Amnesty Journal 25. September 2012

Kollektives Trauma

Die russische Menschenrechts­organisation Memorial ermöglicht mit der Dokumentation "Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956" zum ersten Mal Einsicht in das komplexe Lagersystem des Stalinismus.

Von Lena Schiefler

Siebzig Jahre nach Stalins "Großem Terror" und seinen "Säuberungsaktionen" widmet sich nun zum ersten Mal eine Ausstellung diesem dunkelsten Kapitel der sowjetischen Strafrechtsgeschichte. Auf 400 Quadratmetern Ausstellungsfläche gewähren die Stiftungen Neuhardenberg sowie die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora einen umfassenden Blick in das Zwangsarbeitslagersystem Gulag, wie sich die Hauptlagerverwaltung nannte. Mit erschütternden Dokumenten werden die summarisch kalkulierten Verhaftungen und Erschießungen unter Joseph Stalin veranschaulicht, die zum Trauma von Generationen wurden.

"Stacheldraht. Baracke. Pritsche. Wattejacke. Blechschüssel. Becher. Löffel. Das ist wahrscheinlich schon alles. Keine Gaskammern, keine Folterinstrumente", so führt der Ausstellungskatalog in das komplexe System Gulag ein. Zwischen 1929 und 1956 wurden 20 Millionen Menschen in Zwangsarbeitslager ­deportiert. Bei extremen Klimaverhältnissen verbrachten die ­Inhaftierten zehn Jahre und mehr in überfüllten Holzbaracken. Etwa zwei Millionen Häftlinge starben unter lebensfeindlichen Umständen: Kälte, Hunger, mangelnde Hygiene und härteste Arbeit.

Seit über 20 Jahren setzt sich Memorial für die Aufarbeitung des Stalinismus ein und schafft "einen Raum für eine Kultur der Erinnerung an die politischen Verfolgungen in der UdSSR", so die Memorial-Vorsitzende und Kuratorin der Ausstellung Irina Scherbakowa im Katalog. Dank der Vielzahl mündlicher und materieller Dokumente, die Millionen Verfolgter der Stalin-Zeit hinterlassen haben – viele wurden seit der Gründung der Organisation an die Mitarbeiter herangetragen –, wird in nachempfundenen Archivschränken die Odyssee durch das Lagersystem veranschaulicht.

Neben den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ­gehören die Zwangsarbeitslager unter Stalin zu den größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit des 20. Jahrhunderts. Dass es überhaupt mehr als ein halbes Jahrhundert für eine solche Ausstellung gebraucht hat, liegt zum Teil an den russischen Archiven, die erst seit zehn Jahren langsam geöffnet werden. Erst die Zusammenarbeit mit den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, die sich seit 1997 auch für eine Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes in Russland sowie des Stalinismus einsetzen, hat die Finanzierung durch die Stiftung ­Neuhardenberg schließlich ermöglicht.

So wurden Exponate wie "Ljubotschka" endlich zugänglich gemacht. Der Kurator und Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, Rikola-Gunnar Lüttgenau, nennt dieses Relikt das beste Beispiel der stalinistischen Willkür: Das lächelnde Püppchen in sowjetischer Uniform wurde von einer Mutter im Lager genäht, während die Tochter Karriere in der Roten Armee machte. "Dass man sich zu keinem Zeitpunkt der Rechtssprechung und der Gesellschaft sicher sein konnte, das verletzte die grundlegenden Rechte der Menschen aufs Äußerste", so Lüttgenau.

