Aktuell Marokko 18. Mai 2015

Kampagne "Stop Folter"

Kampagne "Stop Folter"
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Amnesty-Mitglieder in Marokko demonstrieren im April 2015 gegen Folter

19. Mai 2015 - Schläge, schmerzhafte Positionen, Sauerstoffentzug, simuliertes Ertränken, psychische und sexuelle Gewalt: Dies sind nur einige der vielen Foltermethoden, die marokkanische Sicherheitskräften einsetzen, um "Geständnisse" zu erzwingen oder um Aktivistinnen und Aktivisten und Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Dies dokumentiert ein Bericht von Amnesty International, der heute im Rahmen der weltweiten Kampagne "Stop Folter" veröffentlicht wurde.

 

Der Bericht "Shadow of Impunity: Torture in Morocco and Western Sahara" zeigt die dunkle Seite hinter dem liberalen Image, das sich die marokkanische Staatsführung 2011 gab, als sie auf die Volksaufstände in der Region mit dem Versprechen reagierte, eine Fülle von Reformen in die Wege zu leiten und eine neue Verfassung mit einem Folterverbot zu schaffen.

"Die Regierung Marokkos vermittelt das Bild eines liberalen Landes, das die Menschenrechte wahrt. Doch solange für Inhaftierte und Andersdenkende weiterhin Foltergefahr besteht, bleibt dieses Bild trügerischer Schein", sagte Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Amnesty International.

"Wer an der Oberfläche kratzt, wird auf Folter stoßen, mit dem Protest zum Schweigen gebracht werden soll, und auf durch Folter erzwungene Geständnisse vor Gericht. Egal, ob man gegen Ungleichheit angeht oder für seine Überzeugung einsteht: man läuft stets Gefahr, zum Opfer von Folter und Gewalt zu werden."

Dem Bericht liegen 173 Fälle zwischen 2010 und 2014 zugrunde, in denen über Folter und andere Misshandlungen von Männern, Frauen und Kindern durch Polizei und Sicherheitskräfte berichtet wurde.

Zu den Folteropfern gehören Studierende, Angehörige linksgerichteter oder islamistischer Gruppierungen, Personen, die sich für das Recht der Westsahara auf Selbstbestimmung einsetzen, und Personen, die des Terrorismus oder allgemeiner Straftaten verdächtigt werden.

Wie der Bericht zeigt, besteht ab dem Moment der Festnahme und im gesamten Polizeigewahrsam Foltergefahr. Viel zu häufig werden Foltervorwürfe von den Gerichten ignoriert und Urteile aufgrund unter Folter erzwungener "Geständnisse" erlassen.

Es kann sogar passieren, dass Personen, die es wagen, sich zu beschweren und Gerechtigkeit einzufordern, wegen "Verleumdung" und "Falschaussage" strafrechtlich verfolgt werden. Straflosigkeit ist nach wie vor weit verbreitet, trotz der Versprechen der Behörden, die Menschenrechte zu wahren.

Folter in der Haft – zum „Geständnis“ gezwungen

Der Bericht dokumentiert brutale Foltermethoden, die Sicherheitskräfte bei Häftlingen anwenden. Dazu gehören u.a. schmerzhafte Positionen wie die "Brathähnchen-Position", bei der Häftlinge an Handgelenken und Knien an einer Eisenstange aufgehängt werden.

Zeichnung der "Brathähnchen-Position" nach Angaben des Häftlings Ali Aarrass, der 2010 so gefoltert wurde

Zeichnung der "Brathähnchen-Position" nach Angaben des Häftlings Ali Aarrass, der 2010 so gefoltert wurde

Der 27-jährige Mohamed Ali Saidi gehörte zu mehreren Sahrauis, die berichteten, von der Polizei in Gewahrsam gefoltert worden zu sein, nachdem sie im Zusammenhang mit Protesten in Laayoune in der Westsahara im Mai 2013 festgenommen worden waren. Er berichtete Amnesty International:

