg Orlow steht wegen Verleumdung vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft kann nicht beweisen, dass seine Äußerungen, der tschetschenische Präsident sei für die Ermordung Natalia Estemirowas verantwortlich, eine Straftat seien.

 

Kreis mit dem Buchstaben i

11. Dezember 2014: Zwei junge Männer bewerfen die Menschenrechtsverteidiger Igor Kalyapin, Direktor der NGO Kommission gegen Folter und Joint Mobile Group, sowie Aleksander Cherkasow, Memorial-Vorstandsvorsitzender, mit Eiern. Die Polizei weigert sich zu ermitteln.

Kreis mit dem Buchstaben i

13. Dezember 2014: Das Büro der NGO Joint Mobile Group in Grosny wird niedergebrannt und komplett zerstört. Am selben Tag organisiert die Regierung eine Kundgebung "gegen Terrorismus", die sich auch gegen Menschenrechtsarbeit richtet.

 

Kreis mit dem Buchstaben i

3. Juni 2015: Das Büro der Joint Mobile Group in Grosny wird erneut angegriffen: Einrichtung, Computer und ein Auto werden zerstört. Der tschetschenische Präsident behauptet, die Organisation hätte den Vandalismus selbst durchgeführt.

Kreis mit dem Buchstaben i

9. März 2016: In Karabulak, Inguschetien, wird das Büro der Joint Mobile Group angegriffen. Eine Gruppe von Unbekannten schlägt die Tür ein und verwüstet die Räumlichkeiten.

Kreis mit dem Buchstaben i

9. März 2016: Acht Angestellte der NGO Joint Mobile Group und Medienschaffende sowie ihr Fahrer werden von etwa 30 Unbekannten verprügelt, nachdem sie an der Verwaltungsgrenze zwischen Tschetschenien und Inguschetien angehalten wurden. Ihr Fahrzeug wird niedergebrannt.

Kreis mit dem Buchstaben i

16. März 2016: Igor Kalyapin, der Leiter der NGO Kommission gegen Folter, wird in Grosny angegriffen. Etwa 15 Personen reißen ihn zu Boden, bewerfen ihn mit Eiern und schütten Desinfektionsmittel über ihn.

Kreis mit dem Buchstaben i

4. Januar 2017: Der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, veröffentlicht auf Instagram ein Bild, das als Bedrohung der von Memorial ins Leben gerufenen Nachrichtenseite "Kaukasischer Knoten" interpretiert wird.

Gitterstäbe, daneben ein Mann, der von einem anderen leicht weitergedrängt wird

9. Januar 2018: Der Leiter des Memorial-Büros in Grosny, Oyub Titiev, wird auf dem Weg zur Arbeit festgenommen. Er wird mehrere Stunden ohne Kontakt zu seiner Familie oder seinem Anwalt festgehalten. Seit dem 11. Januar befindet er sich in Untersuchungshaft.

Kreis mit dem Buchstaben i

15. Januar 2018: Oyub Titievs Anwalt, Petr Zaikin, berichtet, dass er während seines Aufenthalts in Tschetschenien überwacht wurde. Zwei Männer in Zivilkleidung seien ihm überallhin gefolgt.

Kreis mit dem Buchstaben i

16./17. Januar 2018: In der Nacht des 16. Januars wird das Memorial-Büro in Nasran, Inguschetien, in Brand gesetzt.

Kreis mit dem Buchstaben i

22./23. Januar 2018: Ein Auto von Memorial wird in Machatschkala, Dagestan, niedergebrannt. Angestellte des Memorial-Büros in Dagestan erhalten telefonische Morddrohungen.

Kreis mit dem Buchstaben i

27. Januar 2018: Das Menschenrechtszentrum Memorial berichtet von weiteren Versuchen, Beweise gegen Oyub Titiev zu fälschen.

Kreis mit dem Buchstaben i

28. März 2018: Der Leiter des Memorial-Büros in Dagestan, Sirazhutdin Datsiev, wird brutal angegriffen. Ein Augenzeuge berichtet, ein unbekannter Mann habe Datsiev stark auf seinen Kopf geschlagen und getreten.

