Amnesty Journal Tunesien 31. Mai 2011

Gefährliche Manöver

"Lächerliche Zahl". Ein Flüchtlingsboot aus Tunesien trifft auf die italienische Küstenwache, April, 2011

"Lächerliche Zahl". Ein Flüchtlingsboot aus Tunesien trifft auf die italienische Küstenwache, April, 2011

Die EU will nicht nur ihre Außengrenze überwachen, sondern in Nordafrika eine breitere Pufferzone gegen Flüchtlinge aus den Staaten südlich der Sahara
aufbauen. Je mehr sich Europa abschottet, desto gefährlicher wird der Weg für Flüchtlinge.

Von Wolf-Dieter Vogel

Sie kamen aus Eritrea, Somalia und der Elfenbeinküste. Auf einem völlig überfüllten Fischkutter hatten sich die Flüchtlinge auf den Weg gemacht, verzweifelt nahmen sie Kurs auf die Mittelmeerinsel Malta. Doch das nur 13 Meter lange Schiff hielt den Wellen und Stürmen nicht stand. Zwei Tage nach ihrer Abreise aus Libyen kenterte das Boot auf hoher See, 65 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt. Mehr als 220 Menschen ertranken am 6. April 2011.

Einmal mehr stand die Europäische Union in der Kritik. Seit Wochen hatten Menschenrechtsverteidiger die Europäer gedrängt, für die Evakuierung von rund 11.000 Migranten aus mehreren afrikanischen Staaten zu sorgen, die in den Wirren des libyschen Bürgerkriegs rassistisch verfolgt wurden. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge hatte auf die Gefahren hingewiesen, die eine Flucht über das Mittelmeer angesichts des stürmischen Wetters bedeute. Doch Brüssel reagierte nicht.
Wenige Tage nach dem Unglück setzte die EU dann deutliche Zeichen.

Angesichts vermeintlicher "Flüchtlingsströme" aus ­Tunesien beschlossen die Innenminister der Mitgliedsstaaten, mehr Beamte der EU-Grenzschutzagentur Frontex in die Region zu schicken. Mit Tunis müsse nun ausgehandelt werden, dass deren Patrouillenschiffe auch in tunesischen Küstengewässern operieren können müssten, um die Boote vorzeitig abzufangen. Von den nordafrikanischen Regierungen erwarteten die Minister "die Verhinderung illegaler Migration, effektives Management und Kontrolle der Außengrenzen sowie Erleichterungen bei der Rückführung irregulärer Migranten".

Der Tunesier Mahdi Mabrouk versteht die aufgeregte Reaktion der Europäer nicht. "Wir haben mehr als 160.000 Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen, dagegen ist die Zahl von 26.000, die bislang nach Europa kamen, lächerlich", meint der Migrationsforscher. Jahrelang hätte Europa autoritäre Herrscher unterstützt, damit diese Flüchtlinge und islamische Terroristen fernhalten. In der jetzigen Umbruchsituation erwartet Mabrouk "ein Mindestmaß an Solidarität der Europäer". Davon kann keine Rede sein. Die EU hält am Frontex-Konzept fest: Sie will nicht nur ihre Außengrenze überwachen, sondern in Nordafrika eine breitere Pufferzone gegen Flüchtlinge aus den Staaten südlich der Sahara aufbauen. "Dabei gibt es noch keine Mechanismen, die das Vorgehen der Frontex-Beamten mit Blick auf die Menschenrechte kontrollieren", kritisiert Maria Scharlau, Expertin für internationales Recht bei der deutschen Amnesty-Sektion.

Die Einsätze der Grenzschützer auf hoher See sind immer wieder in die Kritik geraten. Seit schnelle Eingreiftruppen im Jahr 2007 begonnen haben, in gefährlichen Manövern Flüchtlinge und Asylsuchende auf hoher See abzudrängen, ist die Zahl der Toten eklatant gestiegen. Immer wieder schockieren Bilder gekenterter Boote an Italiens Küsten oder angeschwemmter ­Leichen an spanischen Stränden die Öffentlichkeit. Menschenrechtsverteidiger sprechen von einem "unerklärten Krieg gegen die Migranten".

