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Chor der Lobhudelei
Erwünschte Meinung: Ein Erdoğan-Anhänger feiert den AKP-Wahlsieg 2015
© Nicola Zolin/ Redux-REA/laif
Die Pressefreiheit in der Türkei ist bedroht wie nie zuvor. Präsident Erdoğan hat die Medienlandschaft weitestgehend nach seinem Willen umgebaut. Nur wenige Medien halten dem Druck noch stand.
Von Jürgen Gottschlich
"Noch nie war es so schlimm wie heute", sagte unlängst Can Dündar, Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung "Cumhuriyet". Nach Ansicht des türkischen Journalisten, der mittlerweile weltweit bekannt ist, war die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei selbst in den Jahren nach dem Militärputsch 1980 nicht so bedroht wie in diesen Tagen.
Nun ist Can Dündars Einschätzung sicher auch dadurch beeinflusst, dass er jüngst gemeinsam mit dem Hauptstadtkorrespondenten von "Cumhuriyet", Erdem Gül, in einem spektakulären Prozess vor Gericht stand, in dem er wegen seiner journalistischen Arbeit zu fünf Jahren und zehn Monaten und Gül zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Vor der Urteilsverkündung hatte ein Attentäter "Verräter" gerufen und auf ihn geschossen. Can Dündar blieb unverletzt.
Andere sind, was die Pressefreiheit anbelangt, ganz anderer Meinung. Noch nie seien die Medien der Türkei so frei gewesen wie heute, heißt es bei den beiden auflagenstarken Zeitungen "Yeni Şafak" und "Sabah". Das hat einen ganz einfachen Grund: "Yeni Şafak" und "Sabah" sind die größten und wichtigsten Zeitungen des Regierungslagers, während "Cumhuriyet" zu den schärfsten Kritikern des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gehört.
Während die regierungsnahen Zeitungen und die entsprechenden Fernsehstationen ausschließlich Propaganda für die Regierung betreiben, wird die kritische bürgerliche Presse verfolgt, wie noch nie seit der Einführung des Mehrparteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg.
Explizit linken oder gar kurdischen Zeitungen ging es schon immer so, aber seit einigen Jahren werden durch die Erdoğan-Regierung nun auch bürgerliche Medien, die ihr kritisch gegenüberstehen oder aber sich weigern, in den Chor der Lobhudelei einzustimmen, wie Staatsfeinde behandelt. Das hat es in der Türkei so noch nie gegeben.
Es gibt für diese Entwicklung einen Startpunkt: den Wahlsieg der AKP im Juli 2007. In den ersten Jahren ihrer Regierung – nach dem überraschenden Wahlerfolg Ende 2002 – hatte die AKP noch in allen Lagern nach Unterstützern gesucht und sich entsprechend liberal verhalten.
Jeder durfte schreiben, was er wollte, weil das alte, militärisch gestützte Repressionsregime wankte und ein neues noch nicht etabliert war. Das änderte sich mit dem zweiten Wahlsieg der AKP 2007. Auf die liberale Phase folgte nun die Zeit des Ausbaus der eigenen Macht, und dazu gehörte eine stärkere Kontrolle der Medien.
Deutlich wurde das an den zwei damals wichtigsten Zeitungen der Türkei: "Hürriyet", dem Flaggschiff des Doğan-Konzerns, und "Sabah", die zur Holding des bekannten Unternehmers Dinç Bilgin gehörte. Beide waren staatstragende Medien aus dem säkularen, kemalistischen Spektrum – eben dem Spektrum, das die Staatsgewalt in der Türkei repräsentierte.
Die islamisch grundierte AKP, mit dem damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze, sah sich nach ihrem Wahlsieg 2007 genügend gestärkt, um sich mit dem publizistischen Bollwerk der "alten Türkei" anzulegen. Dieser erste Angriff erfolgte noch nicht über Festnahmen und Verbote, sondern über die Ökonomie.
Da Dinç Bilgin bei einer seiner Banken in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war, zwang die Regierung ihn, "Sabah" zu verkaufen. Auf Drängen Erdoğans kaufte ein AKP-naher Geschäftsmann die Zeitung und baute sie nach und nach in ein reines AKP-Propaganda-Organ um. Alle AKP-kritischen Journalisten wurden gefeuert. Da der Doğan-Konzern mit der noch wichtigeren "Hürriyet" wirtschaftlich deutlich besser dastand, bediente sich die Regierung hier eines anderen Instrumentes als bei "Sabah": Erdoğan schickte die Steuerfahndung.
Nach mehreren Prüfungen kam Erstaunliches heraus: Umgerechnet eine knappe Milliarde Euro sollte die Doğan-Holding an Steuern nachzahlen. Nun gehört der Konzern zwar zu den größten des Landes, doch diese angebliche Steuerschuld hätte ihn an den Rand des Ruins getrieben. Also wurde verhandelt. Zunächst musste Doğan den langjährigen Chefredakteur von "Hürriyet", Ertuğrul Özkök, feuern. Mit jedem weiteren Einschnitt im Sinne der AKP verringerte sich dann auch die Steuerschuld.