Arbeit unter Druck

Die Situation für Menschenrechtlerinnen und -rechtler in Tschetschenien hat sich seit Estemirovas Ermordung kaum verbessert. Memorial arbeitete unter erhöhtem Druck der Behörden weiter. Am 9. Januar 2018 wurde Oyub Titiev, Leiter des Memorial-Büros im tschetschenischen Grosny, willkürlich inhaftiert: Angeblich hatte die Polizei bei einer Durchsuchung seines Autos Drogen "gefunden". Oyub Titiev bestreitet die Vorwürfe und sagt, dass die Drogen in seinen Wagen gelegt worden seien. Trotzdem ist er nun fälschlicherweise wegen unerlaubten Drogenbesitzes angeklagt. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.



Am 6. März 2018 verlängerte ein Bezirksgericht in Grosny die Untersuchungshaft von Oyub Titiev um weitere zwei Monate bis zum 9. Mai. Das Bezirksgericht argumentierte, dass Oyub Titiev bei einer Freilassung untertauchen, Druck auf Zeuginnen und Zeugen ausüben und Beweismaterial zerstören könne, was eine Gefahr für den Gerichtsprozess bedeuten könne. "Die Entscheidung Oyub Titievs Untersuchungshaft zu verlängern", kritisierte Denis Krivosheev, stellvertretender Direktor für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International.

Die heutige Entscheidung des Gerichts in Tschetschenien, Oyub Titievs Untersuchungshaft zu verlängern, ist ebenso vorhersehbar wie bestürzend und empörend. Oyub muss unverzüglich und vorbehaltlos freigelassen werden, damit er seine Menschenrechtsarbeit fortsetzen kann. Die Behörden sollten stattdessen untersuchen, wer solche falschen Vorwürfe fingiert, um damit gezielt Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger zu schikanieren.

Denis
Krivosheev
Stellvertretender Direktor für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International

Kurz nach Oyub Titievs Verhaftung wurde seine Familie wiederholt von den Behörden eingeschüchtert und verließ Tschetschenien deshalb. In Haft wurde Oyub Titiev unter Druck gesetzt, ein falsches "Geständnis" abzugeben. Er verweigerte das. Amnesty International befürchtet, dass er in Haft gefoltert wird.



"Die Tatsache, dass tschetschenische Behörden den Vorwurf des Drogenbesitzes gegen Titiev so offenkundig erfunden haben, ist wenig überraschend im Lichte der grausamen Methoden, mit welchen sie beharrlich solche Menschen verfolgen, die mutig genug sind, sich gegen Menschenrechtsverletzungen auszusprechen", sagte Bjorn Engesland, Generalsekretär des Norwegischen Helsinki-Komitees.

Fingierte Beweise

Oyub Titiev arbeitete viele Jahre im Büro von Memorial in Grosny und war bereits zuvor wegen seiner Menschenrechtsarbeit bedroht worden. Er übernahm kurz nach der Ermordung Natalia Esremirovas 2009 die Leitung des Büros.



Amnesty International geht davon aus, dass die Beweise gegen Oyub Titiev fingiert wurden, um ihn hinter Gitter und zum Schweigen zu bringen – auch um seine Arbeit und die seiner Kolleginnen und Kollegen zu behindern. Amnesty International betrachtet Oyub Titiev als gewaltlosen politischen Gefangenen und fordert, dass er unverzüglich und vorbehaltlos entlassen wird.



"Titiev’s Verhaftung ist ein klares Zeichen, dass die tschetschenischen Behörden versuchen, Memorial aus Tschetschenien zu vertreiben. Das ist ein Affront gegen alle, die dort Schutz vor Menschenrechtsverletzungen benötigen. Titiev sollte nicht in Gewahrsam sein, wo nach unserer Einschätzung seine Gesundheit und seine Sicherheit gefährdet sind," sagt Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch.

Schikanen und Einschüchterungen

In den vergangenen Monaten war Oyub Titiev gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen von Memorial Berichten nachgegangen, denen zufolge 27 Tschetscheninnen und Tschetschenen zunächst verschwunden waren und dann in der Nacht vom 26. Januar 2017 von der Polizei erschossen wurden. Die unabhängige russische Tageszeitung Novaya Gazeta berichtete ausführlich über den Fall. Oyub Titievs Kolleginnen und Kollegen betrachten seine Inhaftierung als einen Versuch der Behörden, ihn an der legitimen Ausübung seiner Menschenrechtsarbeit zu hindern.



Währenddessen nehmen die Schikanen und Einschüchterungen gegen andere Memorial-Verantwortliche weiter zu. Auch Oyub Titievs Anwalt Petr Zaikin berichtete, dass er während seines Aufenthaltes in Tschetschenien von Agentinnen und Agenten in Zivil verfolgt wurde.



