Amnesty Journal Russische Föderation 15. März 2011

Wortsalat

In der Sowjetunion schrieben und lasen die Menschen auf der Suche nach dem wahren Wort die Nächte durch. Und wissen wir heute, welche Druckfehler und Rezepte unsere Zukunft bestimmen werden?

Von Wladimir Kaminer

In meiner Heimat hatte das geschriebene Wort eine hohe gesellschaftliche Bedeutung. Die Schriftsteller und Dichter wurden als Träger einer höheren Wahrheit behandelt, die regierungstreuen unter ihnen wurden mit Orden, Medaillen und Gartenhäuschen ausgezeichnet, die regierungsuntreuen dagegen isoliert, in den Knast gesteckt, außer Landes verwiesen, gar umgebracht. Der Staat hatte Angst vor den Dichtern, allein schon daran war ihre Wichtigkeit zu erkennen.

Alte und junge – alle schrieben. Die Alten ihre Biografien, die Jungen, kaum hatten sie alle Buchstaben drauf, begannen, einen Abenteuerroman zu schreiben. Wenn ihnen nichts einfiel, schrieben sie einfach etwas ab oder um. Mein Schulfreund hat ein Jahr gebraucht, um die "Drei Musketiere" Seite für Seite in seine Hausaufgabenhefte zu übertragen. Es begeisterte ihn unglaublich, den von ihm heiß geliebten Text in der eigenen krakeligen Handschrift geschrieben zu sehen. Wir schrieben und wir lasen die Nächte durch, auf der Suche nach dem wahren Wort. Wir sind in dem Glauben aufgewachsen, das nur Geschriebenes wahr ist.

An Beweisen dafür mangelte es nicht. Unser ganzer Staat war im Grunde aus einem Buch entstanden, aus einer Lehre, einer Theorie, die gerne ein Axiom sein wollte. Und sogar diejenigen, die dieser Lehre nicht trauten, waren überzeugt, dass uns nur eine andere Lehre, ein anderes Buch vor dem falschen Weg bewahren und auf den richtigen Weg bringen könnte. Es ging nur um Wörter, das richtige Buch gegen das falsche, wir waren bloß Statisten in diesem Krieg der Bücher.

Seitdem hat sich vieles verändert, doch die Suche nach dem richtigen Buch hat nie aufgehört, die Hoffnung ist noch nicht gestorben, dass es eines Tages jemand schreibt. Ein Buch, das der Weisheit letzter Schluss ist. In diesem Buch hätten wir alle Antworten auf unsere Fragen gefunden, die Lösungen für alle Probleme. Uns bliebe nichts anderes übrig, als dem Geschriebenen zu folgen, die Theorie konsequent in die Realität umzusetzen, dann könnte uns nichts mehr passieren. Ein schönes Leben.
Ich habe selbst lange Zeit daran geglaubt, so lange bis ich selbst Schriftsteller wurde. Spätestens ab da wusste ich, es gibt keine Weisheit für immer, sogar die besten Bücher werden von Spinnern und Hohlköpfen wie du und ich gemacht, sie sind ­voller Verallgemeinerungen und Druckfehler. Man darf das ­Geschriebene nicht zu ernst nehmen, die Taten zählen, nicht die Wörter.

Ich erschrak, als ich bei meinen Kindern plötzlich diesen naiven Glauben, einen uneingeschränkten Respekt dem geschriebenen Wort gegenüber, entdeckte. Zum Glück hat es nicht lange gedauert, bis sie verstanden, man darf die Papierwahrheiten nicht zu wörtlich nehmen. Die erste Erkenntnis kam mit dem Kochbuch "Frische Salate. Gesund und knackig". Die Kinder haben dieses schöne Buch mit großer Aufmerksamkeit studiert. Die ganze Vielfalt, die Schönheit der Welt konnte man darin finden, nur etwas monoton dargestellt, in Form von Salaten eben. Der Salatfotograf muss beim Knipsen aufgeregt, hungrig oder besoffen gewesen sein. Ihm hat jedenfalls eindeutig die Hand gezittert, viele Salate waren unscharf oder aus zu geringer Entfernung geknipst.

Meine Kinder merkten sich die Seiten mit Salaten, die sie gerne zubereiten würden und fingen an, nach den Rezepten ­jeden Abend einen Salat zuzubereiten. Einmal, ich war für die Getränke zuständig und habe nicht richtig aufgepasst, meinte meine Tochter Nicole plötzlich, für die Zubereitung des so genannten knackigen Chefsalats brauche sie eine größere Schüssel, am besten einen Topf, denn in eine herkömmliche Salatschüssel würde der knackige Chefsalat nicht passen. Die großen Töpfe stehen unterm Herd, sagte ich, mit der Öffnung von Rotwein beschäftigt, anstatt darüber nachzudenken, warum der Chefsalat eigentlich nicht in die Schüssel passte, in die bisher alle anderen Salate locker hineingepasst hatten.

"Schau Papa", sagte meine Tochter nachdenklich, als sie mit der Umsetzung des Rezeptes fertig war. "Woran erinnert dich dieser Salat?" Ich schaute in den Topf, der Salat erinnerte an ein Schwimmbecken, in dem gerade mehrere Grundschulen ihre Seepferdchen-Prüfung gemacht hatten. Nicole zeigte mir das Rezept aus dem Buch: Dort stand schwarz auf weiß 375 ml Olivenöl. Meine Tochter wunderte sich zwar, aber sie wusste, das Geschriebene ist wahr und leerte die Olivenölflasche in den Topf. Ich habe für alle Fälle die anderen Rezepte kontrolliert, ­außer dem Chefsalat schien alles in Ordnung zu sein. Für die Kinder war es eine wichtige Lehre, dass es keine fertigen Rezepte im Leben gibt, man muss stets improvisieren.

Während ich die Rezepte kontrollierte, dachte ich an meine Mutter, die vor kurzem das alte Kochbuch ihrer Mutter rausgeholt hatte, um uns mit dem Rezept für eine längst vergessene Rotkohlsuppe zu überraschen. Im Großmutterkochbuch waren zwei Seiten zusammengeklebt, so dass die Beschreibung der Suppe, nachdem man die Seite umblätterte, nahtlos in eine Dessert-Beschreibung überging. Der Glaube meiner Mutter an das Buch blieb selbst dann noch unerschüttert, als sie las, dass auch Erdbeeren in die Rotkohlsuppe gehören. Sie warf die Erdbeeren in die Suppe, es schmeckte sehr frisch, die Gäste waren begeistert und feierten das Gericht als großen Fortschritt.

Der Mensch ist schwach, egal, wie wir uns wehren, wir geraten immer wieder in die Buchabhängigkeit. Wir wissen nicht, welche Druckfehler und Rezepte unsere Zukunft bestimmen werden, am Anfang war eben das Wort, wir haben dem Autor ­geglaubt, jetzt haben wir den Salat.

Wladimir Kaminer, 43, geboren in ­Moskau, studierter Dramaturg, wurde mit seinen Erzählbänden "Russen­disko" und "Militärmusik" international bekannt. Ausgezeichnet mit dem Ben-Witter-Preis. ­Zuletzt erschien von ihm "Meine kaukasische Schwiegermutter" im Manhattan-­Verlag.

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