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"Der gefährlichste Ort ist Zuhause"
Eine Mutter mit ihrem Kind in Chaman-e- Babrak Kabul.
© Amnesty International
Vor 15 Jahren marschierten westliche Truppen in Afghanistan ein und stürzten die Taliban. Der NATO-geführte Kampfeinsatz der Internationalen Schutz- und Unterstützungstruppe (ISAF) endete im Dezember 2014. Seither verschlechtert sich die Sicherheitssituation jedoch erneut. Ein Problem vor allem für Frauen. Humaira Rasuli ist Direktorin von "Medica Afghanistan", einer Partnerorganisation der deutschen NGO "Medica Mondiale", die sich weltweit für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten einsetzt.
Humaira Rasuli ist in Kabul geboren und in Pakistan zur Schule gegangen. 2002 kehrte sie nach Afghanistan zurück. Die studierte Betriebswirtin arbeitete zunächst bei "Medica Mondiale". Heute leitet die 35-Jährige deren Ableger "Medica Afghanistan".
2001 versprach die Internationale Gemeinschaft, die Situation von Mädchen und Frauen in Afghanistan zu verbessern. Hat sie ihr Versprechen eingelöst?
Es gibt positive Veränderungen. Vor allem in den größeren Städten können Frauen ihre Rechte besser wahrnehmen. Sie haben mehr Freiheiten, zu arbeiten. Es gibt Ministerinnen, Richterinnen und Polizistinnen. Das wäre unter dem Taliban-Regime undenkbar gewesen. Mehr als drei Millionen Mädchen gehen zur Schule – unter den Taliban waren es 2.000. Frauen haben heute eigene Geschäfte, sie leiten große Nichtregierungsorganisationen. Das sind wichtige Errungenschaften. Dennoch leiden Frauen in Afghanistan noch immer. Frauenrechte existieren auf dem Papier, aber nicht in der Praxis. Frauen sind weiterhin bei allen Entscheidungsprozessen unterrepräsentiert – das gilt von der Familie bis zum Parlament. So sind zwar 22 Prozent der Regierungsstellen inzwischen mit Frauen besetzt, aber nur neun Prozent von ihnen haben Positionen inne, in denen sie auch wichtige Entscheidungen treffen. Ein anderes Beispiel sind die Provinzen: Unter den 34 Gouverneuren ist keine Frau. Auch gibt es kaum Unterstützung für Frauenrechtsverteidigerinnen.
Sie arbeiten seit 2002 für "Medica Afghanistan". Seit 2010 sind Sie die Direktorin. Was genau macht Ihre Organisation?
Wir verfolgen einen ganzheitlichen, multidisziplinären Ansatz. Wir bieten psychosoziale Unterstützung in Form von Gruppen- und Einzelberatungen. Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe, indem wir Frauen stärken, sowie Rechtshilfe. Neben diesen Angeboten, die sich direkt an Frauen richten, betreiben wir auch Lobbyarbeit für Frauenrechte. Wir sind also auch politisch aktiv.
2015 wurde eine 28-Jährige in Kabul gelyncht. Sie soll einen Koran verbrannt haben, was sich als falsch herausstellte. In einem Dorf im Landesinneren wurde eine 19-Jährige wegen angeblichen Ehebruchs gesteinigt. Was muss passieren, damit so etwas nicht mehr vorkommt?
Hierfür braucht es eine gesellschaftliche Veränderung. Es ist jedoch nicht einfach, die vorherrschenden sozialen Normen zu hinterfragen. Solch ein Wandel muss auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Gesetze müssen umgesetzt werden. Die Justiz muss reformiert werden: Anwälte, Verteidiger und auch Richter brauchen eine bessere Ausbildung. Die Polizei muss sensibilisiert werden im Umgang mit Traumata sowie in Genderfragen. Ebenso sollte das Ministerium für Religionsfragen in den Lehrplan für religiöse Erziehung auch Koranverse aufnehmen, die die Gleichberechtigung unterstützen. Es gibt viele solcher Verse, doch leider sind sie kein Thema in der Gesellschaft. Vor allem aber brauchen wir eine Einbindung der jungen Generation. Die jungen Anwältinnen und Psychologinnen, die mit uns arbeiten, sind flexibel und aufgeschlossen für Veränderungen. Sie sind diejenigen, die den Wandel vorantreiben. Die ältere Generation ist dagegen kaum bereit für Veränderungen.
