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Bleierne Jahre
In Brasilien verhindert ein Amnestiegesetz, dass Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) verfolgt werden können. Eine Wahrheitskommission soll zur Aufklärung beitragen.
Von Christian Russau
Die Hoffnung unter den Angehörigen der Opfer war groß, als im März 2012 die brasilianische Bundesanwaltschaft Anklage erhob. Zum ersten Mal schien es, dass sich ein Militärangehöriger wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen, die während der Diktatur begangen worden waren, verantworten müsse. Doch schon bald wurde die Klage gegen den pensionierten Offizier wieder abgeschmettert. Dabei hatte der Täter die Verbrechen gar nicht bestritten. Im Gegenteil: Er sprach sogar öffentlich darüber.
Der Beschuldigte ist in Brasilien unter dem Namen "Oberst Curió" bekannt. 1972 wurde der Offizier in geheimer Mission ins Amazonasgebiet geschickt, getarnt als Forstingenieur für die Agrarreformbehörde. Er sollte die Guerilla am Araguaia-Fluss im Süden des Bundesstaates Pará bekämpfen. Die bewaffnete Gruppe operierte zwischen 1972 und 1974 als militanter Arm der verbotenen Kommunistischen Partei Brasiliens (PcdoB). Die etwa siebzig bis achtzig Mitglieder der Gruppe sowie eine unbekannte Zahl von Bewohnern der Region, denen "Kollaboration mit den Subversiven" vorgeworfen wurde, sind bis heute verschwunden. 2010 wurden die sterblichen Überreste von zehn Menschen im Araguaia-Gebiet gefunden, nachdem sich Militärangehörige in der Presse zu möglichen Fundstellen geäußert hatten. Auch Oberst Curió sagte damals aus.
Curió gewährte der Tageszeitung "O Estado de São Paulo" Einblick in sein Privatarchiv und erklärte, er habe nicht 25 Guerilleros hingerichtet, wie bislang angenommen, sondern 41. Im Jahr 2012 wurde Anklage gegen ihn erhoben, allerdings nicht wegen dieser Exekutionen, sondern wegen des Verschwindens von fünf Guerilleros. Sie wurden zwischen Januar und September 1974 im Araguaia-Gebiet von Militärs gefangen genommen und in eine Kaserne gebracht, die unter dem Befehl von Oberst Curió stand.
Bis heute ist in Brasilien das Amnestiegesetz vom 28. August 1979 gültig. Es verhindert die juristische Aufarbeitung von Straftaten, die während der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985) begangen wurden. Seit 2012 versuchen Bundesstaatsanwälte, das Amnestiegesetz durch einen juristischen Schachzug auszuhebeln: Weil die Verschwundenen bis heute nicht aufgetaucht sind, halte die Entführung an, argumentieren sie. Ein fortwährendes Verbrechen falle nicht unter die Bestimmungen des Amnestiegesetzes, sondern müsse bestraft werden. Dies gelte auch im Fall von Oberst Curió: Weil die sterblichen Überreste der fünf Guerilla-Mitglieder nie gefunden wurden, werde das Verbrechen der Entführung weiterhin begangen, sagte Bundesstaatsanwalt Sérgio Gardenghi Suiama, als er im März 2012 die Klageschrift gegen den Oberst der Reserve einreichte. Das Schicksal der fünf Personen sei ungeklärt, ab dem Zeitpunkt, als sie in die Kaserne gebracht worden waren. Deshalb sei es "fundamental, dass die Justiz die Fälle analysiert, eine Beweisaufnahme ermöglicht und die Geschichte der Opfer ans Tageslicht bringt".
Dies sah der zuständige Richter anders. Er erklärte, es sei zu bezweifeln, dass die Verschwundenen nach mehr als dreißig Jahren noch immer vom Angeklagten in Gefangenschaft gehalten würden. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass die Verschwundenen mit hoher Wahrscheinlichkeit tot seien und bereits damals ermordet wurden. Die Tat sei somit verjährt und falle unter das Amnestiegesetz, sagte der Richter. Damit wurde der erste Strafprozess in Brasilien wegen Taten aus der Zeit der Militärdiktatur wieder eingestellt.
Dennoch bemühen sich Angehörige, Menschenrechtsgruppen und Staatsanwälte, die Straflosigkeit, die das Amnestiegesetz gewährt, zu beenden. So wandte sich die brasilianische Anwaltskammer 2012 an den Obersten Gerichtshof Brasiliens, um prüfen zu lassen, ob das Amnestiegesetz im Einklang mit der Verfassung steht. Zwei Jahre zuvor hatte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof Brasilien aufgefordert, den Verbleib von mindestens 62 Ermordeten oder Verschwundenen der Araguaia-Guerilla aufzuklären und das Amnestiegesetz endlich zu annullieren.
Derzeit laufen noch weitere Verfahren, in denen Bundesanwälte argumentieren, dass Verhaftete bis heute verschwunden sind und die Verantwortlichen von damals deshalb auch heute noch zur Rechenschaft gezogen werden können. Presseberichten zufolge sind weitere Klagen gegen Ex-Militärs geplant, in denen es um mindestens 24 Fälle von Verschwundenen aus der Zeit der Militärdiktatur gehen soll.
In einem dieser Prozesse spielt Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra eine wichtige Rolle. 2008 hatten Angehörige der Familie Teles aus São Paulo gegen ihn geklagt. Da er strafrechtlich wegen des Amnestiegesetzes nicht belangt werden konnte, reichten fünf Familienmitglieder eine Zivilklage gegen ihn ein. Dabei ging es um das Recht der Angehörigen, den Offizier öffentlich als Folterer bezeichnen zu dürfen.
