Aktuell 25. Juni 2014

Nigeria: Schutzlos ausgeliefert

Bei einem Angriff von Boko Haram in der nigerianischen Stadt Bama am 20. Februar 2014 wurden 60 Menschen getötet

Bei einem Angriff von Boko Haram in der nigerianischen Stadt Bama am 20. Februar 2014 wurden 60 Menschen getötet

25. Juni 2014 - Der 25. Februar 2014 hätte ein ganz normaler Schultag werden können. Doch gegen neun Uhr morgens stürmen mutmaßliche Mitglieder von Boko Haram eine Schule im nigerianischen Bundesstaat Yobe. Die Angreifer feuern wahllos Schüsse ab und erschießen jeden, der ihnen über den Weg läuft. In der Schule bricht Chaos aus. Schüler und Lehrer versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Einige Kinder, die sich in einem Klassenzimmer vor den Angreifern verstecken, werden bei lebendigem Leibe verbrannt. Um der Gewalt zu entfliehen, verstecken sich viele Schüler hinter Sträuchern und Büschen. Nach dem Überfall kehren sie nicht zurück. Was mit ihnen passiert ist, bleibt unklar. Auch umstehende Häuser und Schulgebäude fallen den Angreifern zum Opfer und werden angezündet.

Von Franziska Ulm-Düsterhoft
Afrika-Expertin von Amnesty International in Deutschland

Dieser Angriff ist kein Einzelfall. Immer wieder überfallen die Boko Haram Schulen, denn sie haben sich auf die Fahnen geschrieben, gegen "westliche" Bildung zu kämpfen. Nach Medienberichten sollen erst Ende Juni im Nordosten Nigerias nach Angaben von Augenzeugen weitere 60 Frauen und Mädchen sowie 31 Jungen verschleppt worden sein.

Für einen weltweiten Aufschrei sorgte die Entführung von mehr als 240 Schülerinnen im April 2014 im Dorf Chibok im Nordosten Nigerias. Die Boko Haram entführen häufig Mädchen und Frauen, um sie in den Nachbarländern an heiratswillige Männer zu verkaufen.

Die massenhafte Entführung vom April ist umso erschreckender vor dem Hintergrund, dass die nigerianischen Behörden vier Stunden vor der Entführung von dem geplanten Angriff von Boko Haram wussten und dennoch nichts unternahmen, um diesen zu verhindern. Vor Ort waren zum Zeitpunkt des Angriffs nur 17 Soldaten stationiert, die den rund 200 Boko-Haram-Kämpfern nichts entgegensetzen konnten. Obwohl Sicherheitskräfte und Behörden von dem geplanten Angriff wussten, wurde kein Militär nach Chibok verlegt, um die Mädchen zu schützen.

Gegenüber Amnesty berichteten mehrere Angehörige des Militärs, dass sie Angst vor Boko Haram hätten und deshalb nichts unternommen worden sei. Die Regierung stattet ihre Soldaten nur unzureichend aus und ihre Ausbildung ist mangelhaft, obwohl durch die Ölproduktion im Nigerdelta genug Mittel vorhanden sein müssten, um Abhilfe zu schaffen und die Soldaten nicht allein zu lassen. Stattdessen zeichnet sich die nigerianische Regierung durch Strategielosigkeit und chaotische Reaktionen aus.

Auf der anderen Seite begehen Sicherheitskräfte selbst immer wieder Menschenrechtsverletzungen und verschärfen damit die Unsicherheit im Land weiter. Willkürlich werden Menschen verhaftet, um von ihnen Geld zu erpressen. Menschen werden verhaftet und gefoltert, weil sie ohne jeglichen Beweis verdächtigt werden, zu Boko Haram zu gehören.

Im März töteten Sicherheitskräfte in Maiduguri über 600 Gefangene – ohne Folgen befürchten zu müssen. Auf einem Video ist zu sehen, wie ein Soldat einen Mann in Shorts auf die Straße schleift und mehrmals auf ihn schießt; daneben liegt schon eine Gruppe von Leichen. Er wird umjubelt von seinen Kameraden.

Mitte Mai hat Amnesty die weltweite Kampagne "Stop Folter" gestartet. Eines der Länder, auf das sich die Kampagne konzentriert, ist Nigeria, wo Folter erschreckend weit verbreitet ist. Statt die Terrorangriffe richtig zu untersuchen, setzen Polizei und das Militär routinemäßig Folter und andere Misshandlungen ein, um Informationen und "Geständnisse" zu erhalten.

Expertinnen und Experten von Amnesty besuchen seit vielen Jahren Polizeiwachen und Gefängnisse in Nigeria und haben hunderte Folter- und Misshandlungsvorwürfe im Gewahrsam der Polizei oder des Militärs dokumentiert. Gefangene berichteten von Schlägen, Tritten und Vergewaltigungen, dass man ihnen in die Beine schoss, die Zähne zog oder sie zwang, in schmerzhaften Positionen zu verharren. Die Täter kommen in der Regel straffrei davon.

Allein in diesem Jahr wurden in dem Konflikt mit Boko Haram schon über 2000 Menschen getötet, die Hälfte davon durch nigerianische Sicherheitskräfte. Wieviel Leid wird die nigerianische Bevölkerung noch ertragen müssen, bevor Regierung und Behörden endlich die richtigen Prioritäten setzen und die Menschenrechte ihrer Bürger schützen?!

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