"Sie drohten mir, mich mit einer Flasche zu vergewaltigen – sie haben mir die Flasche gezeigt. Es war eine Glasflasche mit Pom [ein beliebter marokkanischer Softdrink] … Sie haben mir mit Stricken auf die Fußsohlen geschlagen, während ich in der ,Brathähnchen-Position’ aufgehängt war, und sie haben unsere Füße auch in Eiswasser getaucht … Als ich in der ,Brathähnchen-Position’ hing, haben sie mir ein Handtuch in den Mund gestopft und mir Wasser in die Nase gegossen, bis ich keine Luft mehr bekam. Dann haben sie Urin genommen. Schließlich haben sie … mich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und mir mit Gürteln auf die Oberschenkel geschlagen."

Der 34-jährige Franko-Algerier Abdelaziz Redaouia berichtete, von Sicherheitskräfte gefoltert worden zu sein, weil er sich nach seiner Festnahme im Dezember 2013 geweigert hatte, ein Vernehmungsprotokoll zu unterschreiben, das ihn wegen Drogendelikten belastete:

"Ich habe mich geweigert, das Vernehmungsprotokoll zu unterschreiben, also haben sie mich erneut geschlagen. Sie haben meine Wange in eine Handschelle geklemmt und daran gerissen, als wollten sie mir damit die Haut durchstoßen."

Wie er berichtete, drückten die Sicherheitskräfte seinen Kopf unter Wasser, versetzten ihm mithilfe einer Autobatterie Stromstöße an den Genitalien und schlugen ihm auf die Fußsohlen, während er aufgehängt war.

Misshandlung von Protestierenden

Dem Bericht zufolge gehen Sicherheitskräfte angesichts der herrschenden Straflosigkeit so weit, Protestierende als Warnung an andere ganz offen zu schlagen. Er dokumentiert Dutzende Fälle von Polizeigewalt gegen Demonstrierende und Unbeteiligte mitten in der Öffentlichkeit und in Fahrzeugen.

Der Student Abderrazak Jkaou berichtete, die Polizei habe ihn am Vorabend einer Demonstration in Kenitra auf dem Universitätsgelände bewusstlos geschlagen:

"Einige hatten lange Holzstöcke bei sich. Sie haben mich auf den ganzen Körper geschlagen. Dann hat mir ein Polizeibeamter in Zivil mit einer Handschelle zwischen die Augen geschlagen. Da bin ich umgefallen. Dann kamen die anderen und traten mir auf die Blase, bis ich urinieren musste. Sie haben mich geschlagen, bis ich bewusstlos wurde, und mich dann als Warnung für die anderen Studierenden vor das Universitätsgelände gelegt. Die Studierenden haben gedacht, ich sei tot."

Einige, die über ihre Festnahme und Folter berichteten, waren bekannte Aktivistinnen und Aktivisten, bei anderen wiederum handelte es sich um unbeteiligte Passantinnen und Passanten. Khadija, deren Name aus Sicherheitsgründen im Bericht geändert wurde, beschrieb, wie sie von der Polizei angegriffen wurde, als sie 2014 an einer Uni-Demonstration in Fes vorbeikam:

"Die Bereitschaftspolizei hat mich von hinten zum Straucheln gebracht. Als ich hinfiel, haben sie mir mein Kopftuch abgerissen und mich geschlagen. Dann haben sie mich mit dem Gesicht nach unten an den Füßen zu ihrem Transporter geschleift. Darin waren weitere zehn Polizeiangehörige. Im Fahrzeug haben sie mir die schwersten Schläge verpasst."

Das System schützt die Folterer, nicht die Gefolterten

Der Bericht macht auch auf eine alarmierende neue Entwicklung aufmerksam, und zwar den Einsatz von Gesetzen zu "Falschaussagen" und "Verleumdung", um gegen mutmaßliche Folteropfer vorzugehen, die offen über die von ihnen erlittenen Torturen berichten. Die marokkanischen Behörden haben im Rahmen dieser Gesetze acht Strafprozesse gegen Personen eingeleitet, die in den vergangenen zwölf Monaten Anklage wegen Folter erhoben haben.

