Amnesty Journal 17. September 2014

Am Ende der Skala

In Istanbul sitzen viele Flüchtlinge fest, die sich eine Weiterreise nicht leisten können. Vor allem für Frauen ist sexuelle Gewalt und die Ausbeutung als billige ­Arbeitskräfte alltäglich.

Von Sabine Küper-Büsch

Am Strandweg von Moda hat sich eine Gruppe von Frauen ein hübsches Fleckchen ausgesucht: eine von Bäumen beschattete Wiese am Ufer des Bosporus auf der asiatischen Seite. Vor ihnen erstreckt sich die Altstadt Sultanahmet auf der europäischen Seite. Die Silhouette des Topkapi Saray und Minarette sind zu ­sehen. Die Afrikanerinnen haben praktische Tücher zum Sitzen mitgebracht. Emel Çoşkun vom Istanbuler "Sozialistischen feministischen Frauenkollektiv" hat Houmus zubereitet. Auch Pizza, Börek, Sesamkringel, Weintrauben, Zitronenlimonade und Eistee bestücken die Picknicktafel – Dinge, die sich die Flüchtlinge in der Türkei sonst nicht leisten können. Emel Çoşkun gibt den Frauen sonntags in einem Kulturzentrum im Stadtteil Türkischunterricht. Heute will sie ihnen eine andere Umgebung zeigen als das Viertel Kumkapı, in dem sich die Flüchtlinge konzentrieren. Diren, die in Ostanatolien geboren wurde, erzählt, daß ihr Name im Türkischen Widerstand bedeutet. Beka, Alice und Joyce nicken begeistert. Die drei jungen Frauen stammen aus Uganda. Bürgerkrieg, bittere Armut, Arbeitslosigkeit und eine korrupte politische Elite prägen das Land.

Nach dem Picknick liegen die Frauen entspannt unter den Bäumen. Çoşkun nutzt die Gelegenheit, um über Verhütungsmethoden zu sprechen. Einige der Afrikanerinnen sind gezwungen, als Sexarbeiterinnen zu arbeiten. Da sie illegal in der Türkei leben, haben sie keinerlei rechtlichen Schutz. Vergewaltigungen und Ausbeutung sind an der Tagesordnung. Kürzlich wurde ein Mädchen nach einer Vergewaltigung durch mehrere Männer aus dem Fenster geworfen und kam nur knapp mit dem Leben davon.

Als Treffpunkt dient den Illegalen in Istanbul das McDonald’s-Restaurant im Stadtviertel Aksaray in der Nähe des historischen Basars. Während viele im billigen Nachbarviertel Kumkapı wohnen, pulsiert auf der Hauptverkehrsstraße der Handel mit Import- und Exportwaren. Afrikaner verkaufen billige ­Uhren­imitate, Ebenholzmasken und bunte Tücher. Der sogenannte "Kofferhandel" war in den neunziger Jahren ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Türkei. Mittlerweile geht die Polizei sporadisch gegen den illegalen, zollfreien Handel vor. Dementsprechend ist das Geschäft deutlich geschrumpft.

Ungebrochen floriert jedoch der Handel mit der Ware Mensch. Nicht nur Schlepper, die den Flüchtlingen teure illegale Passagen nach Europa verkaufen, verdienen daran Millionen. In Aksaray gibt es Agenturen, die billige Arbeitskräfte vermitteln. Afrikanerinnen arbeiten als Fabrikarbeiterinnen, Restaurant-Küchenhilfen und in türkischen Privathaushalten. Bei dem Grubenunglück von Soma starben nach Aussagen Überlebender auch illegale syrische Minenarbeiter. Neben den rund 1,3 Millionen syrischen und 17.000 irakischen Flüchtlingen, die vor allem in Lagern nahe ihrer Landesgrenzen untergebracht sind, gibt das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) die Zahl der asylsuchenden Migranten mit 50.000 an. Die Zahl der illegalen Arbeitskräfte lässt sich nur schätzen. Es sollen 200.000 bis 350.000 sein.

Beka und Joyce sitzen bei McDonald’s und löffeln Softeis. Sie wohnen zusammen mit vier weiteren Frauen in einer billigen Absteige in Aksaray. Für eine Matratze in einer unbeheizten Kellerwohnung bezahlen sie jeweils zweihundert Lira, das entspricht rund achtzig Euro pro Person. In dem Lokal sitzen Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern, aus Afgha­nis­tan, dem Irak, Syrien, dem Gaza-Streifen und aus Bangladesch. Fast alle wollen nach Europa. Doch für die Frauen aus Uganda ist die Reise kaum zu finanzieren. Sie mussten bereits 2.000 US-Dollar für den Flug Kampala–Istanbul bezahlen.

Beka und Joyce haben sich das Geld geliehen – um es zurückzuzahlen, müssen sie mehrere Jahre arbeiten. "Wir sitzen hier fest", stellen die beiden Frauen fest. "Als Schwarze stehen wir hier ganz unten auf der Skala menschlicher Wertschätzung", sagt Joyce. Sie arbeitet in einer Textilfabrik, elf Stunden müssen die Frauen dort täglich an der Nähmaschine sitzen. Sie erhalten immer die schlechtesten Geräte und werden sowohl von ihren Vorgesetzten als auch von ihren Arbeitskollegen schikaniert. "Schnelle Negerin" ist noch die harmloseste Beschimpfung.

Joyce hat eine 13-jährige Tochter in Kampala, auf Beka warten zwei Kleinkinder. Die Frauen sind Anfang dreißig, Joyce ist eigentlich Hebamme, Beka wurde zur Medizinisch-Technischen-Assistentin ausgebildet. Doch in Uganda gibt es für sie keine Stellen, Dienstleistungen sind unterbezahlt.

Joyce hat bereits in Bagdad als Haushaltshilfe gearbeitet. Sie wollte im Irak Geld verdienen, um in Uganda ein Stück Land zu kaufen. Als sich das Ehepaar, bei dem sie angestellt war, scheiden ließ, blieb Joyce mit dem Mann und dessen 18-jährigem Sohn zurück. Der Iraker hatte bereits zuvor seine Frau verprügelt und vergewaltigt und setzte diese Praxis anschließend mit Joyce fort. Die junge Frau durfte das Haus nicht verlassen, ihre Familie blieb fast zwei Jahre ohne Nachricht von ihr. Als ihr Arbeitgeber wegen einer medizinischen Behandlung nach Jordanien musste, endete das Martyrium. Die vereinbarten 300 Dollar pro Monat bekam sie nicht. "Ich war froh, als die Schwester des Mannes mir schließlich noch 3.000 Dollar gab", erzählt Joyce. Zwei Jahre sexuelle Gewalt, Prügel und Isolation lassen sich mit Geld ohnehin nicht wiedergutmachen. Nie wieder würde Joyce in einem Privathaushalt arbeiten.

Auch in der Türkei gibt es immer wieder sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz. So berichten die Frauen von ihrer Mitbewohnerin Cindy, die im achten Monat schwanger ist. Ihr Arbeitgeber weigerte sich, beim Sex ein Kondom zu benutzen. Mit dem Kind wird Cindy allein dastehen, doch die Organisation "Frauen ohne Grenzen" bemüht sich um einen Rechtsbeistand, um Unterhalt für sie einzuklagen. Sexuelle Gewalt, Dumpinglöhne, Rassismus und kaum Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände: Das ist oft der Alltag von Frauen auf der Flucht nach Europa.

Die Autorin ist Türkei-Korrespondentin und lebt in Istanbul.

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