Amnesty Journal Deutschland 22. Januar 2016

Gezeichnet

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Gefühle mitteilen. Comic-Workshop für Geflüchtete

Die Künstlerin Ali Fitzgerald bietet in einer Berliner Notunterkunft Comic-Workshops für Geflüchtete an.

Von Ralf Rebmann

Bevor der Zeichenkurs beginnt, werden erst einmal Vokabeln gepaukt. Die Künstlerin Ali Fitzgerald hat gerade mit wenigen Strichen ein Porträt von Khaled* auf eine Tafel gemalt. Khaled steht auf, nimmt einen Stift und schreibt in großen Buchstaben "Ich heiße Khaled" in die Sprechblase.

Ali Fitzgerald zeichnet die Grübchen noch ein ­bisschen breiter und die Augen noch ein bisschen größer, zeigt auf das Porträt und sagt dann in die Runde: "Lachen". Knapp ein halbes Dutzend junger Männer wiederholt lautstark "Lachen" und schreibt das Gesagte auf. Sie kommen aus Syrien, Afghanis­tan und Pakistan und wohnen derzeit in einer Notunterkunft für Geflüchtete, die von der Berliner Stadtmission und dem Land Berlin betrieben wird.

Seit Juli 2015 gibt die US-amerikanische Künstlerin Ali Fitzgerald dort wöchentlich Zeichenkurse. "Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, den Comic-Workshop mit Deutschunterricht zu kombinieren", sagt sie.

Jede Woche sei die Gruppe anders zusammengesetzt. Manche könnten schon zeichnen, andere wollten es lernen oder sich die Zeit vertreiben. "Viele sind interessiert und setzen sich einfach dazu." An diesem Nachmittag ist die Gruppe besonders groß. "Zeichnen ist nicht nur etwas für Mädchen", sagt Ali Fitzgerald, die seit sieben Jahren in Berlin lebt. "Von dieser Tatsache muss man junge Männer manchmal überzeugen – vor allem wenn die Alternative Fußball ist."

Die Notunterkunft in der Kruppstraße ist voll belegt. Die Traglufthalle, die aussieht wie ein riesiger, weißer Ballon, bietet 294 Personen Platz. Ursprünglich sollten die Geflüchteten hier nur für wenige Tage Unterschlupf finden, um nach zügiger Registrierung beim Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin einen Wohnplatz zu bekommen. Doch da die Registrierung derzeit eher Wochen statt Tage dauert und zusätzliche Unterkünfte erst noch geschaffen werden müssen, leben viele Geflüchtete schon etwas länger in der Kruppstraße.

Rivan* fühlt sich in der Notunterkunft wohl. Auch er wohnt bereits mehrere Wochen dort. Der 26-Jährige hat sich etwas ­abseits der Gruppe auf eine Bank gesetzt. "Zeichnen? Wieso nicht?", sagt er und nimmt Papier und Bleistift in die Hand. ­Rivan kommt aus Qamischli, einer Stadt im Nordosten Syriens nahe der türkischen Grenze. 2012 ist er in die Türkei geflohen, wo er drei Jahre gelebt hat.

"Die Situation in der Türkei war schwierig", erzählt er. In Syrien habe er vor dem Krieg bei einem Telefonunternehmen gearbeitet. In der Türkei sei die Arbeitssuche kompliziert gewesen. "Wenn man Arbeit findet, reicht der Lohn kaum aus, um eine ­Familie zu ernähren." In den großen Städten müssten syrische Kinder auf der Straße betteln. "Was ist das für ein Leben?", fragt er. Rivan beginnt sein Bild mit langen, waagerechten und senkrechten Strichen. Er zeichnet ein Buch, eine Hand, das Meer.
Mittlerweile ist die Gruppe deutlich angewachsen: Rund zwei Dutzend Männer, Frauen und Kinder sitzen an drei langen Tischen und beugen sich über ihre Zeichnungen.

Während die Gruppe rund um Khaled sehr konzentriert arbeitet, herrscht am "Kindertisch" lautes Treiben. Gesichter, mal lachend, mal weinend, sind bei den Kindern hoch im Kurs. Am beliebtesten ist zweifellos die Comic-Figur "Sponge Bob".

"Es entstehen ganz unterschiedliche Motive", sagt Ali Fitzgerald. "Flaggen und Landschaften sind darunter, Liebesgeschichten, aber auch Zeichnungen, die Flucht und Krieg widerspiegeln. Auch Boote werden oft gezeichnet." Unzählige Bilder sind in den vergangenen Monaten auf diese Weise zusammengekommen. Auf deren Basis hat Ali Fitzgerald einen eigenen Comic produziert, der im September 2015 auf der US-amerikanischen Nachrichtenseite "Vox.com" veröffentlicht wurde.

Die Idee für den Zeichenkurs entstand durch den Comic-Workshop "Heldinnen gesucht", an dem die Künstlerin ebenfalls beteiligt war. So wurde Mathias Hamann, der Leiter der Notunterkünfte der Berliner Stadtmission, auf sie aufmerksam: "Geflüchtete Menschen können durch Comics ihre ­eigene Geschichte erzählen, ihre Gefühle mitteilen." Auf diese Weise lasse man sie selbst ohne Deutschkenntnisse an der Gesellschaft teilhaben, sagt Hamann. Die Berliner Stadtmission versucht, ­Geflüchteten auch durch Deutschkurse, Sportkurse oder Stadtspaziergänge das lange Warten erträglicher zu machen.

Rivan hat seine Zeichnung inzwischen fertiggestellt. Er hat ein Buch gezeichnet, auf dessen Seiten sich eine Waage und die Symbole des Islams, Judentums und Christentums finden. "Das ist das Buch der Welt", erklärt er. "Gerechtigkeit und Menschenrechte. Das wollen wir alle." In der Zeichnung lässt er außerdem eine große Hand aus der linken Buchseite herausragen, die nach einem Seil greift. Die Hand gehöre den Syrern, die um Hilfe rufen, sagt Rivan. "Wir wollen nicht sterben. Wir wollen leben."

Ali Fitzgerald ist davon überzeugt, dass Comics und andere Formen visueller Kommunikation Alternativen bieten, sich auszudrücken. "Oft genug packen wir Geflüchtete in eine Kategorie. Ihre Zeichnungen können dabei helfen, sie als Individuen zu ­sehen – mit einem vielschichtigen Leben, mit Hoffnungen und Wünschen." Sie hofft, dass solche Workshops dazu beitragen, diese Perspektiven sichtbar zu machen.

Eine erste Gelegenheit bot sich im Dezember 2015 im Rahmen einer Ausstellung in der "Neuen Schule für Fotografie ­Berlin". Organisiert wurde sie von Ali Fitzgerald, Amnesty International und den Organisatoren des Berliner Comicfestivals "Comic Invasion". Die Macher des Festivals wollen das Konzept erweitern und Comic-Workshops für Geflüchtete auch in anderen Berliner Notunterkünften anbieten.

Zwei weitere Workshops starteten im Januar. Es werden dennoch Künstlerinnen und Künstler, Übersetzerinnen und Übersetzer gesucht, die das Projekt unterstützen möchten. Beim nächsten Comicfestival, das vom 1. bis 17. April 2016 stattfinden wird, sollen die Ergebnisse der Workshops präsentiert werden. Vielleicht wird auch Rivans Zeichnung dabei sein.

*Name geändert

Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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