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Zwischen Terror und Repression
Andrew Gardner, Türkei-Researcher von Amnesty International.
© AI Turkey
10. Januar 2017 - Aktivistinnen und Aktivisten werden eingesperrt, NGOs geschlossen: In der Türkei gerät die Zivilgesellschaft immer stärker unter Druck. Andrew Gardner, Türkei-Researcher von Amnesty International in Istanbul, berichtet über die aktuelle Menschenrechtslage.
Der Tag ist noch nicht angebrochen in Istanbul, aber Aylin* ist trotzdem schon hellwach. Sie hat ihre Wohnung saubergemacht, ihrem Freundeskreis ein paar Nachrichten geschickt und eine kleine Tasche gepackt. Nachdem sie sich einen Kaffee gemacht hat, setzt sie sich hin und wartet. Sie wartet auf ein Klopfen an der Tür, auf das Geräusch von Stiefeln, die die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufrennen.
Aylin ist eine den türkischen Behörden wohlbekannte Menschenrechtsverteidigerin. Seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 geht die Regierung hart gegen Kritikerinnen und Kritiker vor; was auch der Grund ist, weshalb Aylin fast jeden Tag dasselbe Ritual vollzieht. Die Angst, im Morgengrauen von der Polizei geweckt zu werden, lässt sie nicht los, sagt sie. Zu viele ihrer Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen seien in den vergangenen Monaten diesen frühmorgendlichen Razzien zum Opfer gefallen.
Ist Aylin zu paranoid? Höchstwahrscheinlich nicht.
Seit dem Putschversuch sind in der Türkei Zehntausende Menschen festgenommen worden. Beinahe 400 NGOs wurden dauerhaft geschlossen, und fast ein Drittel der weltweit inhaftierten Journalistinnen und Journalisten befindet sich nun in der Türkei in Haft. Viele der in den überfüllten türkischen Gefängnissen inhaftierten Personen wurden unter fadenscheinigsten Vorwänden festgenommen – so auch Şenol Buran. Er arbeitet in der Cafeteria der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet und musste neun Tage in Gewahrsam verbringen, weil er gesagt hatte, er würde sich weigern, Präsident Erdoğan Tee zu servieren.
In der Türkei herrscht mittlerweile ein Klima, in dem man sich besser zweimal überlegt, was man sagt. In dem Bestreben, jegliche Art von Kritik im Keim zu ersticken, kann selbst die trivialste Aussage von den Behörden in eine Beleidigung umgedeutet werden. Deshalb möchte Aylin gewappnet sein, denn sie weiß nicht, wann sie wieder nach Hause zurückkehren wird, falls sie festgenommen werden sollte.
Am 31. Dezember 2016 fand in Istanbul die Anhörung im Fall der Romanautorin Asli Erdoğan statt. Asli Erdoğan wurde am 29. Dezember nach 132 Tagen in Untersuchungshaft aus dem Gefängnis entlassen. Die Vorwürfe gegen sie hängen damit zusammen, dass sie eine Kolumne für die kurdische Tageszeitung Özgür Gündem geschrieben hat. Die Zeitung wurde nach dem Putschversuch unter den Notstandsgesetzen geschlossen. Asli Erdoğan hat das durchgemacht, vor dem sich Aylin fürchtet – sie wurde bei einer frühmorgendlichen Razzia in ihrer Wohnung festgenommen und über vier Monate lang festgehalten. Ihre willkürliche Untersuchungshaft war als Signal und Warnung an andere potenzielle Regierungskritikerinnen und –kritiker gedacht.
Asli Erdoğans Haftentlassung schien vielen ein schwacher Hoffnungsschimmer in dunklen Zeiten zu sein. Doch dieses Gefühl währte nicht lange. Zwei Tage später, in der Silvesternacht, überfiel ein Mann mit einer Schusswaffe einen Nachtclub in Istanbul und tötete 39 Menschen, 65 wurden verletzt. Ein schrecklicher Start ins neue Jahr für die Türkei. Am 4. Januar stimmte das türkische Parlament für eine Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere drei Monate. Wer gehofft hatte, dass die Türkei im Jahr 2017 ein sichererer Ort mit mehr Freiheiten sein würde, der wurde noch vor Jahresbeginn bitter enttäuscht.
