Amnesty Journal Europa und Zentralasien 24. Juli 2013

Insel der Schutzlosen

Die Europäische Union schottet ihre Außengrenzen ab und verstößt damit eklatant gegen Menschenrechte. Da der Landweg weitgehend versperrt ist, versuchen Schutzsuchende, über den gefährlichen Seeweg nach Europa zu gelangen. Wer es bis nach Griechenland schafft, ist dort katastrophalen Bedingungen ausgeliefert.

Von Franziska Vilmar

Griechische Inseln im Sommer – für viele sind sie das ideale Ziel für den Jahresurlaub. Anders erging es den etwa 50 Mitgliedern von Amnesty International aus ganz Europa, die im Juli nach Lesbos kamen. Sie besuchten einen der Hauptschauplätze der aktuellen europäischen Flüchtlingspolitik oder besser: der europäischen Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge. Auf der Insel haben sich die Aktivisten über die Situation von Migranten und Schutzsuchenden informiert, den Austausch mit der Inselbevölkerung gesucht und sich untereinander vernetzt.

Warum hat ausgerechnet Lesbos inzwischen eine so große Bedeutung für Menschen, die in Europa Schutz vor Verfolgung oder Krieg suchen? Es ist nicht neu, dass Migranten und Asylsuchende auf seeuntauglichen Booten über das Mittelmeer kommen und versuchen, Europa zu erreichen. Oft verlieren sie dabei ihr Leben – allein für das Jahr 2011 geht das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) von mindestens 1.500 Flüchtlingen aus, die bei der Überfahrt starben.

Um den gefährlichen Seeweg zu vermeiden, versuchten viele Migranten und Flüchtlinge von der Türkei aus auf dem Landweg nach Griechenland zu gelangen. Doch dann übten Österreich und Deutschland Druck auf Griechenland aus. Sie warfen dem Land vor, seine Grenzen seien "offen wie ein Scheunentor". Mitte 2012 wurden 1.800 zusätzliche Polizisten an die griechisch-türkische Grenze beordert, um "illegale Einwanderung zu verhindern". Außerdem wurde ein mehr als zehn Kilometer langer Grenzzaun gebaut. Seither hat sich die Route der Flüchtlinge, die vor allem aus Afghanistan, Syrien, Somalia oder Eritrea kommen, wieder auf den Seeweg verlagert – zumeist mit dem Ziel Lesbos, da die Insel nicht weit von der türkischen Küste entfernt liegt.

Der kürzlich erschienene Amnesty-Bericht "Frontier Europe: Human Rights Abuses on Greece’s Border with Turkey" zeichnet ein sehr detailliertes Bild davon, wie hart die europäische Abschottungspolitik die Schutzsuchenden trifft: Sie werden mit ihren Booten von griechischen Grenzpolizisten auf türkisches Territorium zurückgezogen oder mit gefesselten Händen auf Inseln ausgesetzt, die im Grenzfluss Evros auf türkischer Seite liegen. Die wenigen Habseligkeiten, die sie auf ihrer strapaziösen Flucht noch nicht verloren haben, werden ihnen abgenommen. Häufig ist von Misshandlungen die Rede. Und davon, dass es nie die Gelegenheit gibt, einen Asylantrag zu stellen.

Doch nicht nur an der Grenze kommt es zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Recherchen von Amnesty haben ergeben, dass Asylsuchende, die jahrelang in Athen gelebt hatten, von ihren Familien weggerissen und in die Türkei abgeschoben wurden, wo sie anschließend inhaftiert wurden. Solche Ausweisungen sind nach internationalem Recht verboten.

