Amnesty Journal Indien 13. April 2016

Ideologie der Intoleranz

Tatort Bishara. Hier wurde Mohammed Akhlaq im Sept. 2015 zu Tode geprügelt. Sein Vergehen: Er soll Rindfleisch gegessen haben

Tatort Bishara. Hier wurde Mohammed Akhlaq im Sept. 2015 zu Tode geprügelt. Sein Vergehen: Er soll Rindfleisch gegessen haben

Indien kämpft um seine Freiheiten. Im Westen wird Premierminister Narendra Modi hofiert, doch zu Hause hetzen Hindu-Nationalisten gegen Regierungskritiker und religiöse Minderheiten. Indiens lebendige Debattenkultur ist in Gefahr.

Von Sonja Ernst

Die tödlichen Schüsse fielen in der Nähe eines Hindu-Tempels: Im August 2013 wurde der Aktivist Narendra Dabholkar in Pune auf offener Straße getötet. Es war der Auftakt einer Mordserie an religionskritischen Intellektuellen. Im Februar 2015 erschossen in Mumbai zwei Männer den kommunistischen Politiker Govind Pansare während seines Morgenspaziergangs. Ein halbes Jahr später traf es den prominenten Wissenschaftler M. M. Kalburgi. Sein Mord glich einer Exekution: Die Attentäter suchten den 77-Jährigen in seinem Haus in Dharwad auf und drückten ab – aus nächster Nähe. Kalburgi hatte immer wieder gegen religiösen Fanatismus und blinden Aberglauben angeschrieben – und immer wieder hatten ihn militante Hindu-Nationalisten deswegen bedroht.
Indien ist eine säkulare, multikulturelle Demokratie. Doch seit dem Amtsantritt von Narendra Modi vor zwei Jahren wird eine Ideologie der Intoleranz immer einflussreicher: Religiöse Nationalisten wollen das Land in einen Hindu-Staat verwandeln – auch mit Gewalt. Die Regierung lässt sie oft gewähren.

Die Hindutva-Ideologie, nach der Indien das Land der Hindus ist, macht Anhänger anderer Religionen zu Fremden und Ausländern, zu Bürgern zweiter Klasse. Die zunehmende Ausbreitung dieser Ideologie führt bei Angehörigen religiöser Minderheiten zu Furcht und Schrecken, denn in der Vergangenheit hat sich allzu oft gezeigt, wie gewaltträchtig der offen propagierte Dominanzanspruch der "Mehrheitsreligion" gegenüber anderen ist.

Die jüngere indische Geschichte ist von schweren religiös motivierten Auseinandersetzungen durchzogen. Erinnert sei nur an die Gewalt gegen Sikhs nach der Ermordung Indira Gandhis in Delhi (1984), an die Gewalt gegen Christen im Bundesstaat Odisha, denen der Mord an einem Hindu-Hassprediger in die Schuhe geschoben wurde (2008) oder an die Gewalt gegen Muslime, die im Bundesstaat Gujarat ausbrach, nachdem ein ­Eisenbahnwaggon mit Hindu-Pilgern in Brand gesetzt worden war (2002). Bei den anschließenden Pogromen wurden mehr als 1.000 Männer, Frauen und Kinder getötet. Modi war damals ­Ministerpräsident des Bundesstaates. Seine politischen Gegner machen ihn für die Gewalt mitverantwortlich, doch juristisch geklärt wurde seine Rolle nie.

Religiöse Spannungen werden für Wahlkämpfe genutzt
Dass religiös motivierte Gewalt gerichtlich nicht hinreichend aufgearbeitet wird und viele Täter ungestraft davonkommen, trägt zu den anhaltenden Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften bei. Selbst nichtige Anlässe, wie etwa der Verzehr von Rindfleisch, können dazu führen, dass Streit aufflammt – das Rind ist im Hinduismus ein heiliges Tier. Im September 2015 prügelten in einem Dorf in der Nähe von Neu-Delhi 100 Menschen einen 50-jährigen Muslim zu Tode, weil er Rindfleisch gegessen haben soll.
Oft genug wird Streit sogar gezielt geschürt, etwa zur Mobilisierung in Wahlkämpfen. Premierminister Modi äußert sich so gut wie nie zu religiösem Hass und Rassismus, der auch von führenden Politikern seiner Partei und ihr nahestehenden Organisationen ausgeht. Und wenn er sich äußert, geschieht dies meistens zu spät.

Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und auch Schauspieler beklagen wachsende Intoleranz und erinnern an die vielen Angriffe auf Andersdenkende in den vergangenen Jahren: Verleger wurden unter Druck gesetzt, Bücher aus dem Verkehr zu ziehen, Universitäten und Colleges mussten Lehrpläne ändern und bestimmte Texte aus den Literaturlisten streichen. Im Oktober 2015 traten 53 Historiker mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, in der sie eine "bedrohliche Stimmung" im Land beklagen und die offene Gewalt gegen einzelne Forscher anprangern: "Man versucht, Meinungsverschiedenheiten durch physische Gewalt beizulegen." Die Regierung, so der Verdacht, wolle offenbar die bisherige Deutungsvielfalt in Wissenschaft und Lehre durch eine Art "gesetzlich vorgeschriebene Geschichtsschreibung" nach politischen Maßgaben ersetzen. Doch die Regierung unter Premierminister Narendra Modi und seine hindu-nationalistische BJP (Bharatiya Janata Party) wollen keine demokratische Debatte: Alle Kritik wird als Konspiration, als anti-national oder als Aufwiegelung stigmatisiert.

