Amnesty Journal Europa und Zentralasien 26. März 2019

Gefangen auf den griechischen Inseln

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Vor drei Jahren vereinbarten Brüssel und Ankara, die irreguläre Migration aus der Türkei in die EU zu beenden – ein Deal zum Schaden der Geflüchteten. 

Ein Kommentar von Franziska Vilmar

Der Maßnahmenkatalog hat nur sechs Punkte und einen denkbar einfachen Titel: "Erklärung EU-Türkei, 18. März 2016" steht über den zwei Seiten, die die Pressestelle des Europäischen Rats vor drei Jahren veröffentlichte. Diese Presseerklärung wird landläufig als EU-Türkei-Deal bezeichnet. Das Leben Zehntausender Menschen wird von der zweiseitigen Erklärung beeinflusst. Im März wird sie drei Jahre alt. Anlass zum Feiern gibt es nicht.

Denn die Beschlüsse des Gipfels zur "Bewältigung der Migrationskrise" im März 2016, an dem neben den EU-Staats- und Regierungschefs der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan teilnahm, führen zu einem monströsen, unmenschlichen Verschiebebahnhof. So gilt bis heute, dass alle "irregulären" Migranten, die auf den griechischen Inseln ankommen, in die ­Türkei zurückgeschickt werden sollen – in ein Land, in dem im Frühjahr 2019 mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge leben. 

Im Gegenzug für jeden Syrer, der auf diesem Weg in die Türkei gelangt, sollte eigentlich ein dort lebender Flüchtling in der EU aufgenommen werden. Tatsächlich waren es seit 2016 europaweit etwa 20.000 Geflüchtete, etwa 7.000 allein in Deutschland. Aus Griechenland wurden im gleichen Zeitraum 1.800 ­Migranten und Flüchtlinge in die Türkei abgeschoben. 

Aufrüsten an der Grenze zur Türkei

Doch das weitaus wichtigere Ziel des Deals besteht aus EU-Sicht darin, die Grenze zur Türkei abzuriegeln. So flossen die ers­ten drei Milliarden Euro aus Brüssel an Ankara nicht nur, um mehr syrischen Kindern den Schulbesuch in der Türkei zu ermöglichen, sondern auch, um den türkischen Grenzschutz aufzurüsten. Und in der Tat sind die Zahlen der auf den griechischen Inseln ankommenden Menschen seit 2016 rapide gesunken. Die europäischen Regierungen halten deshalb unbeirrt an dem Deal fest.

Begründet wurde das Konstrukt damit, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat sei und allemal Schutz für Flüchtlinge bieten könne. Dass die Genfer Flüchtlingskonvention in dem Land gar keine umfassende Wirkung entfaltet, wurde als nicht so schlimm bewertet. Ob die Türkei für die auf die griechischen Inseln geflüchteten Menschen sicher ist, wird immerhin für jeden einzeln geprüft. Wer sich jedoch juristisch gegen die Abschiebung wehrt, muss lange auf eine Entscheidung warten. 

Menschen in dieser Warteschleife sind verunsichert und perspektivlos. Aber auch diejenigen, für die die Türkei nicht als sicherer Drittstaat gilt, sind zum Warten verdammt. Ihre Fluchtgründe werden erst in einem weiteren Schritt, dem eigentlichen Asylverfahren, geprüft. Derzeit warten syrische Flüchtlinge bis zu zwei Jahre auf ihre Anhörung. Es wäre zynisch zu glauben, dass beschleunigte Verfahren dafür sorgten, dem Deal menschenrechtliche Züge zu verleihen.

Den Preis zahlen Schutzsuchende

Die Europäische Kommission ist vom System der griechischen Hotspots derart begeistert, dass sie die dort praktizierten Zulässigkeitsverfahren als Vorbild für ein künftiges Gemein­sames Europäisches Asylsystem betrachtet. Zwar gelten die Verhandlungen über die Reform des derzeitigen europäischen Asylsystems bislang als gescheitert. Ursächlich dafür ist jedoch nicht der Mangel an praktikablen Ansätzen, sondern fehlende Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen innerhalb Europas. 

Das auf den griechischen Inseln praktizierte Zulässigkeitsverfahren dürfte hingegen bei den Mitgliedsstaaten mehrheitsfähig sein. Dient es doch gerade dazu, sich für Flüchtlinge unzuständig zu erklären. Deutschland müsste dann zum Beispiel prüfen, ob ein Asylantrag nicht vielleicht doch besser in einem sicheren Drittstaat außerhalb der Europäischen Union zu stellen wäre. Warum nicht in Marokko oder Tunesien?

Den Preis des Deals zahlen die auf den Inseln gestrandeten Schutzsuchenden, die in der Türkei keine Perspektive gefunden haben und deren Familien möglicherweise längst in Europa leben. Sie hausen unter katastrophalen Bedingungen – ohne angemessene hygienische oder gesundheitliche Versorgung. Auch Zugang zu Bildung oder Schutz vor sexuellen Übergriffen sind in den griechischen Insellagern nicht einmal ansatzweise gewährleistet.

Überfüllung mit System

Anfang 2019 befanden sich knapp 15.000 Menschen in den fünf griechischen Hotspots – doppelt so viele wie vorgesehen. Das neue Grenzschutzmodell setzt auf Abschreckung. Die Überfüllung der menschenunwürdigen Lager weit über ihre Kapazitätsgrenze hinaus, scheint System zu haben. Selbst im Winter steht für viele der unfreiwilligen Inselbewohner nicht einmal ein beheizbarer Container zur Verfügung. 

Und selbst wenn die griechische Asylbehörde gemeinsam mit dem Europäischen Asylunterstützungsbüro (EASO) entschieden hat, dass Menschen umgehend auf das Festland verteilt werden müssen, harren diese oft noch monatelang im Dreck ihres selbstgemachten Zeltlagers aus.

Erst Anfang des Jahres hat das Antifolterkomitee des Europarats die "unmenschlichen und entwürdigenden Bedingungen" in griechischen Flüchtlingslagern kritisiert. Überfüllt, unzureichend ärztlich versorgt und ohne ausreichenden Schutz für Frauen und Minderjährige seien diese. Neu sind diese Erkenntnisse nicht, sondern seit langem bekannt – ohne dass sich etwas verbessert.

Es lohnt sich, die Pressemitteilung nach dem Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs mit Erdoğan vom 18. März 2016 noch einmal zu lesen. Darin findet sich auch der folgende Satz: "Es handelt sich hierbei um eine vorübergehende und außer­ordentliche Maßnahme, die zur Beendigung des menschlichen Leids und zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung erforderlich ist." Welch Hohn. Die am Deal Beteiligten haben in den vergangenen drei Jahren vor allem menschliches Leid verursacht. 

Besonders schutzbedürftige Flüchtlinge auf Lesbos und in den anderen EU-Hotspots müssen sofort auf das griechische Festland gebracht und angemessen versorgt werden, bis über ­ihren Asylantrag entschieden ist. Familienmitglieder müssen rasch zu ihren Verwandten in andere EU-Mitgliedsstaaten reisen dürfen. Flüchtlinge und Migranten müssen endlich unter menschenwürdigen Bedingungen in der EU untergebracht werden. Die Menschen hin-und herzuschieben, sie endlos warten und im Dreck vor sich hin darben zu lassen, lässt sich auch durch das Ausrufen von Ausnahmezuständen nicht rechtfertigen. ­Niemals.

 

Die Autorin ist Amnesty-Fachreferentin für Asylpolitik in Berlin.

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