Amnesty Journal 22. Januar 2016

Der Fortschritt ist eine Schnecke

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Wolfgang Kaleck erzählt in seinem Buch "Mit Recht gegen die Macht" von seinem Kampf als Menschenrechtsanwalt.

Von Michael Krämer

Sie lernten sich kennen bei Würstchen und Kartoffelsalat. Die servierte Ellen Marx dem Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck bei dessen erstem Besuch 1999 in Buenos Aires. Die 1921 in Berlin geborene Jüdin war 1939 den Nazis entkommen und nach Argentinien geflohen. Ihre Tochter Nora wurde während der Militärdiktatur 1976 entführt und ermordet. Weil die juristische Aufarbeitung dieses und fast aller anderen Verbrechen der Militärjunta nicht vorankam, setzten Angehörigengruppen auch auf Ermittlungen im Ausland.

Im Fall der deutschstämmigen Marx und mehrerer weiterer Verschwundener und Ermordeter sollte die deutsche Justiz eingeschaltet werden. Kaleck engagierte sich damals bereits in der "Koalition gegen die Straflosigkeit", einem Bündnis deutscher NGOs und Verbände, die sich der Aufklärung und Strafverfolgung der Verbrechen der argentinischen Militärjunta verschrieben hatten.

Die Reise 1999 sollte Kalecks Leben verändern. Über viele Jahre hinweg versuchte er, die Verantwortlichen für den Mord an Nora Marx und anderen in Deutschland vor Gericht zu bringen, gemeinsam mit Angehörigen, Anwälten und Menschenrechtsorganisationen.

Bald wurde er auch in anderen Ländern aktiv und Teil des Netzwerks derer, die sich weltweit für die Menschenrechte einsetzen und versuchen, die Täter und ihre Hintermänner zur Verantwortung zu ziehen. Ihre wichtigste Waffe: das nationale und das internationale Recht. Das 2007 von Kaleck mitgegründete "European Center for Constitutional and Human Rights" (ECCHR), dessen Generalsekretär er seitdem ist, ist heute eine der wichtigen Adressen im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen von Staaten und Unternehmen.

Kaleck selbst machte sich über die engere Menschenrechtsszene hinaus einen Namen, als er im Herbst 2004 bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe Strafanzeige gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen Folter im Irak und in Guantánamo einreichte. Karlsruhe weigerte sich, zu ermitteln, eine klare Angelegenheit von politischer Rücksichtnahme auf die USA.

Von diesem und vielen weiteren Fällen berichtet Kaleck in seinem neuen Buch "Mit Recht gegen die Macht". Der Autor schildert darin zunächst seine eigene Entwicklung vom politischen Strafverteidiger zum international handelnden Menschenrechtsanwalt. Schon immer zog es den 1960 geborenen Anwalt zu politischen Fällen hin. Eine 1991 von ihm mitgegründete Kanzlei hatte ihr erstes Büro im Ostberliner "Haus der Demokratie", er verteidigte ehemalige DDR-Bürger, die Opfer politischer Verfolgung geworden waren, und Opfer rechter Gewalt.

Mitte der neunziger Jahre zog es ihn nach Südamerika, erste Kontakte zu politischen Bewegungen in Uruguay und Argentinien entstanden. Ein neuer Abschnitt im Leben des Anwalts Ka­leck begann. Paraguay, Kolumbien, Liberia, Palästina und Indien sind nur einige weitere Stationen seiner Tätigkeit. Gemeinsam mit sozialen Bewegungen und den Opfern von Folter, Vertreibung und staatlicher Willkür nutzen Kaleck und andere Anwälte das Recht als Instrument, um Gerechtigkeit zu schaffen.

Manchmal mit Erfolg, immer wieder aber vergeblich. "Es ­gehört zur Hoffnung, dass sie enttäuscht werden kann, dass sie enttäuscht werden muss, weil Hoffnung keine Zuversicht ist – sondern umlagert von der Gefahr und von dem, dass es auch anders sein kann", zitiert Kaleck den Philosophen Ernst Bloch. "Wieder scheitern, besser scheitern" ist der programmatische Titel eines Kapitels im Buch, der einiges darüber verrät, wie ­Ka­leck arbeitet.

Bei Ellen Marx, die jahrzehntelang vergeblich versucht, die Mörder ihrer Tochter ausfindig zu machen und vor Gericht zu bringen, lernt Kaleck angesichts des drohenden Scheiterns, "dass es Dinge gibt, die getan werden müssen, unabhängig vom Erfolg, der zu erwarten ist. Im Namen der Mütter der Verschwundenen alles zu unternehmen, was möglich ist, um Aufklärung und Gerechtigkeit zu erreichen, ist eine solche Aufgabe". Und an anderer Stelle schreibt er: "Auch Rückschläge können Wahrheiten ans Licht bringen."