Maskierte Männer setzten am 17. Januar das Büro von Memorial in Nasran, in der Nachbarrepublik Inguschetien, in Brand.

Am 19. Januar führte die Polizei eine Razzia im Memorial-Büro in Grosny durch. Die Memorial-Angestellten berichteten, dass die Polizei "Beweismaterial" mitnahm, welches sich vor Beginn der Durchsuchung nicht im Büro befand, etwa Zigarettenstummel mit einer unbekannten Substanz. Sie befürchten, dass diese "Beweismaterialien" gezielt platziert wurden und nun als falsche Beweismittel genutzt werden könnten, um Oyub Titiev zu belasten.

Telefonische Morddrohungen

Das Memorial-Auto, das zuvor von Oyub Titievs Anwalt in Tschetschenien genutzt worden war, wurde am 22. Januar in Machatschkala im benachbarten Dagestan niedergebrannt. Etwa zur gleichen Zeit erhielten Angestellte des Memorial-Büros in Dagestan telefonische Morddrohungen. Memorial nimmt an, dass diese Vorfälle mit der Strafverfolgung von Oyub Titiev in Tschetschenien in Verbindung stehen.



Sirazhutdin Datsiev, Leiter des Memorial-Menschenrechtsbüros in Dagestan,wurde am 28. März brutal angegriffen. Augenzeugenberichten zufolge wurde der Menschenrechtsverteidiger vor seinem Haus in Dagestans Hauptstadt Machatschkala von einem unbekannten Mann stark auf den Kopf geschlagen und getreten.

Ramsan Karyow, der Präsident der tschetschenischen Republik, über Menschenrechtsarbeit

Mehrere Männer stehen stramm in einer Reihe vor Mikrofonen

11. August 2009: "Warum sollte Kadyrow eine Frau ermorden, die von niemandem gebraucht wird? Sie besaß nie Ehre, Besinnung und Würde", sagte Ramsan Kadyrow auf die Anschuldigungen, er wäre direkt oder indirekt für den Tod von Natalia Estemirova verantwortlich.

 

Zeichnung von Anführungszeichen

21. Juli 2017: "Vorfälle können verdreht werden, um gewissen politischen Richtungen zu nutzen und falsche Aufmerksamkeit für ein Thema kann kreiert werden. Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger nehmen diese Aufgabe nur zu gern wahr."

Mehrere Männer stehen stramm in einer Reihe vor Mikrofonen

17. Januar 2018: Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger seien "korrupte Personen" und "Feinde der Nation". "Sie müssen wissen, dass kein Platz für sie in Tschetschenien ist, wenn ihre Handlungen der tschetschenischen Nation schaden."

Amnesty International ist überzeugt, dass die geschilderten Vorfälle Teil eines abgestimmten und politisch motivierten Versuchs sind, Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.

Memorials hartnäckige Menschenrechtsarbeit

Memorial dokumentiert seit mehr als 25 Jahren Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und hat intensiv über die Verstöße gegen die Menschenrechte berichtet, die während der zwei Tschetschenienkriege vom Militär verübt wurden. Später hat Memorial auch Verstöße der vom Kreml ernannten tschetschenischen Behörden dokumentiert.

Während der letzten 10 Jahre hat Memorial bedeutende Erkenntnisse veröffentlicht, etwa zu kollektiven Strafmaßnahmen, Verschwindenlassen, Folter und anderen Misshandlungen, auch zum Niederbrennen von Häusern als Bestrafung sowie zu außergerichtlichen Tötungen durch lokale Sicherheitsbehörden.

Memorial hat das gegenwärtige Tschetschenien immer wieder als "totalitäre Enklave" innerhalb Russlands beschrieben und angemerkt, dass tschetschenische Behörden unter der Führung von Ramzan Kadyrov in nahezu alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens eingreifen, einschließlich Politik, Religion, Wissenschaft und Familiäres. 

Falls Memorial gezwungen sein sollte, Tschetschenien zu verlassen, wird keine Organisation mehr übrig bleiben, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und Opfer in einem Klima der Straffreiheit verteidigt.

Hier findest Du Tweets, die du rausschicken kannst:

@KremlinRussia, der Menschenrechtsverteidiger Oyub Titiev muss freigelassen werden. Die Verfolgung von @hrc_memorial muss gestoppt werden. #FreeOyubTitiev #Justice4ChechenHRDs

Dieser Blogtext erschien zuerst am 28. Februar 2018 auf dem Blog der britischen Amnesty-Sektion

Übersetzung aus dem Englischen: Lara Zumstein

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