Letztlich überlebte "Hürriyet", aber das Blatt ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Dennoch mobilisierte die Istanbuler AKP im September vergangenen Jahres noch Tausende Anhänger, die wegen einer angeblichen Falschmeldung zu Lasten Erdoğans das Blatt regelrecht belagerten und damit drohten, die Zeitung zu stürmen. Die Mitarbeiter von "Hürriyet" wähnten sich in Lebensgefahr, als die Polizei zusah, wie der Mob die Scheiben einschlug.
Der aktuelle Chefredakteur Sedat Ergin, ein durch und durch bürgerlicher Mann, der eher zu diplomatischer Zurückhaltung als zu einem kämpferischen Auftritt neigt, erlitt fast einen Herzinfarkt vor Angst und entschuldigte sich öffentlich, doch es nutzte alles nichts: Auch Sedat Ergin steht wegen angeblicher Beleidigung Erdoğans derzeit vor Gericht.
Can Dündar ist als Person ein anderes Kaliber als Sedat Ergin, und er hat mit der "Cumhuriyet" auch einen anderen Verlag im Rücken. Die Zeitung gehört einer Stiftung und muss keinen Gewinn machen, sie ist deshalb auch ökonomisch nicht erpressbar.
Dündar hat keine Angst vor dem Gefängnis und griff Erdoğan auch im Prozess offensiv an. Der Journalist wurde wegen "Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen" verurteilt, weil die Zeitung eine Enthüllungsgeschichte über illegale Waffentransporte des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien publizierte. "Cumhuriyet" ist deshalb international zum Leuchtturm der Pressefreiheit in der Türkei avanciert, doch im Land selbst erreicht das Blatt höchstens noch 70.000 Leser.
Ähnlich wie "Cumhuriyet" ergeht es der Tageszeitung "Birgün", die sich in den vergangenen Jahren durch Unerschrockenheit und investigativen Journalismus von einem Nischenblatt zu einer landesweiten linken Zeitung entwickelt hat. Das Blatt ist genossenschaftlich organisiert, und die meisten Redakteure und Redakteurinnen haben sich längst daran gewöhnt, mit einem Bein im Gefängnis zu stehen. Die Zeitung wird regelmäßig mit Beleidigungsklagen des Präsidenten überzogen. Die daraus resultierenden Geldstrafen sind so hoch, dass "Birgün" kürzlich ihre Leser um Unterstützung bitten musste, um eine Pleite abzuwenden.
Bleiben noch die Medien, die zwar dem islamischen Spektrum angehören, Erdoğan aber dennoch kritisieren. Dazu zählen, mit Ausnahme einiger radikal-islamistischer Nischenprodukte, vor allem die Zeitungen und Fernsehsender der islamischen Gülen-Bewegung. Ihr Flaggschiff war bis vor wenigen Wochen die Tageszeitung "Zaman".
Jahrelang waren die Gülen-Medien die wichtigsten Unterstützer der AKP, im Herbst 2013 wurden sie dann, quasi über Nacht, zu ihren schärfsten Kritikern. Der Grund dafür war ein Zerwürfnis zwischen dem in den USA lebenden Vorsitzenden Fethullah Gülen und Recep Tayyip Erdoğan. Seitdem bekämpfen sich die beiden islamischen Bewegungen mit fast allen Mitteln.
Erdoğan hat die Gülen-Bewegung mittlerweile zur terroristischen Organisation erklären lassen und ihre Medien unter staatliche Aufsicht gestellt. Seit März entscheiden Erdoğan-Vertraute, was in "Zaman" erscheint, und haben so auch diese Zeitung in ein Propaganda-Organ der Regierung umgewandelt.
Medienexperten schätzen, dass mittlerweile fast 90 Prozent aller Zeitungen und Fernsehkanäle zumindest indirekt von der Regierung kontrolliert werden. Für kritische Türkinnen und Türken sind deshalb längst die sozialen Medien zur wichtigsten Informationsquelle geworden. Zwar versucht Erdoğan schon lange, durch Verbote und andere Reglementierungen Facebook und vor allem Twitter ebenfalls unter Kontrolle zu bekommen, doch gelingt ihm das bislang nicht.
Zu vielfältig sind die Möglichkeiten, über ausländische Provider nationale Sperren zu umgehen. Allerdings werden immer häufiger auch Personen angeklagt, die angeblich über Twitter den Staatspräsidenten beleidigt oder Propaganda für eine Terrororganisation betrieben haben sollen. Gefahrlos ist deshalb auch die Twitter-Opposition nicht.
Der Autor ist Mitbegründer der taz und lebt seit 1998 als Korrespondent
in Istanbul.
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