Ustra leitete in den siebziger Jahren das berüchtigte Folterzentrum DOI-CODI in São Paulo. 1972 folterte er dort Maria Amélia de Almeida Teles und ihren Mann, César Augusto Teles. Amélias Schwester Criméia de Almeida, die damals im siebten Monat schwanger war, wurde ebenfalls gefoltert. Auch die beiden kleinen Kinder des Ehepaars wurden in das Folterzentrum gebracht. Carlos Nicolau Danielli, ein führendes Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei Brasiliens, wurde im DOI-CODI zu Tode gefoltert.
2008 gewann die Familie Teles den Prozess in erster Instanz – sie darf Carlos Alberto Brilhante Ustra seitdem öffentlich als Folterer bezeichnen. Im August 2012 bestätigte der 5. Strafgerichtshof von São Paulo das Urteil. Zur Begründung hieß es, zwar verhindere das Amnestiegesetz, dass Taten aus der Zeit der Militärdiktatur strafrechtlich verfolgt werden könnten, dies gelte jedoch nicht für zivilrechtliche Fälle. Außerdem würden Verbrechen wie Folter in Brasilien nicht verjähren.
Bundesanwälte reichten gegen Ustra ebenfalls eine Klage wegen des anhaltenden Straftatbestands der Entführung ein. Denn unter seiner Leitung verschwand 1971 der politische Gefangene Edgar de Aquino Duarte aus dem DOI-CODI. Sein Leichnam wurde bis heute nicht gefunden. Inzwischen hat das Gericht erste Zeugenaussagen aufgenommen. Der Beklagte erschien nicht zu den Anhörungsterminen. Das Verfahren soll im März in São Paulo fortgesetzt werden. Ob die Argumentation des anhaltenden Verbrechens der Entführung vor Gericht Bestand haben wird, ist zweifelhaft.
Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, die selbst während der Militärdiktatur inhaftiert war und gefoltert wurde, ist sehr an einer juristischen Aufarbeitung gelegen. Am 16. Mai 2012 wurde eine Wahrheitskommission eingesetzt, die die Repression, Folter und Unterdrückung, insbesondere in den "bleiernen Jahren" zwischen 1968 und 1974 untersuchen soll, die jedoch keine Strafvollmachten hat. Die sieben Mitglieder des Gremiums sollen in 13 Arbeitsgruppen verschiedene Themen bearbeiten, darunter die "Operation Cóndor", die Repression gegen Gewerkschaften, Menschenrechtsverletzungen in ländlichen Gebieten und gegen Indigene sowie Gewalt gegen Frauen. In der Folge wurden zahlreiche weitere Wahrheitskommissionen auf kommunaler Ebene eingerichtet.
Auch einzelne Institutionen wie die Universität von São Paulo bildeten eigene Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Diese Kommissionen sind Teil eines langjährigen Kampfes um die Aufarbeitung der brasilianischen Geschichte – und sie sind ein Kompromiss. Denn sie ändern nichts daran, dass das Amnestiegesetz die strafrechtliche Aufarbeitung der Taten verhindert.
Mit der anhaltenden Straflosigkeit wollen sich vor allem viele junge Brasilianer nicht mehr abfinden. So gab es im März 2013 erstmals Aktionen, wie sie aus Chile und Argentinien bekannt sind: Beim sogenannten "escrache" werden die Wohnhäuser der verantwortlichen Militärs mit Farbe und Mehl gekennzeichnet – manchmal trifft das Mehl auch einen ehemaligen Folterer. Diese Aktionen nahmen sich die Jugendlichen in Brasilien zum Vorbild: In São Paulo, Belo Horizonte, Belém und Porto Alegre, später auch in Rio de Janeiro, Fortaleza und weiteren Städten zogen mehrere hundert Demonstranten vor die Wohnhäuser ehemaliger Folterer. Auf Transparenten und Plakaten nannten sie die Täter beim Namen und beschrieben deren Verbrechen.
Der Autor ist Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Lateinamerika (FDCL) in Berlin.
Die brasilianische Militärdiktatur
Die Diktatur begann mit dem Putsch gegen Präsident João Goulart am 1. April 1964 und dauerte bis zum 14. März 1985, als José Sarney zum Präsidenten ernannt wurde. Am 13. Dezember 1968 erließ Präsident Marschall Artur da Costa e Silva den berüchtigten "Institutionellen Akt Nr. 5": Dieses in Brasilien als "AI-5" bekannte Dekret gab ihm die Befugnis, das Parlament aufzulösen, Politiker ihres Amtes zu entheben und die Repression zu verschärfen. In Anlehnung an den Spielfilm "Die bleierne Zeit" (1981) der deutschen Regisseurin Margarethe von Trotta wird der Zeitraum von Dezember 1968 bis zum Amtsende von General Emílio Garrastazu Médici am 15. März 1974 als "die bleiernen Jahre" bezeichnet. Neue Untersuchungen des Instituts für Studien zur Gewalt des Staates (Instituto de Estudos da Violência de Estado) kommen zu dem Ergebnis, dass während der brasilianischen Militärdiktatur 475 Menschen ermordet wurden oder verschwanden, 24.560 Personen wurden verfolgt. Das Amnestiegesetz vom 28. August 1979 hat in Brasilien noch heute Gültigkeit. Es verhindert die juristische Aufarbeitung aller Straftaten aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur. Im Jahr 2011 wurde die Brasilianische Wahrheitskommission gegründet, um die Vorkommnisse während der Militärdiktatur zu untersuchen. Die Erkenntnisse der Kommission haben aber keine rechtlichen Konsequenzen.