Notstandsgesetze beschneiden Meinungsfreiheit
Seit der Ausnahmezustand im Juli 2016 verhängt wurde, kommt es in der Türkei zu Menschenrechtsverletzungen. Mit den Notstandsgesetzen werden wichtige Garantien für faire Gerichtsverfahren und auch grundlegende Schutzmechanismen gegen Folter und andere Formen der Misshandlung aufgehoben. Die türkische Regierung greift auf äußerst vage formulierte Notfallmaßnahmen zurück, um Personen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen, einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.
So stehen beispielsweise die Journalisten Erol Önderoğlu und Ahmet Nesin sowie die Menschenrechtsverteidigerin Şebnem Korur Fincanci wegen "terroristischer Propaganda" unter Anklage, weil sie an einer Solidaritätskampagne für die Zeitung "Özgür Gündem" teilgenommen haben. Am Tag nach der Freilassung von Asli Erdoğan klagten die Behörden den Investigativjournalisten Ahmet Şık wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" an. Ihm wird vorgeworfen, Verbindungen zu drei Gruppen mit widersprüchlichen Ideologien zu unterhalten, darunter auch die Gülen-Bewegung, die laut der türkischen Regierung hinter dem Putschversuch stehen soll. Dabei ignorieren die Behörden, dass Ahmet Şık diese Bewegung bereits seit Jahren öffentlich kritisiert.
Die Türkei steht in puncto nationaler Sicherheit ohne Zweifel vor riesigen Herausforderungen, und die Regierung ist zum Schutz aller Personen in ihrer Zuständigkeit verpflichtet. Neben dem gescheiterten Putschversuch wurden im Jahr 2016 zudem mehrere brutale Anschläge auf die Zivilbevölkerung verübt, begangen von bewaffneten Gruppen wie dem sogenannten "Islamischen Staat" (IS) und den "Freiheitsfalken Kurdistans" (Teyrêbazên Azadîya Kurdistan – TAK), einem Ableger der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK). Doch wie diesen Bedrohungen begegnet werden soll, das ist ein Punkt, der offen und unter Einbeziehung verschiedenster Akteurinnen und Akteure diskutiert werden muss. Stattdessen schüren die Behörden noch mehr Angst unter der Bevölkerung, indem sie die Meinungsfreiheit beschneiden und kritische Stimmen inhaftieren.
2016 war ein schwarzes Jahr für die Türkei, und die Angst ist allgegenwärtig und deutlich spürbar. In Istanbul ist mir aufgefallen, dass die Menschen in der Öffentlichkeit leiser miteinander sprechen und sich vorsichtiger verhalten. Zuhause sehen sie sich im Fernsehen "Diskussionsrunden" an, in denen alle Teilnehmenden dieselbe Meinung haben, und sind frustriert angesichts blockierter Social-Media-Seiten und einer schwindenden Auswahl an Medienkanälen. Das Leben fühlt sich eindimensional und farblos an.
Dynamische Zivilgesellschaft wird demontiert
Das türkische Gesellschaftsgefüge droht unter diesem Druck auseinanderzubrechen. Zu den kürzlich geschlossenen zivilgesellschaftlichen Organisationen zählen auch solche, die Überlebende von Folter und häuslicher Gewalt unterstützen, sowie örtliche humanitäre Einrichtungen, die Flüchtlingen und Binnenvertriebenen helfen. Auch die wichtigste NGO für Kinderrechte in der Türkei, Gündem Çocuk, wurde permanent geschlossen. Diese Demontage einer einstmals dynamischen Zivilgesellschaft lässt sich nur schwer überbewerten. In Zeiten wie diesen, in denen die Menschen verunsichert und verängstigt sind, brauchen wir mehr denn je couragierte Journalistinnen und Journalisten, Aktivistinnen und Aktivisten und Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger. Stattdessen werden sie in Gefängniszellen weggesperrt.
Das neue Jahr hat für die Türkei auf entsetzliche Weise begonnen. Die Menschen dort leben schon in ständiger Angst vor Anschlägen. Sie sollten nicht auch noch Angst davor haben müssen, ihre Meinung zu sagen. Sie trauern schon um Hunderte Personen, die im vergangenen Jahr ihr Leben gelassen haben. Sie sollten nicht auch noch um ihre Freiheit trauern müssen.
Mit dem Tageslicht, das in ihre Küche strömt, stößt Aylin einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Für sie beginnt ein weiterer Tag in Freiheit. Doch was der morgige Tag bringt, bleibt ungewiss – für sie und für ihr Land.
(*Name aus Sicherheitsgründen geändert)
Dieser Artikel ist zuerst online auf "Newsweek Today" erschienen