Nach marokkanischem Recht kann eine "Falschaussage" mit bis zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldbuße von etwa 500 Euro und "Verleumdung" mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Inzwischen können Gerichte Anklagte zur Zahlung hoher Geldsummen als Entschädigung für "Verleumdung" und "Diffamierung" verurteilen.

2014 wurden die beiden jungen Aktivisten Wafae Charaf und Oussama Housne wegen "falscher Anschuldigungen" und "Verleumdung" zu zwei bzw. drei Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem sie Foltervorwürfe erhoben hatten. Allerdings hatten sie dabei die mutmaßlichen Täterinnen und Täter nicht einmal namentlich genannt.

Vier der so von den marokkanischen Behörden Beschuldigten hatten in Anbetracht ihrer doppelten Staatsbürgerschaft oder der Tatsache, mit einem französischen Staatsangehörigen verheiratet zu sein, vor französischen Gerichten Klage erhoben. Derartige Verfahren könnten zukünftig nicht mehr möglich sein, sollte das französische Parlament einen aktuell vorliegenden Antrag genehmigen, mit dem der Zuständigkeit französischer Gerichte für Rechtsverstöße in Marokko ein Ende bereitet werden soll.

"Marokko befindet sich an einem Scheidepunkt: Es kann sich für ein Justizsystem entscheiden, das stark genug ist, um gegen Menschenrechtsverstöße vorzugehen, oder für eines, dass diese deckt. Die Regierung spricht von Reformen, doch die Behörden scheinen stärker an Gesetzen gegen Verleumdung als an Gesetzen gegen Folter interessiert zu sein. Wenn sich die Dinge ändern sollen, müssen wir die Folterer vor Gericht sehen, nicht die Gefolterten. Wer offen das Wort erhebt, sollte geschützt und nicht verfolgt werden", so Salil Shetty.

Die Reaktion der Regierung

Die marokkanische Regierung, die eine vorläufige Bewertung der Ergebnisse des Berichts erhalten hatte, lehnte diese in einer ausführlichen Antwort kategorisch ab. In ihrer Antwort stellte sie offizielle Maßnahmen zur Bekämpfung von Folter vor, darunter geplante rechtliche Reformen. Allerdings ging sie auf wichtige Fragen von Amnesty International zu konkreten Foltervorwürfen nicht ein. Dazu gehörte auch die Frage, warum angemessene Untersuchungen dieser Vorwürfe fast nie stattfinden.

"Die Regierung behauptet, Folter sei eine Sache der Vergangenheit. Doch auch wenn sie ein paar Schritte eingeleitet hat, stellt jeder einzelne Folterfall ein schweres Versäumnis dar. Wir haben in ganz Marokko und der Westsahara 173 Fälle dokumentiert, und zwar quer durch alle Gesellschaftsschichten", so Salil Shetty.

"Das marokkanische Recht verbietet Folter, doch um dies auch in der Praxis durchzusetzen, sollten die Behörden Vorwürfen ordnungsgemäß nachgehen, anstatt diese sofort zurückzuweisen."

Hintergrundinformationen

Dieser Bericht ist Teil der Kampagne "Stop Folter", die von Amnesty International im Mai 2014 gestartet wurde, um gegen eine "globale Folterkrise" vorzugehen, und schließt an Berichte über Folter in Mexiko, Nigeria, den Philippinen und Usbekistan an. Laut Jahresbericht 2014 von Amnesty International zur Lage der Menschenrechte in 160 Ländern gab es in 82 % dieser Länder Fälle von Folter und anderen Misshandlungen (131 von 160).

Hier finden Sie den vollständigen englischsprachigen Amnesty-Bericht "Shadow of Impunity: Torture in Morocco and Western Sahara" (PDF, englisch, 143 Seiten).

Einen Rückblick über die inzwischen abgeschlossene Kampagne "Stop-Folter" findest du hier, sowie hier.

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