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Die Freiheit der Andersdenkenden
Selbst nach russischem Recht hätten die Musikerinnen von "Pussy Riot" nicht zu hohen Haftstrafen verurteilt werden dürfen. Alles deutet darauf hin, dass die Behörden an den drei verurteilten Frauen ein Exempel statuieren wollen.
Von Peter Franck
Ein russisches Gericht hat Mitte August drei Musikerinnen der Punkband "Pussy Riot" wegen einer politischen Protestaktion in einer Moskauer Kathedrale zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Doch eine Verurteilung der Bandmitglieder lässt sich selbst nach russischem Strafgesetz nicht rechtfertigen. Dem Urteil zufolge soll die Aktion der Frauen den Tatbestand des "Rowdytums" (engl.: "Hooliganism") nach Artikel 213 des russischen Strafgesetzbuchs erfüllt haben. Rowdytum ist dort definiert als grobe, die deutliche Missachtung der Gesellschaft zum Ausdruck bringende Verletzung der öffentlichen Ordnung, wenn sie durch religiösen Hass oder Feindseligkeit oder durch Hass oder Feindseligkeit gegen eine soziale Gruppe motiviert ist.
In der russischen Rechtpraxis wird das regelmäßig durch die Einholung von Sachverständigengutachten geklärt. Zwei der drei Gutachten, die im Fall "Pussy Riot" eingeholt wurden, haben das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint.
Und in der Tat lässt sich die Verurteilung nicht rechtfertigen. Es ist nicht im Ansatz zu erkennen, dass die Aktion durch religiösen Hass motiviert gewesen wäre. Sie erfolgte im Vorfeld der Präsidentschaftswahl und bezog sich nicht auf die Gläubigen oder die orthodoxe Kirche als solche, sondern auf die Einflussnahme hoher orthodoxer Würdenträger auf diese Wahlen. Die zwölfjährige Herrschaft Putins sei ein "Wunder Gottes", hatte Patriarch Kyrill vor den Wahlen erklärt.
Aber auch von Hass oder Feindseligkeit gegenüber dem orthodoxen Klerus als "sozialer Gruppe" kann keine Rede sein. Die Aktion kritisierte das näher bezeichnete Verhalten einiger seiner Angehörigen in einer bestimmten Situation. Sähe man das als "Rowdytum" an, könnte man strafrechtlich auch gegen die Kritik an korrupten Beamten oder an einer bestimmten Politik vorgehen. Die Kritik müsste nur als Ausdruck einer feindseligen Haltung interpretiert und die Kritisierten als "soziale Gruppe" definiert werden. Würde die Kritik dann auch noch von einer Gruppe nach vorheriger Absprache formuliert, drohten bis zu sieben Jahren Haft.
Aus alldem folgt: Die drei Frauen sitzen auch nach den russischen Gesetzen zu Unrecht in Haft. Amnesty International sieht in ihnen "gewaltlose politische Gefangene". Sie sind sofort und bedingungslos freizulassen.
Dass die Aktion von "Pussy Riot" nicht zu einer Haftstrafe führen durfte, heißt nicht, dass man sie gelungen finden muss. So hat das Menschenrechtszentrum von Memorial in einer öffentlichen Stellungnahme erklärt, dass politische Proteste oder künstlerische Selbstdarstellungen innerhalb einer Kirche "unverzeihlich" seien, insbesondere, wenn sie in einer Weise durchgeführt würden, die kirchlicher Praxis fremd sei. Solche Aktionen müssten unweigerlich als Verletzung religiöser Gefühle wahrgenommen werden. Die tatsächlichen Motive der Aktion, nämlich die Ablehnung eines kämpferischen Klerikalismus und die Kritik an bestimmten Angehörigen der Kirchenhierarchie, bleibe den meisten Menschen verborgen. Aber natürlich sei die strafrechtliche Verfolgung der Aktion weder mit der russischen Verfassung noch mit internationalen Abkommen vereinbar.