Gespaltene Gesellschaft. Vor der Jawaharlal-Universität in Delhi protestieren Aktivistinnen gegen "anti-nationale Propaganda"

Gespaltene Gesellschaft. Vor der Jawaharlal-Universität in Delhi protestieren Aktivistinnen gegen "anti-nationale Propaganda"

"Warum gibt sich die BJP, die mit solch einer Mehrheit angetreten ist, derart unsicher, dass sie jeden Dissens und jede Meinungsverschiedenheit als anti-national betrachtet?", fragt der Schriftsteller Kiran Nagarkar. Der 74-Jährige formuliert präzise und ruhig. In seiner Heimat zählt er zu den wichtigsten Autoren, die sich dem post-kolonialen Indien widmen, und in Deutschland zu den prominentesten Autoren Indiens. Man hört ihm die Sorgen an, die in derzeit umtreiben. "Es geht nicht um einzelne Vorfälle seitens der Regierung. Es geht um die Anhäufung einer endlosen Serie an Vorfällen, die absolut gegen den Geist der Demokratie verstoßen. Das ist nicht nur gefährlich, es ist beängstigend."

Einer dieser Vorfälle spielte sich im Februar 2016 in der Hauptstadt Neu-Delhi ab. Auf dem Campus der für links-orientierten Aktivismus bekannten Jawaharlal-Nehru-Universität sollen Studierende bei einer Demonstration anti-nationale Parolen gerufen haben. Zwar war zunächst unklar, wer was gesagt hatte, doch die Regierung stürzte sich auf die vermeintlichen Parolen und blies zum Angriff. Minister redeten und twitterten sich in Rage über liberale Studierende. Der Studentenführer Kanhaiya Kumar landete wegen Aufwiegelung im Gefängnis. Bei seiner Anhörung vor Gericht prügelten BJP-nahe Anwälte auf ihn, Studierende und Journalisten ein. Die Männer in Roben führten sich auf wie Hooligans, doch die Polizei schaute zu.

Die nationalistischen Kräfte fühlen sich seit dem Wahlsieg Narendra Modis im Mai 2014 ermuntert. 32 Prozent der Wähler hatten für die BJP gestimmt: Aufgrund des Mehrheitswahlrechts bedeutete dies die absolute Mehrheit. Im Wahlkampf hatte sich Modi als Macher inszeniert und versprochen, die Wirtschaft anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen und die Korruption zu beenden. Die Wähler hörten das gern, auch weil sie die alte Regierung unter Führung der Kongress-Partei satt hatten.
Zum Wahlerfolg hatten auch die vielen Helfer des RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) beigetragen. Dieses radikal-hinduistische Freiwilligenkorps warb für Modi, der selbst ein politisches Kind des mächtigen RSS ist. Heute lässt Modi die Mitglieder des RSS gewähren und schweigt, wenn sie Schriftsteller bedrohen oder Stimmung machen gegen Muslime, Christen und alle, die kein hindu-nationalistisches Indien ohne Pluralismus und ohne religiöse Vielfalt wollen.

Der ermordete Wissenschaftler M. M. Kalburgi hatte diese Kräfte stets kritisiert. Er war 2006 von der renommierten indischen Literaturakademie Sahitya Akademi für sein Werk ausgezeichnet worden. Nach seinem Tod schwieg die Institutsleitung jedoch. Dafür reagierten seine Kollegen mit einem Zeichen des Protests: Rund 40 Schriftsteller gaben in den folgenden Wochen ihre staatlichen Auszeichnungen zurück. Autoren aus verschiedenen Regionen Indiens, die in unterschiedlichen Sprachen schreiben, solidarisierten sich. Denn wie konnte es sein, dass die wichtigste literarische Vereinigung schwieg?

Regierung treibt Polarisierung der indischen Gesellschaft voran
Auch Modi schwieg. Dafür sprachen andere aus der Regierung. Kulturminister Mahesh Sharma sagte in einem Interview: "Wenn die Schriftsteller sagen, sie seien nicht in der Lage zu schreiben, lasst sie aufhören mit dem Schreiben". Finanzminister Arun Jaitley drehte den Spieß um und warf den Autoren "ideologische Intoleranz" vor.
Die Regierung treibt die Polarisierung der indischen Gesellschaft voran. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie und damit anti-national. Dieses Muster findet sich in allen Bereichen – in Religion und Kultur, Forschung und Lehre, selbst in der Wirtschaftspolitik. Dabei hat Indien eine lebendige Debattenkultur. Der Intellektuelle Pratap Bhanu Mehta erinnerte jüngst zu Recht daran, dass selbst anti-nationale Töne kein Verbrechen sind.
Premierminister Modi versucht derweil, seine Wahlversprechen wahr zu machen. Er reist um die Welt und wirbt für Investitionen. Initiativen wie "Make in India", "Start-up India" oder "Smart Cities" sollen Indien nach vorn bringen. Schöne Slogans oder Wandel? Das ist noch offen. Doch es zeigt sich bereits, dass Indiens Wirtschaftswachstum wenig für die Millionen von Armen abwerfen und auf Kosten der Umwelt gehen wird.

Bei den Wählern stellt sich Ernüchterung ein. Bei den Wahlen in der Hauptstadt Neu-Delhi im Februar 2015 kassierte die BJP eine Schlappe. Auch die Wahlen in Bihar, einem der ärmsten Bundesstaaten mit 60 Millionen Wählern, gingen im November verloren – obwohl Narendra Modi dort persönlich Wahlkampf betrieben hatte. Heißt das, dass sich die Mehrheit der Wähler von Modi und seiner Politik verabschiedet hat? Kiran Nagarkar glaubt das nicht. "Es gibt viele Inder, die desillusioniert sind. Aber ich würde die RSS-Welle nicht unterschätzen. Modi ist ein ausgezeichneter Demagoge. Viele Menschen lieben seine Reden und seine Doppelzüngigkeit."

Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Köln.

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