Amnesty Journal Indien 28. September 2016

"Down Down Amnesty"

"Down Down Amnesty"

Amnesty Journal August/September 2017

Proteste, Anzeigen, gewalttätige Über­griffe: Das indische Amnesty-Büro ist ins ­Visier von regierungsfreundlichen Kräften geraten, die der Organisation "staats­gefährdende Aktivitäten" vorwerfen.

Text: Michael Gottlob

In Indira Nagar, einem ruhigen Wohnviertel von Bengaluru, in dem das Büro von Amnesty International in Indien liegt, wurde es an einem Freitag im August plötzlich laut. Mitglieder der "Akhil Bharatiya Vidyarthi Parishad" (ABVP), der Studentenorganisation der regierenden Indischen Volkspartei (BJP), riefen Slogans gegen Amnesty International: "Stop propaganda against Indian Army", "Amnesty International go back", "Down down Amnesty" und "Stop foreign-funded propaganda".

Die Demons­tranten versuchten mit Gewalt, in das Gebäude einzudringen. Einige hatten angeblich Benzinkanister dabei. Nur wenige Am­nesty-Mitarbeiter waren im Haus, die Direktion hatte sie auf Anraten der Polizei aufgefordert, ihre Arbeit von zu Hause aus zu erledigen. Dennoch war und ist die Lage angespannt.

Eine Woche zuvor, am 13. August 2016, hatte Amnesty eine Veranstaltung zur Lage in Kaschmir unter dem Titel "Broken Families" organisiert – erste Etappe einer auf mehrere Städte angelegten Tour und Kampagne, mit der Gerechtigkeit für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in dem indischen Bundesstaat gefordert werden sollte.
Eingeladen waren betroffene Familien aus Kaschmir, deren Schicksal in einem Amnesty-Bericht beschrieben wurde. Darüber hinaus waren auch Vertreter der sogenannten Kaschmir-Pandits eingeladen: Hindu-Familien, die nach dem Ausbruch der Unruhen in den neunziger Jahren aus Kaschmir hatten fliehen müssen.

Als es zu Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der indischen Armee und Sicherheitskräfte kam, wurde es unruhig im Publikum. Am Ende waren "Azaadi"-Rufe zu hören, mit denen Freiheit für Kaschmir gefordert wurde. Studenten der ABVP sahen hierin einen Angriff auf den indischen Staat und zeigten Amnesty als Veranstalter wegen Volksverhetzung an. Die Polizei, die während der Veranstaltung präsent war, verfasste einen ersten Bericht, ließ aber ebenso wie Politiker der im Bundesstaat Karnataka regierenden Kongresspartei durchblicken, dass es wenig Evidenz für eine Strafverfolgung gebe.

Dies rief Politiker der hindunationalistischen BJP auf den Plan. Sie warfen der Kongresspartei vor, das Verfahren gegen Amnesty aus politischen Motiven verhindern zu wollen. In mehreren Städten Karnatakas und anderer Bundesstaaten organisierten BJP und ABVP in den Tagen darauf Demonstrationen gegen Amnesty, auf denen die Verhaftung von Amnesty-Mitarbeitern und das Verbot der Organisation in Indien gefordert wurde.

Die Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir, um die es bei der Veranstaltung eigentlich ging, sind im Streit um eine Anklage gegen Amnesty in den Hintergrund gerückt. Im Zentrum der ­öffentlichen Debatte steht nun Artikel 124(a) des indischen Strafgesetzbuchs, der bestimmte Formen der Kritik an der Regierung als Volksverhetzung oder Aufwiegelung einstuft und Strafen bis hin zu lebenslänglicher Haft vorsieht. Mit diesem Gesetz, das noch aus Zeiten der ­Kolonialherrschaft stammt und u.a. gegen Gandhi angewandt wurde, werden in Indien immer häufiger Regierungskritiker und Menschenrechtsverteidiger zum Schweigen gebracht.

Amnesty International hat diesen Artikel regelmäßig als Verletzung des Rechts auf Meinungsfreiheit kritisiert und sich mit Eilaktionen für die Opfer eingesetzt. Nun steht Amnesty in Indien selbst am Pranger. Dies könnte der Moment sein, an dem für die Abschaffung von Artikel 124(a) mobilisiert werden kann. Tatsächlich erklärten sich Menschenrechtsorganisationen wie "People’s Union of Civil Liberties", "Forum Asia", "People’s Watch" und andere mit Amnesty solidarisch. Die NGO "Common Cause" hat sich wegen Missbrauchs des Gesetzes an den Obers­ten Gerichtshof gewandt. Und auch Politiker und Journalisten haben sich für eine Abschaffung oder Überprüfung des Gesetzes ausgesprochen.

In einigen Debattenbeiträgen, insbesondere im Fernsehen und in den sozialen Medien, zeigte sich aber auch eine erschreckende Aggressivität gegen Amnesty und die internationale Bewegung für die (angeblich westlichen) Menschenrechte. Wohin die Meinung der indischen Zivilgesellschaft tendiert, ist offen.

Weitere Informationen finden Sie auf: www.amnesty-indien.de

Dieser Artikel ist in der Oktober/November-Ausgabe 2016 des Amnesty Journal erschienen

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