Auf diesen klaren menschenrechtlich begründeten Standpunkt lassen sich alle russischen und internationalen Solidaritätserklärungen und Aktionen zurückführen, die es als Reaktion auf die Haft der Frauen von "Pussy Riot" gegeben hat – unabhängig davon, wie die Beteiligten zu der Aktion von "Pussy Riot" als solcher stehen.
Als Argument gegen die internationale Kritik hat die russische Regierung das deutsche Strafrecht entdeckt. So verteidigte der Außenamtssprecher Alexander Lukaschewitsch das Urteil mit dem Hinweis, in Deutschland sehe das Gesetz für die Beleidigung religiöser Gefühle bis zu drei Jahre Haft vor. Und tatsächlich kann auch bei uns bestraft werden, wer an einem Ort, der dem Gottesdienst einer "im Inland bestehenden Kirche oder anderen Religionsgesellschaft" gewidmet ist, "beschimpfenden Unfug" verübt. So steht es in Paragraph 167 des Strafgesetzbuchs. Hätten den Frauen von "Pussy Riot" damit etwa auch in Deutschland die vom Moskauer Chamowniki-Gericht verhängten zwei Jahre Freiheitsstrafe gedroht? "Nein, bis zu drei", klärt uns der Rechtswissenschaftler Klaus Volk in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" auf.
Der von Klaus Volk und der russischen Regierung erweckte Eindruck, die Aktion von "Pussy Riot" wäre in Deutschland ähnlich zu ahnden gewesen, ist falsch. Zwar sieht der entsprechende Paragraph eine maximale Strafandrohung von drei Jahren vor. Es verbietet sich aber, die in Moskau tatsächlich verhängten Strafen mit der Maximalstrafe im deutschen Recht zu vergleichen. Freiheitsstrafen spielen bei diesem und ähnlichen Delikten in Deutschland kaum keine Rolle. Deutsche Gerichte verhängen regelmäßig nur dann eine Freiheitsstrafe, wenn es um die unmittelbare und wiederholte Störung von Gottesdiensten geht. Und es hat zum Beispiel 2010 auch in solchen Fällen keinen einzigen Fall gegeben, in dem wegen des Verdachts, diese Delikte begangen zu haben, Untersuchungshaft angeordnet wurde.
Klaus Volk versucht in der "Süddeutschen Zeitung" zudem die große Welle internationaler Solidarität als "Empörung 2.0" zu denunzieren. Und in der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" wurde das von den Medien angeblich gezeichnete Bild "Böser russischer Staat gegen unschuldige kleine Mädchen" kritisiert.
Doch in beiden Fällen ist die Kritik menschenrechtlich irrelevant: Auch bei einer Ablehnung von "Pussy Riot" und ihren Aktionen ist menschenrechtliches Engagement geboten – auch und gerade, wenn es Andersdenkenden gilt.
Alles deutet darauf hin, dass an den Mitgliedern von "Pussy Riot" ein Exempel statuiert werden soll. Den nach dem erneuten Amtsantritt Putins anhaltenden Protesten soll offenbar nicht nur mit den vor der Sommerpause des Parlaments eilig verabschiedeten Verschärfungen des Demonstrations- und Strafrechts sowie der neuen Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen entgegen getreten werden, sondern auch mit der harten Bestrafung Einzelner.
Demnächst werden sich Angeklagte vor Gericht zu verantworten haben, denen im Zusammenhang mit der erstmals gewalttätig verlaufenen Protestdemonstration am 6. Mai 2012 schwere Vorwürfe gemacht werden. Es wird darauf ankommen, diese Prozesse ähnlich genau zu beobachten wie das Verfahren gegen "Pussy Riot". Auch hier drohen politisch motivierte harte Strafen.
Der Autor ist Sprecher der Russland-Ländergruppe und der JuristInnengruppe der deutschen Sektion von Amnesty International.