Humaira Rasuli, Direktorin von "Media Afghanistan", einer Partnerorganisation der deutschen NGO "Medica Mondiale"
© medica mondiale
Afghanistan hat einige fortschrittliche Gesetze, wie das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Will die Regierung die Gesetze nicht umsetzen oder kann sie es nicht?
Beides. Es gibt viele sozio-kulturelle Barrieren – auch unter Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Polizisten. Ich könnte Ihnen unzählige Beispiele dafür nennen. Wenn zum Beispiel eine Frau ihren Mann wegen Gewalt anklagen will, sagt man ihr, dass sie dann ihre Kinder verliere, dass sie doch keine schlechte Frau sein solle usw. Und um nicht alles zu verlieren, geht die Frau dann zurück zu ihrem Mann. Was das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen betrifft, wird dessen Umsetzung von der Regierung kaum kontrolliert. Dies wäre aber dringend notwendig. Das Gesetz sieht zum Beispiel in einzelnen Fällen Mediation vor, allerdings nicht bei schweren Straftaten. Doch genau in diesen Fällen wird Frauen zugeredet, den Frieden in der Familie zu erhalten und Unrecht hinzunehmen. Wir als "Medica Afghanistan" erarbeiten gerade Standards und Kriterien für die Mediation.
Um der Regierung mehr Druck zu machen, fordern manche Frauenrechtsaktivistinnen, die Auslandshilfen sollten an Verbesserungen im Bereich Frauenrechte geknüpft werden. Unterstützen Sie diese Forderung?
Es ist wichtig, hier die Balance zu halten. Es macht keinen Sinn, der Regierung zu viele Bedingungen zu stellen, denn sie ist schwach. Wenn sie die Anforderungen nicht erfüllen kann, verlieren wir letztlich die finanzielle Unterstützung, und das wollen wir nicht. Denn der afghanische Staatshaushalt wird zu rund 70 Prozent vom Ausland finanziert. Aber dennoch sollte es Druck geben. So sollte zum Beispiel gefordert werden, regelmäßig über die Umsetzung von Gesetzen zu berichten.
Ende 2014 wurde der ISAF-Einsatz beendet. In Teilen des Landes gewinnen die Taliban und andere radikale Gruppen seither wieder an Macht. Was bedeutet das für die Frauen?
Wir sind sehr enttäuscht, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert. 2015 wurden rund 11.000 Zivilisten verletzt oder getötet [Anm. d. Red.: etwa 7.500 verletzt und 3.500 getötet]. So viele wie seit 15 Jahren nicht mehr. Als die Taliban im September 2015 vorübergehend Kundus einnahmen, hat sich gezeigt, welche Konsequenzen die Sicherheitslage für die Rechte von Frauen hat. Viele Frauen haben die Stadt verlassen, sie haben ihre Arbeit als Journalistinnen, als Lehrerinnen oder auch bei der Polizei aufgegeben. Kundus zeigt, wie fragil die Errungenschaften der Frauen sind.
Überschatten nur Sicherheitsfragen die Frauenrechte?
Für die Frauen ist nicht nur ein Frieden im Land entscheidend. Der gefährlichste Ort für sie ist ihr Zuhause. Sie leiden unter massiver, auch sexualisierter Gewalt in ihren Familien. Es geht also nicht nur um militärische Sicherheit, sondern um die Achtung der Frauenrechte insgesamt. Für den militärischen Frieden werden wir keine Frauenrechte aufgeben. Die Rechte der afghanischen Frauen wurden genutzt, um die Invasion 2001 zu legitimieren. Wenn das jetzt geopfert wird, ist das eine Enttäuschung. Wir alle hoffen auf eine bessere Zukunft.
Interview: Sonja Ernst
Dieser Artikel ist in der Oktober/November-Ausgabe 2016 des Amnesty Journal erschienen