Weniger sichtbar sind die Folgen der europäischen Kooperation mit den Regierungen Nordafrikas. Als besonders wichtiger Partner galt bisher Muammar al-Gaddafi. Schließlich ist Libyen eines der bedeutendsten Transitländer für Flüchtende aus dem afrikanischen Süden. Italienische Grenzschützer, die Menschen aus diesen Regionen im Mittelmeer aufgreifen, übergaben diese bislang direkt an ihre libyschen Kollegen. So landeten die Menschen in den Auffanglagern Libyens, wo sie unter menschenunwürdigen Zuständen leben mussten. Europaabgeordnete prangerten im Juni 2010 in einer Resolution "Misshandlungen, Folter und Morde" an. Häufig würden "Flüchtlinge in menschenleeren Gebieten zwischen Libyen und anderen afrikanischen Staaten ausgesetzt".

Oder sie werden nach Tagesreisen in stickigen Containern in Gefängnisse verfrachtet, von dort Monate später an die sudanesische Grenze gebracht und an Schlepper verkauft, die sie für 400 Euro wieder an die Küste Libyens bringen. Ein Kreislauf, den viele gleich fünf- bis sieben Mal erleben, wie der äthiopische Regisseur Dagmawi Yimer, der in einem Dokumentarfilm seine eigene Erfahrung eindrücklich beschreibt. Etwa jeder Zehnte, der sich aus dem subsaharischen Afrika auf den Weg nach Norden macht, verdurstet, wird bei einem Überfall ermordet oder stirbt durch Krankheiten.

Dennoch unterhalten die EU-Staaten zahlreiche Projekte, um gegen die Migranten vorzugehen. Mauretanien erhielt Kampf- und Überwachungsflugzeuge, Marokko Hubschrauber und Fregatten, Libyen Ausbildungen für Polizisten sowie Nachtsichtgeräte, Schnellboote und Unterwasserkameras. Diese Staaten sollen mit Frontex-Beamten auf hoher See kooperieren und ihre Südregionen kontrollieren. Sehr am Herzen liegt den Europäern die Sicherung der libyschen Grenze zum Niger und zum Tschad. Mit mindestens 20 Millionen Euro wollte sich Brüssel daran beteiligen. Angesichts der neuesten Entwicklungen in ­Libyen liegt das Vorhaben nun jedoch auf Eis.

Anders in Tunesien. Keine drei Monate nach dem Sturz des autokratischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali verhandelte Italiens Präsident Silvio Berlusconi bereits mit der Interimsregierung über Maßnahmen zur Migrationsbekämpfung. 300 Millionen Euro will Italien nun bereitstellen, um kleine und mittelständische Unternehmer zu fördern und Tunesier auszubilden, aber auch, um Radarsysteme für die Küstenwache zu finanzieren. Im Gegenzug muss Tunis aus Italien abgeschobene Flüchtlinge wieder aufnehmen und dafür sorgen, dass keine Boote mehr in Richtung Lampedusa aufbrechen. Das betrifft ausreisende Tunesier ebenso wie Migranten aus anderen afrikanischen Regionen. Solche Vereinbarungen führten bereits unter Ben Ali dazu, dass Tunesien mit EU-Geldern Lager einrichtete, in denen subsaharische Flüchtlinge eingesperrt wurden.

Ähnlich ergeht es vielen, die ohne Pass auf Teneriffa oder Gran Canaria aufgegriffen werden. Frontex-Beamte schicken die Flüchtlinge aus Spanien direkt in ein Lager im mauretanischen Nouhadhibou, das im Zuge eines Kooperationsvertrags mit den Europäern errichtet wurde. Die Zukunft der Menschen ist ungewiss. Häufig bringen Mauretaniens Beamte sie in die Wüste, an die Grenze zu Mali oder Senegal. Dort beginnt ihre Reise dann von vorn. Das können auch Kameras, Patrouillenboote und Lager nicht verhindern. "Je mehr sich Europa aber abschottet", stellt der Filmemacher Yimer klar, "desto gefährlicher wird für die Flüchtlinge der Weg."

Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

Weitere Artikel