Das Fazit seiner Arbeit in den vergangenen 15 Jahren fällt denn auch verhalten positiv aus: Es werde "eine Linie erkennbar, die von der absoluten Straflosigkeit – für Diktatoren wie Ríos Montt, Jorge Videla oder Charles Taylor – hin zu einer rechtlichen Verantwortung führt, die zunehmend auch mächtige Verbrecher erreicht".

Es gehört zu den Stärken des Buches, dass es sich nicht auf juristische Erörterungen und Fallgeschichten beschränkt. Ausführlich erzählt Kaleck von den Begegnungen mit anderen Menschen, die er bei seiner Arbeit kennenlernt. Das sind Anwalts­kollegen aus anderen Ländern, wie zum Beispiel Martín Almada aus Paraguay, der während der Herrschaft des Diktators Alfredo Stroessner in Haft kam und gefoltert wurde.

Seiner Verlobten schickten sie eines seiner Hemden, blutgetränkt, und erklärten ihr, er sei unter der Folter gestorben, woraufhin diese einen Herzschlag erlitt und starb. Almada ging ins Exil, wurde Anwalt und arbeitet seit seiner Rückkehr nach Paraguay 1992 als Menschenrechtsanwalt.

Kaleck lässt sich von den Opfern von Menschenrechtsverletzungen und ihren Angehörigen beeindrucken und motivieren. Ellen Marx sei "eine der klügsten und stärksten Frauen", denen er jemals begegnet sei, schreibt er. Schier unglaublich ist die ­Geschichte von Adriana Marcus, die heute ein Gesundheitszentrum in der argentinischen Provinz leitet und sich weiterhin für die Rechte der Benachteiligten einsetzt.

1978 und 1979 war sie in der Marineschule ESMA, einem berüchtigten Folterzentrum der argentinischen Militärs, inhaftiert. Ausführlich schildert sie dem Anwalt aus Deutschland, wie ein Offizier herauszufinden versuchte, ob sie und andere Gefangene sich für die Zwecke der Militärs instrumentalisieren ließen. Zum Schein ging sie darauf ein und erhöhte so ihre Überlebenschancen. In Begleitung von Offizieren konnte sie sogar ihre Eltern aufsuchen. Auf die Frage, ob sie je an Flucht dachte, wenn sie außerhalb des Folterzentrums unterwegs war, kann sie nur antworten: "Es war klar, dass sie sich dann an den anderen gerächt hätten. Nach einem Fluchtversuch ermordeten sie eine Gefangene und führten uns den geschändeten Torso vor."

Es waren und sind aber nicht nur Staaten, die schwere Menschenrechtsverletzungen begehen. Auch Unternehmen machen sich schuldig – um unliebsame Gewerkschafter auszuschalten, wie Mercedes-Benz zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur, oder wenn sie in ihrem Streben nach maximalen Profiten elementare Arbeitsrechte verletzen, wie bis heute zahlreiche international produzierende Textilunternehmen und Modehäuser.

Wolfgang Kaleck und das ECCHR werden in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen auch in solchen Fällen aktiv. Der konkrete Einzelfall dient hier vor allem auch als Mittel politischer und juristischer Interventionen, "deren Wirkung sich mitunter erst nach längerer Zeit zeigt".

Kaleck ist sich bewusst, dass Veränderungen hier noch schwerer zu erreichen sind als bei staatlichen Menschenrechtsverletzungen. Um die Verhältnisse im Bereich der Wirtschaft "grundlegend zu ändern, bedarf es politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen". Nirgendwo zeigt sich deutlicher, so Kaleck, dass das Recht "zu häufig ein Instrument der Mächtigen ist".

"Mit Recht gegen die Macht" lässt den Leser an diesem ­zähen und langwierigen Ringen für die Bestrafung der Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen teilhaben. Die Verbindung persönlichen Erlebens mit Fallgeschichten und ­juristischen Analysen bietet eine ebenso eindrückliche wie spannende Lektüre. Manchmal mag Kaleck etwas eitel sein, was die eigene Rolle in diesem Kampf betrifft, doch stets kann er überzeugen: Der juristische Fortschritt ist vielleicht eine Schnecke, aber die Arbeit für die Menschenrechte lohnt sich allemal.

Wolfgang Kaleck: Mit Recht gegen die Macht – Unser ­weltweiter Kampf für die Menschenrechte. Hanser Verlag, Berlin 2015. 224 Seiten, 19,90 Euro.

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