In den letzten Jahren stockt die Aufarbeitungsarbeit innerhalb des Landes, in dem in den dreißiger und vierziger Jahren schätzungsweise jede sechste Familie von Stalins Urteilen betroffen war. Der Begriff des "Volksfeindes" machte beinahe jeden zu einem potentiellen Täter. Der 1990 von Memorial aufgestellte "Solowezker Stein" auf dem Platz vor dem Lubjanka-Gefängnis in Moskau ist das einzige Denkmal für die Opfer der Terrorjahre. Bis heute ist das Gebäude Sitz des russischen Geheimdienstes. Ab 1938 wurden hier – ganz offiziell – Geständnisse unter Folter erpresst. Eine Fotografie zeigt die Kellergewölbe eines weiteren Untersuchungsgefängnisses, dem ältesten in Moskau, der Butyrka. Ein Partei-Banner an der Steinwand mahnt: "Bereinige dein Gewissen, vergiss nicht, dass früher oder später das Verbrechen aufgeklärt wird."

Als 1992 auf Initiative von Memorial das "Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen" verabschiedet wurde, das den 30. Oktober 1990 zum Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung bestimmte, wurde die Hoffnung vieler ehemaliger Inhaftierter auf eine ausgewogene Geschichtsschreibung und die Achtung der Menschenrechte laut.

Zensur, Verhaftungen, dubiose Gerichtsprozesse und -urteile gab es auch in den Jahrzehnten nach Stalin immer wieder. Der erste Memorial-Vorsitzende, der Atomphysiker Andrei Sacharow, wurde infolge der Annahme des Friedensnobelpreises 1975 in die Verbannung geschickt. Ähnlich erging es dem Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn. Einen von 15 Schränken widmet Memorial in der Ausstellung der Dissidentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre, deren Texte die Organisation im weltweit größten Archiv für russische Gegenöffentlichkeit gesammelt hat.

Mit der schleichenden Re-Stalinisierung wurden kritische Denker in Psychiatrien und Arbeitslager abgeschoben und die Intelligenzija in den Untergrund gezwungen. Über inoffizielle Vervielfältigungen von Texten im sogenannten Samisdat, also Selbstverlag, fanden verbotene Themen Gehör im In- und Ausland: so auch der "Archipel GULAG", in dem der 1945 zu acht Jahren verurteilte Solschenizyn seine eigenen Erfahrungen in Lager und anschließender Verbannung mit den Erinnerungen von 227 ehemaligen Häftlingen verband. Als der KGB 1973 doch noch eine Abschrift des Manuskripts fand, wurde Solschenizyn ausgebürgert.

Zwar stößt die Aufarbeitung weiterhin auf Abwehr, dennoch ist der Gulag seit der "Perestroika" kein Tabu-Thema mehr. In fast allen Regionen Russlands werden Gedenkbücher mit Kurzbiographien von Opfern politischer Verfolgung veröffentlicht. Immer mehr regionale Memorial-Verbände verfügen über Archive und Museen, wie die Gedenkstätte zur politischen Repression in Perm ("Perm 36") oder das Museum "Gedenken an Kolmya" in Jagodnoje.

Doch ein staatlich gefördertes Programm für die Erfassung der Namen derer, die Opfer des Terrors geworden sind – analog etwa zur Datenbank für die gefallenen Soldaten des "Großen Vaterländischen Krieges" – fehlt nach wie vor. Memorial hat eine frei zugängliche Datenbank erstellt, die bisher über 2,6 Millionen Namen von Opfern politischer Repression in der UdSSR erfasst. "Uns geht es vor allem darum, dass das Unrecht des stalinschen Terrors uneingeschränkt als solches anerkannt, aufgeklärt und dass es nicht gegen angebliche Verdienste Stalins aufgerechnet wird", sagt Vera Ammer von Memorial. Die russische Regierung hingegen wolle der Jugend eine Vergangenheit vermitteln, die sie nicht belastet, mit der es sich gut leben lässt. Also kehre sie die positiven Seiten heraus und betone, dass Stalin den Krieg gewonnen und den Faschismus besiegt habe, ein Verdienst, das gar nicht Stalin, sondern dem russischen Volk ­zuzuschreiben sei. Memorial betont hingegen immer wieder, dass ohne umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit eine Demokratisierung in Russland nicht möglich sei.

Die Wanderausstellung wird ab dem 19. August 2012 im Weimarer ­Schiller-Museum zu sehen sein.

Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.

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