Der Abschottung folgt die Abschreckung: Wer es schafft, die Grenze zu überqueren, wird häufig willkürlich inhaftiert. Für Asylsuchende darf die Haft in Griechenland seit Oktober 2012 bis zu 18 Monate dauern – ein Grund, weshalb viele ihren Asylantrag gar nicht erst stellen. So sitzen Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea in Haftanstalten, obgleich feststeht, dass sie nicht in ihre Länder zurückgeschoben werden dürfen, weil ihnen dort Gefahren für Leib und Leben drohen. Selbst vor der regelmäßigen Inhaftierung Minderjähriger schreckt Griechenland nicht zurück. Die Bedingungen in den Gefängnissen sind katastrophal – die medizinische Versorgung ist mangelhaft, die hygienischen Bedingungen sind es ebenso.

Dabei ist Griechenland nicht etwa fremdenfeindlicher als andere europäische Staaten, sondern versucht nur auszuführen, was die EU dem Land aufgetragen hat: Es muss die Außengrenzen hermetisch abriegeln, denn anderenfalls drohen EU-Mitgliedstaaten damit, die Grenzkontrollen wieder einzuführen. Während Griechenland von der EU-Kommission seit 2011 knapp 230 Millionen Euro für Abschiebungen und Außengrenzkontrollen erhielt, wurden in derselben Periode nicht einmal 20 Millionen Euro für die Verbesserung des griechischen Asylsystems zur Verfügung gestellt: Dass dieses System seit Jahren faktisch zusammengebrochen ist und es entgegen aller geltenden EU-Richtlinien zum Flüchtlingsschutz keinen Zugang zum Asyl­verfahren mehr in Griechenland gibt, scheint die EU nicht zu kümmern, die 2012 wegen ihres Einsatzes für Frieden und Menschenrechte den Friedensnobelpreis erhalten hat.

Für die griechische Abschottungspolitik ist neben dem Schengen-System mit seinen freien Binnengrenzen und den gesicherten Außengrenzen auch das Dublin-Verfahren mitverantwortlich. Dies bedeutet, dass wenn Schutzsuchende als Erstes griechisches Hoheitsgebiet betreten, Griechenland auch für deren Asylverfahren und Unterbringung zuständig ist. Die Staaten in Zentraleuropa profitieren von dieser Praxis an den EU-Außengrenzen. Hier zeigt sich das schäbige Antlitz Europas. Die sogenannte "illegale Migration" wird auf eine Art und Weise bekämpft, als hätten Flüchtlinge und Migranten keine Rechte und als gäbe es kein gemeinsames europäisches Asylsystem.

Dabei hat die EU ihre Asylgesetzgebung erst kürzlich reformiert. Presseerklärungen von EU-Kommission und nationalen Regierungen zufolge hat die EU die rechtlichen Grundlagen für einen gemeinsamen Raum des Flüchtlingsschutzes und der Solidarität sogar substanziell verbessert. "Mit der heute beschlossenen Weiterentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verfügt die Europäische Union über das weltweit mo­derns­te Flüchtlingsrecht mit hohen Standards", erklärte Bundesinnenminister Friedrich Mitte Juni, als die neuen EU-Normen verabschiedet wurden. Nun komme es darauf an, "dass alle Mitgliedstaaten die festgelegten Regelungen und Verfahren zügig und möglichst einheitlich umsetzen. Die großen Unterschiede, die in der EU bei der Aufnahme von Schutzsuchenden und den Standards in der Praxis bestehen, müssen konsequent abgebaut werden."

Die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen der griechischen Polizei im Namen und zum Nutzen der EU müssen unverzüglich gestoppt werden. Mit der aktuellen Petition fordert Amnesty deshalb die griechische Regierung unter anderem dazu auf, Schutzsuchenden Zugang zum Asylverfahren zu gewähren, die unrechtmäßigen Rückführungen ("Push-Backs") von Flüchtlingen an der griechisch-türkischen Grenze sofort zu beenden, menschenrechtswidrige Ausweisungen von Asylsuchenden zu untersuchen und die willkürliche Haftpraxis zu beenden.

Die Autorin ist Asyl-Expertin der deutschen Amnesty-Sektion.

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